25 Jahre Freiheit '89 | MDR FERNSEHEN | 01.10.2014 | 20:15 Uhr Herrscher der (Arbeits-)Zeit
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01. Oktober 2014, 17:17 Uhr
Die Deutschen lieben ihren Job: 88 Prozent der Angestellten in Ost und West gehen gern zur Arbeit. Selbst Rentnern fällt es schwer, sich von ihrer beruflichen Tätigkeit zu lösen. Zeitgleich entwickelt eine alternative Bewegung neue Modelle für unser Arbeitsleben: In der Konzeptwerkstatt Neue Ökonomie leben sie schon das, was sie für die Gesellschaft fordern: In Vollzeit arbeiten bedeutet für die Leipziger 25 Stunden tätig sein.
Knapp eine Million Rentner in Deutschland können es nicht lassen. Sie arbeiten weiter in ihrem Beruf und bessern so ihr Haushaltsgeld auf. Statt Hobby und Freizeit bleiben sie ihrer Arbeit treu. 73 Prozent schätzen das zusätzliche Geld. Für 90 Prozent ist die entscheidende Motivation: Fit bleiben und gefordert sein.
Zufriedenheit im Job wichtiger als Gehalt
Für Berufstätige im mittleren Alter stellt sich Zufriedenheit im Job ein, wenn nette Kollegen einem die Arbeitszeit erleichtern. Auch die Anerkennung und Respekt von Vorgesetzten sorgt für positive Gefühle wie eine Forsa-Umfrage zur Arbeitszufriedenheit 2012 ergeben hat. Andere – meistens jüngere – wollen selbstbestimmt ihre Zeit einteilen und etwa private E-Mails auch am Arbeitsplatz verfassen.
Dem Leipziger Felix Wittmann geht das aber noch nicht weit genug. Er arbeitet beim Verein Konzeptwerkstatt Neue Ökonomie. Das Ziel des Vereins ist es, die Begriffe Arbeit und Erwerbstätigkeit neu zu definieren. Wenn es nach Wittmann und den 16 Gleichgesinnten geht, soll eine Vollzeitarbeitswoche nicht mehr vierzig, sondern nur zwanzig Stunden umfassen. Die gewonnene Zeit könnte man so in die Entwicklung der Persönlichkeit und in die politische Bildung investieren. Zudem wünscht sich Wittmann, dass auch Arbeiten im Haushalt als wertvolle Tätigkeiten in der Gesellschaft anerkannt werden:
Wir müssen den engstirnigen Begriff von Arbeit auflockern, damit ein Umdenken stattfinden kann.
In der Konzeptwerkstatt Neue Ökonomie leben sie schon das, was sie für die Gesellschaft fordern: In Vollzeit arbeiten bedeutet für die Leipziger 25 Stunden tätig sein. Halbjährlich erstellen die Mitarbeiter einen Arbeitsplan, in dem jeder sein Arbeitspensum für die kommenden sechs Monate bestimmt. Die Mitarbeiter erhalten ein Grundgehalt. Braucht einer mehr, weil der Kauf eines Fahrrads ansteht oder die Miete steigt, entscheidet das Arbeitsteam basisdemokratisch über die Anfrage. "Das klappt bisher sehr gut und alle können mit den Entscheidungen leben", sagt der 29-Jährige, der sich seit eineinhalb Jahren über neue Arbeitsmodelle Gedanken macht.
Die Ideen der Leipziger Konzeptwerkstatt sind nicht neu. In den vergangenen Jahren ist eine gesellschaftliche Gegenöffentlichkeit entstanden, die immer stärker wird: die Degrowth-Bewegung. Die Anhänger suchen nach Wegen, wie eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren kann. Erst kürzlich fand in Leipzig die weltweit vierte Degrowth-Konferenz mit 3.000 Teilnehmern statt. In Paris, 2008, auf der ersten Konferenz, waren es nur 150 Teilnehmer.
Wirtschaftswissenschaftlerin fordert Grundeinkommen
Eine der neuen Ikonen der Postwachstumsökonomie-Bewegung ist Adelheid Biesecker. Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin aus Bremen entwickelte Ideen, die bei den Degrowth-Anhängern sehr beliebt sind. Die Wirtschaftsexpertin plädiert für ein Grundeinkommen, das jeder Bürger neben seinem Arbeitslohn erhalten soll. Statt den Erwartungen der Aktionäre zu folgen, sollen Unternehmen sich ihren Mitarbeitern, dem Umfeld und den Betroffenen ihrer Unternehmenstätigkeit stärker verpflichtet fühlen. Biesecker zeigt in ihren Veröffentlichen auf, wie der Weg zu einer humaneren Wirtschaft gelingen könnte. Auch Felix Wittmann kann sich für die Vorschläge der Ökonomin begeistern. Vor allem bei einem Satz leuchten seine Augen: "Wir haben keine Zeit für Erwerbstätigkeit, wir haben noch so viel anderes zu tun."