4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz Deutschlands größte Demonstration
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01. September 2019, 15:13 Uhr
Am 4. November 1989 organisierten Theatermacher eine Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz. Es war die erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration der DDR und mit rund einer Million Teilnehmern die größte der deutschen Geschichte.
"Der Himmel war eher blau und weniger grau als sonst", erinnerte sich Jahre später der Dramatiker Heiner Müller an jene legendäre Demonstration. "Die Künstler", so Müller, "freuten sich alle über das Volk und über den Aufbruch. Dabei war es eigentlich schon sehr traurig, weil bereits abzusehen war, was daraus wird." Der Theologe Friedrich Schorlemmer hingegen konnte rein gar nichts Trauriges entdecken, weil für ihn an diesem Tag "ein demokratischer Aufbruch" passierte. "Es war eine Gelöstheit, die mir fast schon ein bisschen unheimlich vorkam", notierte der "Stern"-Reporter Peter Pragal damals, "denn noch existierte ja dieser Staat mit all seinen Repressionsmöglichkeiten."
Für mich bleibt der 4. November ein wichtigeres Datum als die Maueröffnung am 9. November, weil auf dem Alex das "D" noch für "Demokratie" stand und nicht für "Deutschland
Hat schon mal jemand eine Demonstration angemeldet?
Begonnen hatte alles am 7. Oktober 1989 in der Berliner Volksbühne. In der Theaterkantine saßen am Abend Schauspieler und Bühnenarbeiter beim Bier zusammen. Später stießen noch Kollegen aus Dresden hinzu, die erzählten, wie die Staatssicherheit am Republikgeburtstag in der sächsischen Metropole Demonstranten niedergeknüppelt hatte. "Wir müssen was machen!", lautete das einhellige Fazit der Theatermacher. Und der Rechtsanwalt Gregor Gysi, der zufällig mit dabei saß, meinte: "Hat denn jemand schon mal probiert, eine Demonstration anzumelden…?"
Antrag bei der "Abteilung Erlaubniswesen"
Zehn Tage später beantragte der Schauspieler Wolfgang Holz bei der Volkspolizei, Abteilung Erlaubniswesen, tatsächlich eine Demonstration unter dem Thema: "Für die Inhalte der Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR". In diesen Artikeln waren die Meinungs- und Versammlungsfreiheit festgeschrieben. Als Veranstalter nannte Holz die "Gewerkschaftsorganisation der Berliner Bühnen". Am 1. November wurde die Demonstration genehmigt.
Auf der Rednerliste standen unter anderen die Namen von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Heym, Friedrich Schorlemmer, Gregor Gysi, Ulrich Mühe und Eckehard Schall. Aber auch die Namen des Berliner SED-Chefs Günter Schabowski und des Generaloberst der Staatssicherheit a. D. Markus Wolf. Für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Kundgebung waren 600 Berliner Theaterleute eingeteilt. Sie sollten Schärpen mit der Aufschrift "Keine Gewalt" tragen.
Fast eine Million Demonstranten auf dem Alex
Am Morgen des 4. November 1989 fanden sich ab neun Uhr die Demonstranten auf dem Alexanderplatz ein. Zwei Stunden später war der Platz voll und die Organisatoren beschlossen, mit der Kundgebung anderthalb Stunden früher als geplant zu beginnen. Als erster Redner trat der Schauspieler Ulrich Mühe auf die Ladefläche eines LKW, der die Bühne abgab. Mühe verlas lediglich die Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR. Nach ihm traten weitere 22 Redner ans Mikrofon – namhafte Regisseure, Schauspieler und Schriftsteller, aber auch Bürgerrechtler, Politiker, Professoren und Studenten. Einer der Höhepunkte der Kundgebung war der Auftritt Stefan Heyms.
Es ist, als habe jemand die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengedresch und bürokratischer Willkür.
Das Fernsehen der DDR übertrug live
Insgesamt dreieinhalb Stunden dauerte die größte Kundgebung der deutschen Geschichte, die - und das war auch eine kleine Sensation - vom Fernsehen der DDR live übertragen wurde. "Wir haben nicht daran gedacht, diesen Staat hinwegzufegen", erinnerte sich der Bühnenbildner Henning Schaller, der die Kundgebung maßgeblich mitorganisiert hatte. "Viele Redner wollten den Sozialismus beibehalten und einen eigenen Weg zum Sozialismus gehen." Und das war offensichtlich auch die Auffassung der meisten Demonstranten: Fast nie waren Pfiffe zu hören gewesen, wenn das Wort "Sozialismus" fiel. "Es war ein Traum, ein nicht zu verwirklichender Traum", schrieb der Romancier Christoph Hein. Und die Schauspielerin Jutta Wachowiak sagte einmal: "An den 4. November denken geht einher mit einer gewissen Leichtigkeit, die mir sonst nur bei Verliebtheit oder im Frühling gelingt."
"Wir haben uns nicht getraut"
Ein paar Wochen nach der Demonstration auf dem Alexanderplatz fragte Rudi Bentzin, Schriftsteller und letzter Intendant des Fernsehens der DDR, Stefan Heym: "Warum bist du damals nicht losmarschiert und hast gesagt, wir gründen uns hier als provisorische Regierung und nehmen den Ministerrat, der ja gleich neben dem Alex liegt, in Besitz. Was wäre passiert? Nichts! Ihr wärt da hingegangen und der Stoph hätte die Schlüssel abgegeben. Denn Waffen, das war ganz klar, hätten nicht eingesetzt werden können, das wäre eine Katastrophe größten Ausmaßes gewesen." – "Sicher hast du recht", entgegnete Stefan Heym, "aber das haben wir uns nicht getraut." Bentzins Resümee: "Ein wirklicher Revolutionär, ein Robespierre an der Spitze einer solchen Versammlung, der hätte das gemacht." Doch solch einen Mann gab es nicht. Und so blieb es bei einem Traum an einem milden Samstag im November.
(Zitate aus: "Bleibt auf der Straße, beruhigt Euch nicht!", Feature. MDR/SFB 1999; "4. November wichtiger als Tag der Maueröffnung", Tagesspiegel, 4.11. 2004; "Die Fenster aufgestoßen", Deutschlandradio 2009; Heiner Müller, Gespräche, Suhrkamp Verlag 2008.)