Mit der D-Mark droht das Aus Betriebe am Abgrund
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26. Juni 2020, 15:38 Uhr
Für die Betriebe in der DDR war die Währungsunion eine enorme Herausforderung. Denn vom 1. Juli 1990 an wurden Schulden im Verhältnis 1:2 in DM umgestellt. Zugleich mussten die Waren in D-Mark verkauft werden, im eigenen Land und in Osteuropa, was zum zentralen Problem wurde.
Viele Betriebe in der DDR fürchteten, mit der Wirtschafts- und Währungsunion käme für sie das endgültige Aus. Denn der Verkauf von Produkten drohte einzubrechen, sowohl auf dem heimischen Markt als auch in Osteuropa. Der DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière war klar, dass sie den Betrieben helfen musste, um ihnen überhaupt eine Überlebenschance zu geben. Finanzminister Romberg versuchte, am 1. Juli 1990 im DDR-Fernsehen zu beruhigen: "Für Juli, August, September sind Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass in allen Betrieben, die nicht eindeutig den Konkurs erwarten müssen, die Löhne, Gehälter und auch eine gewisse materielle Versorgung gewährleistet sind. Wir möchten verhindern, dass für Betriebe, die sich in den nächsten zwei, drei Monaten marktfähig entwickeln können, vorzeitig das Aus kommt." Aber selbst wenn die Löhne gezahlt werden konnten, war das weitaus größere wirtschaftliche Problem nicht gelöst: DDR-Produkte mussten ab dem 1. Juli 1990 in D-Mark bezahlt werden. Sie standen damit ungeschützt in Konkurrenz zu den Waren aus dem Westen.
Nur Westwaren sind gute Waren
Die Konsumenten trafen eine klare Entscheidung: Viele DDR-Bürger wollten mit der D-Mark erst einmal den Westen ausprobieren. Was aus dem eigenen Land kam, war plötzlich nicht mehr gut genug und blieb in den Regalen liegen. Oder gelangte erst gar nicht dorthin, da die westdeutschen Handelsketten ihre eigene Produktpalette präsentieren wollten. Dass damit die eigenen Arbeitsplätze auf dem Spiel standen, übersahen viele DDR-Bürger. Aufrufe von Politikern, DDR-Waren in den Handelsketten zu listen und heimische Produkte zu kaufen, verhallten ungehört.
Der Bundesregierung war von Anfang an klar, dass eine auf diese Weise durchgeführte Währungsunion gravierende wirtschaftliche Folgen für den Osten haben würde. Es überwog aber die Sorge, dass bei einem schlechteren Umtauschkurs die Abwanderung von DDR-Bürgern in den Westen ungebremst fortgesetzt worden wäre. Der damalige Finanzminister Theo Waigel sagte hierzu: "Allein auf die Konvertibilität gestützt, wäre eine Umrechnungskurs von 1:4 oder 1:5 gerechtfertigt gewesen. Ein Rentner mit 600 Mark Ost hätte dann 125 Mark West bekommen. Der hätte sofort seine Habseligkeiten gepackt und wäre in den Westen gewechselt."
Die Regierung in Ost-Berlin hoffte dagegen beinahe verzweifelt, dass die DDR-Betriebe in der Lage wären, sich innerhalb der drei Monate, in denen man ihnen finanziell mit Liquiditätskrediten half, eine tragfähige Marktposition zu erobern. Finanzminister Romberg warnte: "Wir müssen aber auch diese drei Monate voll nutzen. Es kann nicht sein, dass das Gefühl entsteht, wir sind noch einmal davon gekommen und wir brauchen uns in den nächsten drei Monaten nicht allzu sehr rühren. Dies wäre tatsächlich verhängnisvoll." Trotz aller Hilfsmaßnahmen waren aber schon nach zehn Tagen etwa 5.000 der insgesamt 8.000 Treuhandunternehmen zahlungsunfähig und auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Mit der D-Mark in die Gewinnzone?
Wie sollte es ein DDR-Betrieb schaffen, seine Liquiditäts- und Schuldenprobleme zu meistern und dann auch noch die eigenen Produkte konkurrenzfähig zu machen? Für die meisten waren die Mechanismen der freien Marktwirtschaft völlig neu. Schon die einfachsten Kenntnisse fehlten. Gewinne? Die hatte es auch bei DDR-Kombinaten gegeben, aber sie wurden komplett abgeführt, hatten also keinerlei Bedeutung für Neu- oder Ersatzinvestitionen des Betriebes. Preise und Qualität? Preise wurden staatlich festgesetzt und hinsichtlich der Qualität bestand kein Konkurrenzdruck. Unternehmen, die in die Bundesrepublik exportiert hatten, besaßen zumindest den Vorteil, dass sie wussten, welche Qualitätsmerkmale auf den westlichen Märkten zu erfüllen waren, welche Preise man verlangen konnte. Dieses Wissen aber fehlte den meisten anderen Betrieben.
Mit dem Lehrbuch in die Marktwirtschaft
Mandred Windus, Direktor für Materialwirtschaft beim Fahrzeughersteller Multicar im thüringischen Waltershausen, hatte schon bald nach dem Mauerfall geahnt, dass sich die DDR in Richtung Marktwirtschaft entwickeln würde und damit auch sein Betrieb in Gefahr war. Er schrieb westdeutsche Verlage an, um sich Bücher zum Thema Marktwirtschaft und Betriebswirtschaft zu erbetteln, studierte nachts und an Wochenenden, was zu tun war, um Multicar auf einem freien Markt konkurrenzfähig zu machen. Sein Chef fragte ihn eines Tages: "Wie viele Fahrzeuge müssen wir produzieren, um über die Gewinnschwelle hinauszukommen?" Manfred Windus erinnerte sich später: "Ich war glücklicherweise in meinem Lehrbuch an der Stelle, wo der break-even, also die Gewinnschwelle, erläutert und grafisch dargestellt wird." So konnte er seinem Chef sagen: 3.000 Einheiten mussten verkauft werden, um diese Gewinnschwelle zu erreichen. Für das kleine Unternehmen eine astronomische Zahl. Aber Multicar nutzte die Zeit der Währungsunion und die damit gewonnene Liquidität, um durch Kooperationen mit Westunternehmen die eigenen Produkte qualitativ deutlich zu verbessern. Das Unternehmen konnte sich so erfolgreich am Markt behaupten. Die von der Treuhand 1990 geplante Abwicklung wurde vermieden.
Dieses Thema im Programm: MDR ZEITREISE | 28. Juni 2020 | 22:10 Uhr