Unwetter Orkan "Quimburga": Mit 245 Sachen über die DDR
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19. Februar 2022, 01:04 Uhr
Ein harmloser Herbststurm war angekündigt. Doch dann fegte am 13. November 1972 Orkan Quimburga von Norden gen Osten. Mit ungewöhnlich starken Böen hinterließ er eine Schneise der Verwüstung in der DDR und tötete 16 Menschen.
Auch nach knapp 50 Jahren erinnert sich Fred Schulze aus Berlin-Friedrichshagen noch gut an den 13. November 1972. Um 16 Uhr war er gerade auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Heftige Böen rissen ihm fast die Aktentasche aus den Händen, erzählt er. Seine Wohnung lag direkt neben der evangelischen Christophoruskirche. Deren Kirchturm – durchlöchert. "Ich konnte durch den Turm hindurchsehen. Teile des Mauerwerks waren weggebrochen, das Kupferdach hatte sich nach oben weggekrempelt", so Schulze.
Was er beim Anblick des Kirchturms nicht ahnte: Das Giebelstück, das durch den Orkan vom Kirchturm entrissen worden war, hatte eine 64-jährige Frau unter sich begraben. "Man hatte ihr noch zugerufen, 'Seien Sie vorsichtig, es könnten Steine fallen'", erzählt Schulze. Diese habe aber nur gerufen: "Unkraut vergeht nicht" – ihre wohl letzten Worte. Ein Unglück, das sich noch tragischer entwickelte: Ihr Sohn, der Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr Friedrichshagen war, musste sie später aus den Trümmern bergen.
Die Bilanz: 73 Tote in ganz Europa
In der DDR kamen bei dem Jahrhundertsturm insgesamt 16 Menschen ums Leben, 150 wurden verletzt, zum Teil schwer. In Norddeutschland, dort wo der Orkan noch stürmischer wütete, starben 21 Menschen. In ganz Europa gab es nach dem Orkan Quimburga 73 Todesopfer zu beklagen. Denn am Vorabend ahnte noch niemand, dass aus dem kleinen Tief "Quimburga", das im Atlantik entstanden war, ein derartig kraftvoller Orkan werden sollte.
Unwetterwarnung kam viel zu spät
Eigentlich hatte die Tagesschau am 12. November 1972 am Tag zuvor nur einen gewöhnlichen Herbststurm. Erst am nächsten Morgen sahen die Meteorologen, was da tatsächlich auf Nord- und Ostdeutschland zukam. Um 7:10 Uhr veröffentlichte das Wetteramt Bremen die erste Unwetterwarnung. Zur damaligen Zeit steckte die Meteorologie noch in den Kinderschuhen. Einerseits wurden die Wetterprognosen noch nicht mithilfe von Wettersatelliten erstellt. Andererseits konnten Wetterinformationen noch nicht schnell genug international ausgetauscht werden. Eine rechtzeitige Vorhersage des Orkans war daher nicht möglich.
So traf Quimburga die Menschen auch in der DDR mitten im Alltag - beim Einkaufen, bei der Arbeit, auf den Straßen. Während wir uns heute jederzeit und überall mit Wetterapps informieren, konnte damals nur in den Medien gewarnt werden. Auf den Straßen riefen Feuerwehr und Polizei zur Vorsicht vor dem gefährlichen Sturm auf. Zeitzeugen berichten, dass viele Menschen fast stoisch ihren Beschäftigungen nachgingen, obwohl der Sturm schon tobte.
Mit Windgeschwindigkeiten bis zu 245 Stundenkilometern über den Brocken
Orkan Quimburga tobte und stürmte zunächst in Niedersachsen. Dort rodete er zehn Prozent des gesamten Waldgebiets - 120.000 Hektar, das entspricht rund 168.000 Fußballfeldern. Mit anhaltender Kraft und Windgeschwindigkeiten bis zu 245 Stundenkilometern überquerte er den Brocken und fiel über die Orte im östlichen Harz her. Auch dort rissen Orkanböen Baum um Baum nieder.
Das Dorf Elend am Fuße des Brockens konnte nicht mehr angefahren werden. Umgefallene Bäume versperrten die Straßen. Es herrschte Katastrophenalarm. Klaus Bahn von der Freiwilligen Feuerwehr war an diesem Tag im Einsatz: "Was hatten wir? Ein paar Schrotsägen und ein paar Beile", erzählte er dem MDR. Ihre Rettung: Einige Feuerwehrmänner waren im staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb tätig. So hatten sie Zugang zu den nötigen Motorsägen und Schleppfahrzeugen. Damit gelang es ihnen, die Straßen für Ärzte und Versorgungsfahrzeuge wieder freizuräumen.
Orkan Quimburga zog weiter über die DDR, am Abend kam er in Berlin an. Umgefallene Bäume begruben Autos unter sich, in Ostberlin kamen so zwei Insassen eines Autos ums Leben. Der öffentliche Nahverkehr wurde eingestellt, am Zentralflughafen Schönefeld ging zeitweise nichts mehr. Auch in Magdeburg, Suhl, Schwerin, Rostock, Halle, Leipzig und Dresden sorgte der Orkan für Chaos, deckte Dächer ab, beschädigte Strommasten, behinderte den Straßenverkehr. Der Orkan fegte mit über 170 Stundenkilometern durch Brandenburg weiter hinein in den Osten. In nur zwölf Stunden legte er 1.000 Kilometer zurück.
Die Tage nach dem Sturm
"Sturmschäden gehen in die Millionen", hieß es am übernächsten Tag in der "Volksstimme":
Mit unermüdlichem Einsatz beseitigten Zehntausende Helfer in der gesamten Republik am Dienstag die gewaltigen Schäden. Erste Übersichten über das Ausmaß der Verwüstung ergaben weitaus höhere Verluste, als ursprünglich angenommen werden mussten.
Orkan Quimburga rodete im Harz ganze Waldgebiete. Forstarbeiter nicht nur in der DDR, sondern auch im Westen waren mit schwerem Gerät tagelang im Einsatz, um das gebrochene Holz zu bergen. Eine gefährliche Aufgabe: Allein in Niedersachsen starben 22 Menschen bei den Aufräumarbeiten. Das Wiederaufforsten der Wälder sollte noch Jahrzehnte dauern. Vor allem in Niedersachsen hatte der Sturm nachhaltigen Einfluss auf die zukünftige Forstwirtschaft. Weil der Orkan besonders in den reinen Kiefernwäldern Niedersachsens leichtes Spiel hatte, legte man Mischwälder an. Von Monokulturen verabschiedete man sich. Die so entstandenen Wälder zeugen noch heute vom Jahrhundertsturm Quimburga.
Neuer Kirchturm erinnert an "Quimburga"
Ebenso erinnert die neu gestaltete Christophoruskirche in Berlin-Friedrichshagen an den Jahrundertsturm von 1972. Das durchlöcherte Gerippe, das der Orkan vom alten Kirchturm übrig lies, wurde drei Tage später abgerissen. "Es ging natürlich ein Aufschrei durch die Bevölkerung, als er dann zur Seite gezogen wurde", erzählt Schulze. Der Wiederaufbau des Turms sowie die Umgestaltung des Kirchenschiffes waren erst 1977 abgeschlossen.
(Der Artikel wurde erstmals im Oktober 2017 veröffentlicht. cyg/kh)
Über dieses Thema berichtet der MDR im Radio: MDR Aktuell | 08.02.2020 | 22:24 Uhr