Interview mit Dieter Nerius "Die Welt hätte eine DDR-Rechtschreibung nicht angenommen"
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19. Oktober 2021, 18:04 Uhr
Auch wenn es zwei verschiedene Duden in Ost und West gab - geschrieben hat man in beiden Teilen der Republik gleich. Dabei hätte man im Osten am liebsten alles klein geschrieben, sagt Dieter Nerius, Leiter der Orthografie-Kommission in der DDR und Mitglied der Rechtschreibkommission 1996.
Der "SPIEGEL" schrieb in einem Artikel 1979, dass die DDR deutlich weiter sei in Sachen Orthografie-Anpassung als die BRD. Ist unsere Rechtschreibung heute also eine Ost-Erfindung?
Naja, so pauschal kann man das natürlich nicht sagen. Aber es war unser Verdienst, dass die Orthografie überhaupt wieder auf eine wissenschaftliche Ebene gehoben wurde. Vorher gab es Reform-Diskussionen nur unter Lehrern. Aber die DDR hat einen maßgeblichen Anteil an der großen Rechtschreibreform von 1996. Das stimmt. Als das Thema Orthografie-Reform auf die Tagesordnung kam – Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gab es offizielle Anfragen der Bundesrepublik an die DDR, wie sie denn zu einer Orthografie-Reform stände – da hat man gesagt, wenn das akut wird, dann müssen wir was tun. Und dann wurde die wissenschaftliche Seite vorangetrieben. Wir haben dann Vorbereitungen gemacht, die in den 1980er-Jahren in den internationalen Arbeitskreis von Sprachwissenschaftlern der Bundesrepublik, Österreich, der Schweiz und der DDR umfangreich eingeflossen sind. In mehreren Sitzungen haben die deutschsprachigen Länder die Regelungen ausgearbeitet, die dann 1996 umgesetzt wurden.
Die DDR-Orthografie-Kommission hat in den 70er Jahren überlegt, die Großschreibung überwiegend abzuschaffen. Warum hat sich das nie durchgesetzt?
Die sogenannte "gemäßigte Kleinschreibung" ist eine analoge Regelung wie in allen anderen europäischen Sprachen. Wir sind ja die einzige europäische Sprache heutzutage, die noch die Substantive groß schreibt. Die Dänen haben das als letzte 1948 abgeschafft. Und wir wollten das für das Deutsche abschaffen. Wir haben mit unseren Arbeiten in den 70er Jahren angefangen und unsere Reformvorschläge schließlich 1991 veröffentlicht. Aber im Endeffekt hat das dann die Politik verhindert. Ich sehe uns noch in Bonn sitzen bei der großen Anhörung im Innenministerium, das war dann schon 1993. Da hat der Staatssekretär gesagt: "Über die gemäßigte Kleinschreibung diskutieren wir nicht, das ist politisch nicht durchsetzbar." Da gab es immer viele Widerstände, das muss man zugeben, weil viele der Meinung waren, die Großschreibung der Substantive erleichtert das Lesen. Ganz unsinnig ist das Argument natürlich nicht.
Dieter Nerius ist emeritierter Professor für Germanistik an der Universität Rostock und ehemaliger Leiter der Orthografie-Kommission der Akademie der Wissenschaften der DDR. Nach 1990 engagierte er sich dann am Institut für deutsche Sprache in Mannheim für die gesamtdeutsche Rechtschreibung. Nerius ist heute (2021) 86 Jahre alt.
Wollte man in der DDR denn eine eigene Rechtschreibung?
Nein. Das hängt damit zusammen, dass beide Duden, der im Osten und der im Westen, sich auf die vorher gültige Orthografie von 1901 beziehen. Es gab sogar interne Abstimmungen zwischen Ost und West – also nicht offiziell. Aber die beiden Duden-Redaktionen haben außerordentlich darauf geachtet, dass die Schreibung sich nicht auseinanderentwickelt. Eine separate Orthografie-Reform der DDR ist niemals ernsthaft erwogen worden.
Warum nicht?
Es gab häufig Behauptungen von westdeutscher Seite, dass die DDR eine eigene Orthografie-Reform durchführen würde. Das stimmt einwandfrei nicht. Also, wenn es einer wissen muss, dann bin ich das. Ich war ja der Chef der Orthografie-Kommission. Das gab es nie. Unsere Oberen waren ja nun nicht mit Weisheit gesegnet, aber so dämlich waren sie nicht, dass sie die Welt vor die Entscheidung gestellt hätten, zwischen zwei deutschen Orthografien zu entscheiden. Und da hätte sich die Welt natürlich nicht für unsere entschieden, wenn wir eine eigene gemacht hätten.
Wie sinnvoll sind denn Rechtschreibreformen?
Viele Regeln sind heute sinnvoller als vorher. Aber es gab in der Presse einen heftigen Gegenwind. Vor allem von Schriftstellern oder den führenden Zeitungen wie der FAZ. Aber es ist eine bemerkenswerte Sache, dass die deutsche Orthografie den Entwicklungen angepasst wurde. Das hat es seit 100 Jahren nicht gegeben. Die Sprache verändert sich ja dauernd. Warum soll die Orthografie als ein Teil der Sprache sich nie verändern? Die Hochstilisierung, die Orthografie sei ein heiliges Gut, beruht auf völliger Unkenntnis, wie diese Orthografie entstanden ist. Im 19. Jahrhundert gab es ganz große Kämpfe zwischen verschiedenen Richtungen, bei denen sich eine durchgesetzt hat. Nämlich die von Konrad Duden, die er in seinem Wörterbuch umgesetzt hat. Und das hat ja dann Monopol-Stellung erlangt. Indefinit-Pronomen, also "mancher", "keiner", "jeder", wurden damals zum Beispiel noch groß geschrieben. Das wurde 1901 abgeschafft. Und genauso hat es eben 1996 Anpassungen gegeben. Die wichtigste ist wohl die Ersetzung von ß nach Kurzvokalen durch ss.
(Die MDR Zeitreise hat im August 2017 Dieter Nerius zum Thema interviewt und den Artikel erstveröffentlicht.)
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: MDR um 4 | Zehn Jahre Rechtschreibreform | 1. August 2017 | 15:59 Uhr