Umbruch in der DDR Staatsmacht am Ende: NVA und Volkspolizei im Herbst 1989
Hauptinhalt
17. Oktober 2020, 05:00 Uhr
Im Herbst 1989 demonstrieren im Osten Deutschlands Hunderttausende Menschen für Freiheit und Reformen. Zwar verfügt die DDR-Staatsmacht über weit mehr als eine halbe Million Soldaten, Polizisten und andere Waffenträger. Doch Nationale Volksarmee, Volkspolizei und Co. verhindern das Ende der SED-Herrschaft nicht. Warum die "Friedliche Revolution" vor drei Jahrzehnten friedlich blieb.
Ende der 1980er-Jahre befindet sich die DDR in einer tiefen Krise. Wirtschaftlicher Niedergang, Versorgungsengpässe und ausbleibende politische Reformen bringen immer mehr Ostdeutsche gegen die SED-Regierung unter Staats- und Parteichef Erich Honecker auf.
Unzufriedenheit unter Waffenträgern
Auch unter den mehr als 600.000 Angehörigen des Militär- und Sicherheitsapparates zeigt sich die Unzufriedenheit. Sogar Berufssoldaten kritisieren die schlechte Versorgungslage und bekunden Sympathie für die Reformen des neuen sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow. Doch SED-Chef Honecker hält von "Glasnost und Perestroika" nichts. Die von Gorbatschow initiierte militärische Entspannungspolitik bestimmt aber auch sein Handeln. Anfang 1989 verkündet er, die Nationale Volksarmee (NVA) um 10.000 Mann zu reduzieren, was insbesondere bei vielen Offizieren für große Verunsicherung sorgt.
Einsätze gegen Demonstranten
Im Laufe des Jahres spitzt sich die Situation weiter zu. Unmut und Frustration breiten sich in der Bevölkerung aus. In Leipzig gehen Schutzpolizisten und Stasi-Kräfte gegen friedliche Demonstranten vor, die im Anschluss an die Montagsgebete in der Nikolaikirche ihren Protest artikulieren. Auch diese oftmals brutalen Einsätze sorgen dafür, dass sich immer mehr Bürger mit den Demonstranten solidarisieren. Zunehmend werden nun auch die ursprünglich zur Hälfte für militärische Aufgaben im Rahmen der Landesverteidigung ausgebildeten 11.000 Bereitschaftspolizisten der DDR zur Auflösung von Demonstrationen herangezogen.
Proteste in den Kampfgruppen
Auch die bisher für den militärischen Abwehrkampf geschulten 200.000 Freiwilligen der "Kampfgruppen der Arbeiterklasse", einer paramilitärischen Organisation von Beschäftigten der Betriebe der DDR, sollen ab 1989 gezielt auf innere Einsätze vorbereitet werden. Als die Arbeitermiliz zu Jahresanfang das "Sperren und Räumen von Straßen und Plätzen" üben soll, gibt es jedoch erhebliche Proteste. Die Kämpfer wollen nicht als "Knüppelgarde" gegen Verwandte, Nachbarn und Freunde eingesetzt werden. Sie fühlen sich ebenso wie die Wehrdienstleistenden in der Bereitschaftspolizei zunehmend als diejenigen, die die Folgen einer "verfehlten Politik" ausbaden müssen.
Sonderzüge mit Botschaftsbesetzern
1989 wächst neben der Demonstrations- auch die Fluchtbewegung spürbar. Ab Sommer gelangen Zehntausende DDR-Bürger über Ungarn und die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau in den Westen. Nachdem die DDR am 3. Oktober auch den visafreien Reiseverkehr in die Tschechoslowakei einstellt, sitzen Tausende frustrierte Ausreisewillige in Dresden fest, wo die Bahnverbindungen nach Prag durchlaufen. Nun sorgt die SED-Führung selbst für eine Eskalation, als sie am 4. Oktober zwar die Ausreise der letzten 8.000 in der Prager Botschaft festsitzenden DDR-Bürger in die Bundesrepublik genehmigt, jedoch auf der Fahrt der Sonderzüge über DDR-Gebiet beharrt.
Gewalteskalation in Dresden
In Dresden kommt es daraufhin zur ersten großen Gewalteskalation des Herbstes 1989. Tausende Ausreisewillige versuchen, in das Bahnhofsinnere zu gelangen, um durchfahrende Sonderzüge zu entern. Fensterscheiben und Türen gehen zu Bruch, Geschäfte werden geplündert. Am Bahnhofsvorplatz geht ein Funkstreifenwagen in Flammen auf, Einsatzkräfte werden von Pflastersteinen getroffen. Wohl erstmals in der DDR kommt ein Wasserwerfer zum Einsatz. Die eingesetzten Volkspolizisten geraten an ihre Grenzen.
Umstrittene NVA-Hundertschaften
In dieser Situation entschließt sich die politische und militärische Führung, armeeuntypische "Hundertschaften" von NVA-Angehörigen zur Unterstützung der Volkspolizei einzusetzen. Bis zu 183 derartige Einsatzkommandos werden in den kommenden Wochen landesweit gebildet. Auch wenn die Soldaten keine Schusswaffen mitführen und es lediglich bei einem Einsatz in Dresden zum direkten Kontakt mit Demonstranten kommt, stellt die Aufstellung der Hundertschaften einen Bruch der DDR-Verfassung dar. Schließlich sieht diese für die NVA allein den Schutz des Staates gegen Angriffe von außen vor.
Staatliche Übergriffe am "Republikgeburtstag"
Auch in anderer Hinsicht haben die Ausschreitungen in Dresden nachhaltige Folgen. Für die SED-Führung sind sie ein Beleg für die hohe Gewaltbereitschaft der "feindlich-negativen Kräfte", denen es mit aller Härte zu begegnen gelte. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, gehen die Einsatzkräfte in Plauen, Dresden, Leipzig und Ost-Berlin mit völlig überzogener Härte gegen friedliche Demonstranten, aber auch unbeteiligte Bürger vor. Hunderte Menschen werden willkürlich "zugeführt" und auch misshandelt. Die Übergriffe, von denen auch SED-Mitglieder betroffen sind, bringen immer mehr Bürger gegen das Regime auf.
"Tag der Entscheidung" in Leipzig
Am 9. Oktober 1989 ist die Staatsmacht in Leipzig entschlossen, eine erneute Massendemonstration unter allen Umständen zu verhindern. Bereitschaftspolizisten berichten später, dass sie durch einzelne Offiziere regelrecht "scharfgemacht" wurden: Es müsse endgültig schlussgemacht werden mit der "Konterrevolution in Leipzig". Doch sowohl die große Anzahl der 70.000 Demonstranten als auch deren absolute Friedfertigkeit delegitimieren einen Gewalteinsatz. Ein Einsatzbefehl der SED- und Polizei-Führung bleibt aus. Auch die große Mehrheit der Einsatzkräfte ist über den friedlichen Ausgang des "Tages der Entscheidung" äußerst erleichtert. Gut die Hälfte der alarmierten Kampfgruppenangehörigen ist ohnehin nicht zum Einsatz erschienen.
Militärische Option am 16. Oktober?
Nach dem 9. Oktober verbietet Honecker als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates den "Einsatz der Schusswaffe" bei Demonstrationen grundsätzlich. Dennoch sollen ungenehmigte Großdemonstrationen auch weiterhin verhindert werden. Der SED-Chef überlegt sogar kurzzeitig, am 16. Oktober ein NVA-Panzerregiment als Drohkulisse durch Leipzig fahren zu lassen, was ihm offenbar vom Stellvertretenden Verteidigungsminister Generaloberst Fritz Streletz ausgeredet werden kann. Immerhin werden Fallschirmjäger nach Leipzig verlegt, um mögliche "Rädelsführer" der Proteste dingfest zu machen. Als am 16. Oktober 120.000 Menschen friedlich durch die Stadt ziehen, bleibt ein Einsatz der NVA-Elitekämpfer jedoch aus. Auch die SED-Führung will keine "Zuspitzung der Situation".
Chaotische Grenzöffnung am 9. November
Honeckers Tage sind dennoch gezählt. Am 17. Oktober beschließt das SED-Politbüro, den SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden von seinen Funktionen zu entbinden. Sein Nachfolger Egon Krenz will die SED durch eine Politik der "Wende" wieder in die "politische und ideologische Offensive" bringen. Doch auch Krenz kann den Niedergang der SED-Herrschaft nicht aufhalten. Als am Abend des 9. November 1989 Politbüro-Sprecher Günther Schabowski verkündet, dass nun auch Westreisen für jedermann möglich sein sollen, dabei aber die Sperrfrist "10. November" übersieht, löst er eine chaotische Grenzöffnung aus, die an der Berliner Mauer leicht zur Eskalation hätte führen können.
Vertrauensverlust und Führungskrise
Das Ereignis, dass die NVA und die Grenztruppen völlig unvorbereitet trifft, erschüttert das Vertrauen der Berufsmilitärs in die politische und militärische Führung endgültig. Desillusionierung und Zukunftsängste machen sich breit. Befehls- und Eidverweigerungen unter Wehrpflichtigen nehmen zu. Die Zahl der Fahnenfluchten steigt rapide an. Auch die Debatten um die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen NVA-Hundertschaften reißen bis zu deren Auflösung am 11. November nicht ab. Verteidigungsminister Armeegeneral Heinz Keßler, ein langjähriger Gefolgsmann Honeckers, bringt durch seine Sprach- und Substanzlosigkeit in der Herbstkrise seine Generale und Admirale derart gegen sich auf, dass diese – ein bis dahin unvorstellbarer Vorgang im DDR-Militär – sogar dessen Rücktritt fordern.
Gewaltfreies Ende 1990
Keßlers Nachfolger Admiral Theodor Hoffmann kann ab Mitte November durch Zugeständnisse und Reformen das Vertrauen der meisten Soldaten zurückgewinnen. Es gelingt ihm, das Militär geordnet und ohne blutige Zwischenfälle nach der Volkskammerwahl im Frühjahr 1990 an den letzten Abrüstungs- und Verteidigungsminister der DDR, Pfarrer Rainer Eppelmann, einen ehemaligen NVA-Bausoldaten, zu übergeben. Am 2. Oktober 1990, einen Tag vor der Deutschen Einheit, endet die Geschichte der NVA und der Grenztruppen der DDR (zuletzt Grenzschutz). Auch die Bereitschaftspolizei der DDR wird an diesem Tag aufgelöst. Staatssicherheit und Kampfgruppen sind bereits zuvor verschwunden.
Das Buch zum Thema
Daniel Niemetz
"Staatsmacht am Ende. Der Militär- und Sicherheitsapparat der DDR in Krise und Umbruch 1985 bis 1990"
Ch. Links Verlag Berlin
250 Seiten
Preis: 35 Euro
ISBN: 978-3-96289-107-7