Sandmännchen
Der Sandmann wurde zu einer Kultfigur im DDR-Fernsehen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Premiere am 22. November 1959 Sandmann, lieber Sandmann

22. November 2021, 10:48 Uhr

Am 22. November 1959 hatte "Unser Sandmann" seine TV-Premiere. Er war der absolute Kinderliebling im DDR-Fernsehen. Ohne den "Abendgruß" wollte kaum ein Kind ins Bett. Ein gewaltiger Proteststurm verhinderte 1991 die Abwicklung des Sandmanns.

Die Regeln waren von vornherein klar. Wer tagsüber zu oft quengelte, seine Eltern nervte, sich im Speisesaal nicht zu benehmen wusste oder über Gebühr lärmte, war abends nicht mit von der Partie. "Sandmann-Verbot" galt als Vorstufe zu großem Ärger, danach konnten nur noch Stubenarrest und totales Fernsehverbot kommen. Und wirklich: Ohne den Abendgruß des DDR-Fernsehens ins Bett zu müssen, konnte einem Kind schon den Glauben an Elternliebe und eine gerechte Welt nehmen.

Kap Arkona oder Sonnenberg: Der Sandmann kam überall

Der Sandmann auf einer Wolke
Der Abendgruß zeigt den Sandmann auf einer Wolke Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Egal ob Harz, Thüringer Wald oder Elbsandsteingebirge, überall zwischen Kap Arkona und Sonneberg spielten die Eltern republikweit nach den gleichen Regeln. Um 17:50 Uhr kam der erste Abendgruß für die ganz Kleinen (Sechsjährige und darunter), um 18:50 Uhr die Wiederholung für die "Großen". Danach ging's stressfrei ins Bett. Wer sein Kind nach diesen Regeln nicht beherrschen konnte, galt irgendwie als Versager. Und seine Brut als schwer erziehbar.

Überholen ohne einzuholen

Am 22. November 1959, hatte "Unser Sandmann" seine TV-Premiere. Was selten gelang - die DDR schlug damit dem Westen ein Schnippchen. Wenige Wochen vorher war der DFF-Programmchef Walter Heynowsky (genau der, der später mit Gerhard Scheumann als Polit-Dokumentarfilmer berühmt wurde) auf eine westdeutsche Presseinformation gestoßen, wonach der SFB einen Abendgruß mit Sandmann plane. Starttermin: 1. Dezember. Dem wollte, dem musste man zuvorkommen.

Es ist nicht gesichert, ob der damals über die DDR gebietende Walter Ulbricht sein wirtschaftspolitisches "Überholen ohne einzuholen" vom Sandmann-Kollektiv hatte. Fakt aber ist, dass die Geburt des ostdeutschen Traumsandstreuers ein Lehrstück dafür war, dass die schon damals unbeschreiblich bürokratielahme DDR durchaus etwas schaffen konnte, wenn sie ihre Leute von der Leine ließ. Fakt ist außerdem, dass Heynowski eindringlich in einer Hausmitteilung warnte, "die gegnerische Absicht, uns Zuschauer abzunehmen, darf nicht unterschätzt werden" - der SFB wollte seine Kindersendung zur selben Zeit wie die damals noch sandmannlosen DFF-Abendgrüße senden.

Herr Fuchs und Frau Elster sammeln Weidenkätzchen im Schnee.
Herr Fuchs und Frau Elster Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Von wem stammt die Titelmelodie?

Innerhalb kürzester Zeit stampfte der DFF den inzwischen dienstältesten deutschen Medienstar aus dem Boden. Der Bühnen- und Kostümbildner Gerhard Behrendt entwarf die Figur des Sandmannes samt Szenerie in nur zwei Wochen. Die bis heute nahezu unveränderte Titelmelodie komponierte Wolfgang Richter sogar in nur einer Nacht nach einem Text des Kinderbuchautors Walter Krumbach. In seiner ersten Folge schlief der Sandmann, noch ohne Traumsand zu verstreuen, in einem Hauseingang ein; der Sender wurde daraufhin mit warmen Sachen, selbstgemachten Mini-Betten und Wohnungsangeboten bombardiert. Die Puppe begeisterte die Zuschauer sofort.

Pitiplatsch und Schnatterinchen (Handpuppen)
Pitiplatsch und Schnatterinchen Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Sag mir, wo du schläfst

Schnell avancierte der Sandmann zum Allrounder. Er kam nicht nur per Kutsche, zu Fuß, im Auto oder Segelflugzeug, sondern auch schon mal politisch korrekt während der Erntezeit im Traktor, zur Leipziger Messe und mit einem Brückenleger der NVA. Er war bei den Ost-Berliner Weltfestspielen und zur Einweihung des Fernsehturms dabei, kam zum neuen Vorzeige-Palast der Republik ebenso wie mit einem Sprengwagen (!) in ein so genanntes Alt-Neubaugebiet. Funktionärsärger gab es allerdings, als er per Ballon in die Kinderschlafzimmer flog; zwei Tage zuvor waren zwei Familien per Heißluftballon von Thüringen nach Bayern geflohen.

Der Sandmann: DDR-Bürger mit Reisefreiheit

Trotzdem genoss der Sandmann Reisefreiheit. Nicht nur als Märchenfigur (Hänsel und Gretel), sondern je nach politischer Großwetterlage kam er u.a. auch nach Vietnam (zur Zeit der US-Invasion), Afrika (Freiheitskämpfe in den 60er-Jahren), Ägypten (Nassers Sozialismus-Experiment), Japan (nach dem Honecker-Besuch 1981) und in den Irak (Saddam Hussein galt in den 70ern als sowjetfreundlich).

Der Kommandeur der Raumstation, Wladimir Kowaljonok, der seinerseits das russische Maskottchen, eine Braunbärin namens Mascha, dabei hatte, verfiel auf die Idee, seine Mascha mit Jähns Sandmann zu verheiraten. Doch die Leute vom Kinderfernsehen waren gar nicht begeistert, schließlich konnten sie den Kindern schlecht einen verheirateten Sandmann vermitteln.
Sigmund Jähn nahm den Sandmann mit ins All. Bildrechte: DRA

Eine besondere Affinität verband ihn mit dem All; kaum waren die Sowjets mit Gagarin im Weltraum, flog der Sandmann hinterher. Als mit Leonow erstmals ein Mensch aus einer Raumkapsel ausstieg, hing auch bald der Sandmann im Ost-Berliner Trickstudio an einer Sicherungsleine. Und obwohl die US-Amerikaner den Wettlauf zum Mond gewannen, ließ sich die DFF-Puppe nicht lange bitten und landete ebenfalls auf dem Erdtrabanten. Als schließlich mit Sigmund Jähn der erste Deutsche 1978 ins All durfte, war das Sandmännchen sogar live dabei. Den nationalstolzen Ostdeutschen flimmerte aus den unendlichen Weiten nicht nur Jähn ins Haus, sondern auch eine frei schwebende Sandmann-Puppe.

Jeden Abend eine gute Bilanz

Zum Exportschlager aber wurde der Sandmann (er ging nach Finnland, Dänemark und Schweden genauso wie als Solidaritätsgeschenk nach Vietnam; selbst der WDR wollte, durfte ihn aber nicht haben) erst durch seine Mitstreiter. Jeder Abendgruß hatte eine Gute-Nacht-Geschichte, und den DFF-Machern gelang über Jahrzehnte ein puppentechnischer Volltreffer nach dem anderen: Pittiplatsch ("ach du meine Nase") und Schnatterinchen, Frau Igel ("nuff-nuff-nuff"), Mauz und Hoppel, Moppi (der aus der Regentonne), Taddeus Punkt und Struppi, Pünktchen und Felix. Jeden Donnerstag Frau Puppendoktor Pille und am Sonntag Herr Fuchs und Frau Elster. Selbst im so genannten Zonenrandgebiet saßen die Kinder gebannt vor dem Fernseher. Die Westschweinchen Piggeldy und Fredderick hatten keine Chance.

1991: Der Sandmann sollt verschwinden

1991 sollte der Sandmann trotzdem der neuen deutschen Fernsehlandschaft weichen; der DFF verschwand und mit ihm, so laut Medien der Plan, hatte auch der Sandmann zu gehen. Ein Sturm der Entrüstung brach los, Unterschriftenlisten wurden angelegt und für den Sandmann-Fortbestand demonstriert. Schon 1990 prophezeite die ansonsten nicht durch Weitsichtigkeit glänzende Ost-Berliner Tagesszeitung "Junge Welt" Medienreformern: "Wenn sie in diesem Land an einem Mann scheitern können, dann ist es der Sandmann".

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio: MDR KULTUR | 27.05.2019 | 17:30 Uhr