"Perestroika und die DDR" "Sozialismus in den Farben der DDR"
Hauptinhalt
09. Mai 2019, 11:35 Uhr
Reformen nach sowjetischem Vorbild kämen nicht in Frage, das betont am 9. Mai 1989 SED-Chefideologe Kurt Hager in einer Rede anlässlich des Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs. Er bekräftigt damit den Kurs, den die DDR schon zwei Jahre zuvor eingeschlagen hat und erteilt Michail Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika eine klare Absage. Ein Schritt, der sich schon zwei Jahre zuvor abzeichnete.
Der frische Wind der "Perestroika" – er weht im Kreml, seit Michail Gorbatschow im März 1985 das Amt des Generalsekretärs der KPdSU übernommen hat. Seine politischen Reformen untermauert er in seinem Buch "Perestroika", das am 1. November 1987 erscheint. "Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich mich direkt an die Bevölkerung in der UdSSR, in den USA und in anderen Ländern wenden möchte."
"Perestroika" und "Glasnost" werden zu Schlagworten einer neuen Politik
Umgestaltung – "Perestroika" – nennt der neue Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, seinen politischen Kurs. Hauptgrund für die Reformen Gorbatschows ist die desaströse wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion. Auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU im Jahr 1986 spricht Gorbatschow von einer "Vorkrise". Seine Ziele: Wirtschaft umstrukturieren, Produktion intensivieren, Wirtschaftswachstum "in einer neuen Qualität" steigern.
Für Gorbatschow steht fest: Um die Bevölkerung zu mehr Leistungsbereitschaft zu motivieren, muss ihr mehr Mitsprache und Freiheit gegeben werden: "Nur durch Demokratie und dank der Demokratie ist die Umgestaltung selbst möglich."
Die Gesellschaft ist reif für eine Veränderung. Sie hat sich lange danach gesehnt.
Neben "Perestroika" wird "Glasnost" – Offenheit – begriffliches Sinnbild seiner politischen Linie. Gorbatschow öffnet sich nicht nur gegenüber dem sowjetischen Volk, sondern auch dem Westen. So lockert er die Reisebestimmungen für die Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion, stärkt die Meinungs- und Pressefreiheit, schränkt den staatlichen Einfluss auf Unternehmen ein und erlaubt es ausländischen Investoren, sich an sowjetischen Firmen zu beteiligen.
Kein Tapetenwechsel in der DDR
Tiefgreifende Reformen in der Sowjetunion: Die Frage in der DDR war nun, wie sich die Politik Gorbatschows hierzulande auswirken würde? Immerhin folgten die SED-Obrigen mehr als 30 Jahre dem "Großen Bruder" aus dem Osten. Es galt der Spruch: "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen."
Bei "Perestroika" und "Glasnost" sieht man das allerdings anders. Was die SED-Spitze von der Politik Gorbatschows hält, macht Politbüromitglied Kurt Hager in einem am 9. April 1987 im "Stern" veröffentlichten Interview deutlich: "Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Das Interview erschien einen Tag später in voller Länge auch im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland".
Mit dem Tapeten-Vergleich handelt sich Hager nicht nur den Spitznamen "Tapeten-Kurt" ein, sondern bekräftigt die Entscheidung der DDR-Regierung, erstmals eine andere politische Linie zu verfolgen. Auch als die Stasi die Stimmung in der Bevölkerung kritisch beobachtet, sieht die SED-Führung keinen Anlass zur Selbstkritik. Im gleichen politischen Trott geht es auch in der Folgezeit weiter.
Wir gestalten die entwickelte sozialistische Gesellschaft in den Farben der DDR.
Verbot der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik"
Bis auf die Zusage zur Abrüstungspolitik springt die DDR auf den revolutionären Zug Gorbatschows nicht auf. Im Gegenteil. Die DDR beginnt, den Einfluss aus der Sowjetunion immer strikter einzudämmen. Im November 1988 erscheint die Zeitschrift "Sputnik" zum letzten Mal. Zu kritisch war der SED-Führung das Magazin geworden. Gestärkt durch mehr Pressefreiheit, trauten sich die Sputnik-Journalisten auch, über kritische Themen zu schreiben. Die ehemalige Pflichtlektüre der SED-Genossen mauserte sich zur Kultzeitschrift mit einer Auflage von zuletzt 180.000 Stück.
Doch ein Artikel über den Hitler-Stalin-Pakt, über den in der DDR bisher geschwiegen wurde, bringt das Fass schließlich zum Überlaufen. Das "Neues Deutschland" setzt die Bevölkerung vom Verbot am 18. November 1988 in einer kurzen Meldung in Kenntnis: "Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen mitteilt, ist die Zeitschrift 'Sputnik' von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte."
Um die DDR-Bevölkerung vor weiteren revolutionären Material aus der Sowjetunion abzuschirmen, werden Mitte November 1988 fünf sowjetische Filme aus den Kinos verbannt, die zuvor beim sowjetischen Filmfestival gezeigt worden waren.
Immer mehr Menschen in der DDR protestieren offen gegen die starre Haltung der SED-Führung, beispielsweise an den Universitäten in Berlin, Halle und Jena. Sie fühlen sich politisch entmündigt. Bei der Leipziger "Dokumentar- und Kurzfilmwoche" lassen 40 Menschen aus Protest Luftballons mit der Auftschrift "Sputnik" und den Titeln der verbotenen Filme steigen. SED-Genossen treten aus der Partei aus.
SED-Führung weicht nicht vom eigenen Kurs ab
Auf die schwindende Unterstützung der eigenen Parteimitglieder reagiert die SED-Führung mit Härte. "Wer eine Partei der Perestroika will, der wird ausgeschlossen", war beispielsweise von Helmut Müller, Zweiter Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, zu hören.
In einer Rede anlässlich des 44. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs bekräftigt der SED-Chefideologe Kurt Hager wiederholt, dass Reformen nach sowjetischem Vorbild für die DDR nicht in Frage kämen. Hager ist der Meinung, dass eine Diskussion über das Wesen des Sozialismus nicht nötig sei. Die SED habe längst eine erfolgreiche Gesellschaftsstrategie entwickelt, die sich auch immer wieder praktisch bewährt habe. Hager bezieht sich dabei auf den VIII. Parteitag 1971, dem ersten mit Parteichef Erich Honecker, und damit fast 20 Jahre her.
Das ist beispielhaft für die realitätsfernen Ansichten der alten Genossen, deren Einfluss auf die Bevölkerung immer mehr zu schwinden beginnt. Denn die DDR-Bevölkerung sehnt sich immer mehr nach dem gleichen politischen Wandel durch mehr Demokratie, der die Sowjetunion stark verändert.
I follow the Moskva
And down to Gorky Park
Listening to the wind of change
Auch die "Scorpions" haben im August 1989 den frischen Wind der "Perestroika" gespürt, als sie zum ersten Mal in Moskau auftreten durften. Davon zeugt ihr Welthit "Wind of Change". Die Inspiration zum Song kam bei eben diesem Besuch, erzählt Klaus Meine, Frontmann der Scorpions: "Als wir auf der Bühne standen und Soldaten der Roten Armee, die als Security vor der Bühne eingesetzt waren, ihre Jacken und ihre Caps in die Luft geschmissen haben, das war fantastisch. Das war ein Augenblick, in dem sich die Welt vor unseren Augen veränderte."
Der Wind der "Perestroika" inspirierte nicht nur die "Scorpions". Die politische Wende in der Sowjetunion war maßgeblich dafür verantwortlich, dass es im Herbst 1989 zur Friedlichen Revolution in der DDR kam.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Soundtrack DDR | 30.09.2015 | 21:50 Uhr
(zuerst veröffentlicht am 01.11.2017)