Die "Tour de France des Ostens": Faszination Friedensfahrt
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23. Juli 2021, 10:08 Uhr
Sie war eine unsägliche Schinderei, sie begeisterte Millionen Radsportfans, sie brachte Idole hervor - die Friedensfahrt war bis zur politischen Wende 1989/90 das bedeutendste Amateurrennen im Radsport. Dabei war sie nicht nur ein sportliches Event, sondern eine Demonstration für den Weltfrieden. Am 1. Mai 1948 fand sie zum ersten Mal statt.
Mitten in der Stadt geht die Rennstrecke plötzlich in eine scharfe Linkskurve über, was dann folgt, ist für viele Fahrer die größte Herausforderung der Friedensfahrt: Sie müssen 32 Höhenmeter auf einer Länge von nur 248 Metern überwinden - und das auf Kopfsteinpflaster! Tausende Fans drängen sich an den Straßenseiten und jubeln ihre Idole an, ein ohrenbetäubender Lärm. Viele Fahrer müssen absteigen. Die "Steile Wand von Meerane" war einer der legendärsten Orte der Friedensfahrt. Seit 1952 war sie Teil der "Internationalen Radfernfahrt für den Frieden".
Radfahren gegen die Nachkriegsnot
Bereits vier Jahre zuvor fand die erste Friedensfahrt statt. Die Gründungsväter waren der polnische Sportjournalist Zygmunt Weiss und sein tschechischer Kollege Karel Tocl. Nach dem Vorbild der Tour de France wollten sie ein Mehretappenrennen organisieren, das den Menschen über die Not in der Nachkriegszeit hinweghelfen sollte. Zu Beginn führte das größte und bedeutendste Amateurradrennen der Welt von Warschau nach Prag, ab 1952 auch über Ostberlin, die Hauptstadt der DDR. Offizielles Symbol für die Friedensfahrt wurde Pablo Picassos weiße Friedenstaube.
An den Start gingen Amateursportler aus ost-, mittel- und westeuropäischen Ländern. Dominiert wurde die Fahrt aber von den Fahrern des Ostblocks aus der Sowjetunion, der ČSSR und Polen. Auch immer vorn mit dabei: die Radsportler der DDR.
Die Helden der Friedensfahrt
Die Friedensfahrer wurden verehrt wie Superstars. Einer der populärsten Teilnehmer aus der DDR war Gustav-Adolf "Täve" Schur, der 1955 als erster Deutscher die strapaziöse Fahrt gewann. Bescheiden und aus der Arbeiterklasse stammend - Schur war das ideale Vorbild für die Massen. Das nutzte die SED-Führung für Propaganda-Zwecke. Die DDR war Mitte der 1950er-Jahre noch ein junger Staat, für ihre Bürger brauchte es ein identitätsstiftendes Moment. Ein erfolgreicher Sportler wie Schur kam da zur rechten Zeit. Schur war SED-Mitglied und saß ab 1959 als Abgeordneter in der Volkskammer der DDR. Nach der Wende geriet er wegen seiner DDR-Treue in die Kritik. Als er 2017 für die Hall of Fame des deutschen Sports nominiert wurde, kochte die Diskussion hoch. Seine Kritiker stießen sich u.a. daran, dass er bis heute das Zwangsdoping im DDR-Sport abstreitet.
"Der politische Druck war enorm"
Die Friedensfahrt war nie nur eine rein sportliche, sondern auch eine politische Veranstaltung. Der große Konkurrent für die DDR-Sportler war die Sowjetunion. Das setzte die Fahrer unter einen enormen Druck. "Das war schon richtig knallhart. Und dann dieser politische Druck, gewinnen zu müssen. Also an bestimmten Orten, wie Berlin, gewinnen zu müssen. Wir wollten alle gewinnen. Aber dieser Druck hat das schon richtig hart gemacht. Das war schon knallharter Sport", erinnert sich der ehemalige Kapitän der Friedensfahrt-Mannschaft Bernd Drogan. Trotz der propagierten Kameradschaftlichkeit unter den Teilnehmern ging es letztlich ums Gewinnen.
Vom Fan zum Fahrer
Die alljährlich im Mai stattfindende Fahrt lockte Jung und Alt an die Strecke. Tausende Menschen standen an den Straßen, um einen kurzen Blick auf ihre Idole zu erhaschen. Unter den Fans waren auch viele Kinder und Jugendliche. "Als kleiner Junge Friedensfahrer zu werden, das war ein Traum. Das waren so ziemlich die einzigen Helden, die es gab", meint der DDR-Friedensfahrer Mario Kummer. Für Olaf Ludwig aus Gera sollte der Traum Wirklichkeit werden. Als die Friedensfahrt 1972 durch Gera führte und er als Jugendlicher winkend an der Straße stand, fasste er den Entschluss: Das werde ich auch. Eine beispiellose Karriere folgte. Gleich bei seiner ersten Friedensfahrt im Jahr 1980 holte Ludwig vier Etappensiege. Zweimal wurde der Sprintstar Gesamtsieger der Fahrt.
Panzer stören die friedliche Fahrt
1969 geriet die Friedensfahrt in ihre erste große Krise. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Panzer und der Niederschlagung des "Prager Frühlings" ein Jahr zuvor stellte die Tschechoslowakei keinen Etappenort zur Verfügung und meldete keine Mannschaft zum Rennen an. "Wir wollten nicht unter dem Symbol der Friedenstaube mit Sportlern gemeinsam Radrennen fahren, deren Länder mit ihren Armeen kurz vorher bei uns einmarschiert sind", sagt der Prager Journalist Jiri Cerny dazu.
Eine verstrahlte Friedensfahrt
1986 standen die Friedensfahrt-Fahrer vor ganz anderen Problemen. Zwei Wochen vor Beginn der Tour explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl, nur 130 Kilometer von Kiew entfernt, wo die Fahrt in diesem Jahr starten sollte. Die DDR-Friedensfahrer standen vor einer existentiellen Entscheidung: im verstrahlten Kiew starten oder nicht teilnehmen - was für viele das Ende ihrer Karriere bedeutet hätte. Obwohl fast alle westlichen Fahrer absagten, nahmen die DDR-Fahrer das Risiko in Kauf.
Das Aus für die Friedensfahrt
Nach der politischen Wende 1989/90 verlor die Friedensfahrt langsam aber stetig an Bedeutung. Sie wurde zu einer Profitour, allerdings einer zweitrangigen. Die Stars der Szene blieben ihr auch deshalb fern. Die großen Teams schickten lediglich ihre Nachwuchsfahrer. 2006 war es endgültig vorbei mit der Internationalen Friedensfahrt. Wegen finanzieller und organisatorischer Probleme gab es keine Neuauflage mehr.
Über dieses Thema berichtet(e) der MDR auch im TV:
MDR Zeitreise | 16.05.2017 | 21:15 Uhr
Die lange Friedensfahrt-Nacht | 26.05.2018 | 23:20 Uhr