Wie die DDR-Führung den Wintereinbruch unterschätzte
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12. Januar 2022, 12:12 Uhr
Aus den Unterlagen im Bundesarchiv Berlin lassen sich die Informationsabläufe des Katastrophenwinters chronologisch nachvollziehen – und auch die eklatanten Fehleinschätzungen des DDR-Innenministeriums.
Im Ministerium des Innern (MdI) liefen viele Informationen in jenem Winter zusammen. Das MdI hatte ähnlich wie das Ministerium für Kohle und Energie zu jedem Zeitpunkt aktuelle Wettermeldungen parat und wurde bereits am 27.12.1978 über die heranrückende Kaltfront von Nordosten informiert.
30. Dezember 1978: Das Unheil zieht auf
Allerdings war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich, mit welcher Macht der Winter hereinbrechen würde. Aber auch als der Sturm bereits auf Rügen und im Norden der DDR eingetroffen war, reagiert das MdI zögerlich. Am 30.12. ergeht vom MdI die erste Sonderinformation an den Ministerrat, die dort vom Ministerratsvorsitzenden Stoph abgezeichnet ist. Es ist notiert:
"dass das am 28.12. in den nördlichen und später in den mittleren Bezirken einsetzende Frostwetter in den Nachtstunden bis zum Südharz voran gekommen ist. Die Neuschneemengen gehen bis 30 cm. Und auf der Insel Rügen und in einigen Kreisen des Bezirkes Rostock seien Schneeverwehungen zu verzeichnen. Insgesamt sei es zu 44 Verkehrsunfällen mit 24 Verletzten gekommen. Der Straßenverkehr in den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg ist beeinträchtigt."
Der dramatische Wetterumschwung im Norden wird in den MdI Unterlagen nicht ernst genommen.
31. Dezember 1978, vormittags: Erste stärkere Beeinträchtigungen
Das ändert sich am Silvestermorgen. Bereits um 04.00 Uhr gibt es den ersten Sonderrapport des MdI an alle Organe der Partei- und Staatsführung. In den vorhandenen Archivunterlagen hat Erich Honecker selbst diese MdI-Information abgezeichnet.
Der Tonfall des Berichtet hat sich deutlich verändert. Inzwischen ist auch in Berlin der Sturm angekommen und man ist sich der Lage langsam bewusst. Aber längst noch nicht in dem Umfang, der dem dramatischen Wintersturm gerecht wird. In den MdI-Berichten heißt es:
"Es ist ERNEUT mit lang anhaltenden Schneefällen und Verwehungen in den Bezirken Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Potsdam, Frankfurt/Oder, Magdeburg und Berlin zu rechnen. Der Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt. Der Straßenwinterdienst ist in konzentriertem Einsatz und wird durch die Zivilverteidigung unterstützt. Es gibt 75 Verkehrsunfälle mit 44 Verletzten und 2 Toten. Es gibt zunehmende Schwierigkeiten im Eisenbahnverkehr, im Norden bei Schneewehen bis vier Meter erhebliche Störungen. Besondere Aufmerksamkeit finden einige der liegen gebliebenen Reisezüge."
31. Dezember 1978, nachmittags: Der Verkehr bricht zusammen
Insgesamt gab es am Morgen des 31.12. insgesamt 241 Rückstauzüge und 70 unbespannte Züge. Der Fährverkehr ist eingestellt.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es bereits auch schon die ersten dramatischen Berichte aus der Energiewirtschaft. Es wird von Schwierigkeiten in der Energieversorgung in den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg berichtet. Fast 20.000 Haushalte werden nicht mehr mit Strom versorgt. In den "Tagebauen bestehen zwar Schwierigkeiten durch vereiste Förderbrücken, aber es werden derzeitig keine zusätzlichen Kräfte benötigt." – eine deutliche Fehleinschätzung.
Während zu diesem Zeitpunkt die Bezirke bereits ihre Katastrophenkommissionen einberufen haben und arbeiten, wird auf zentraler Ebene gerade erst ein Operativstab in den Ministerien gebildet. Die Hauptanstrengung soll auf die unverzügliche Beseitigung von Störungen im Straßen- und Eisenbahnverkehr gelegt werden. An Sonderkräften sind nur aktiviert: 4.000 Helfer aus Industrie, Landwirtschaft und Deutscher Reichsbahn. 1.500 Angehörige der Deutschen Volkspolizei und 700 Angehörige der Zivilverteidigung. Die NVA ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal in Alarmbereitschaft versetzt.
1. Januar 1979, vormittags: Wirtschaft massiv beeinträchtigt
In der Information des MdI vom Neujahrsmorgen ist der Tonfall bereits ein ganz anderer. Es ist klar, man hat die Lage bis zu diesem Zeitpunkt deutlich unterschätzt. Allerdings liest sich die Wetterlage wie ein Wunschkonzert: "...vorübergehender Hochdruckeinfluss, die kalte Festlandsluft kommt weiter zur Ruhe, allmähliche Frostmilderung." Dabei werden zu diesem Zeitpunkt vielerorts minus 20-25 Grad gemessen und der Sturm tobt nach wie vor.
Viele Fernverkehrsstraßen sind gesperrt. Es gibt bereits drei Tote durch Verkehrsunfälle. Im Eisenbahnverkehr ist die Lage stark angespannt. 20 internationale und 95 schnell fahrende Reisezüge sind ausgefallen, die anderen verspäten sich teilweise um mehr als 20 Stunden. Im Güterverkehr gibt es 600 Rückstauzüge.
Einen Tag vor dem Planstart in der DDR sind die Alarmzeichen in der Volkswirtschaft bereits auf rot: Es gibt Produktionsstörungen infolge der "planmäßigen Drosselung der Energiezufuhr sowie durch Fehlen von Rohstoffen" im VEB chemische Werke BUNA um 50 Prozent, im VEB Zementwerk Rüdersdorf ein Komplettausfall der Produktion und viele weitere akute Meldungen:
1. Januar 1979, nachmittags - Hilfe läuft an
Aus dem Ministerrat der DDR ergeht die Information, dass jetzt die Einsatzbereitschaft in den Ministerien hergestellt ist. Erst jetzt gibt es eine zentrale Katastrophenkommission, die vor allem die Kräfte der NVA zur Verstärkung in den Bereichen Kohle und Energie in den Tagebauen und auf den Straßen einsetzen darf. Daraufhin werden 17.000 Kräfte aus Industriebereichen eingesetzt, 6.000 zusätzliche Volkspolizei-Angehörige und 13.500 NVA-Soldaten, sowie schwere Technik.
Aus der Übersicht der Weisungen aus dem Ministerrat – dem höchsten Gremium in einer Katastrophe – ist ersichtlich, wie langsam der Staatsapparat zu diesem Zeitpunkt arbeitet. Erst ab dem 2. Januar 1979 gibt es umfangreiche Maßnahmen, um die Situation in den Griff zu bekommen. Allerdings ist es da bereits viel zu spät.
Über dieses Thema berichtet das MDR Fernsehen auch in: "Sechs Tage Eiszeit - Der Katastrophenwinter 1978/79" | 02.01.2019 | 20:15 Uhr