Der Altpapier-Jahresrückblick am 28. Dezember 2019 Peter Handke: Sprachmagier oder Kretin?
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Die einen schreiben über "Peter Handkes Antifaschismus", die anderen werfen dem österreichischen Schriftsteller vor, ein Vorläufer der heutigen "Lügenpresse-Rufer" gewesen zu sein. Die monatelange Debatte um den Literatur-Nobelpreis für Handke hat – auch – medien- und literaturkritische Fragen in den Fokus gerückt, die das Jahr 2019 überdauern werden. Ein Jahresrückblick von René Martens.
Zu den ausuferndsten medienkolumnistisch relevanten Themen des Jahres 2019 gehörte die Debatte um den Literatur-Nobelpreis für Peter Handke. Der enorme Umfang der in diesem Zusammenhang verbreiteten Positionen erklärt sich natürlich unter anderem dadurch, dass man in der aktuellen Debatte auch auf Artikel aus unterschiedlichen Phasen der 1990er und der 2000er Jahre und den ablaufenden 2010er Jahren zurückgreifen konnte und musste.
Anders gesagt: Vor der diesjährigen Handke-Debatte gab es schon viele andere Handke-Debatten. In Norwegen brach 2014 anlässlich der Verleihung des Ibsen-Preises eine aus, die zusammengefasst ist in dem 679 Seiten dicken Buch "Handke-debatten - dokumentasjon, videreføring, analyse". In Deutschland gab es 2010 anlässlich des Heinrich-Heine-Preises eine "eher kläglich verlaufende Debatte" (Süddeutsche). Handke klagte damals aus diesem Anlass ebd.:
"Ich muss ernsthaft sein und ruhig antworten auf die Vorwürfe, die mir seit vielen Jahren und jetzt wieder, nach der Zusprechung (und der angedrohten Nicht-Vergabe) des Heinrich-Heine-Preises entgegengehalten werden. Ich muss es für die Leser tun (...)."
In der folgenden kommentierten Collage geht es um Medienkritik und Kritik an der Medienkritik, natürlich auch um Literaturkritik und Kritik an der Literaturkritik - und, so profan das erst einmal klingen mag, die Unterschiede zwischen Literatur und Journalismus. In der Debatte spielen auch viele Aspekte eine Rolle, die in einer Medienkolumne normalerweise keine Rolle spielen, in diesem Fall aber nicht völlig ausgeblendet werden können, weil sie für das Gesamtverständnis wichtig sind.
Intro
Um welche Texte geht es in der Handke-Debatte vor allem? Wir blenden da mal rein in einen Beitrag, den Markus Wild, Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Basel, für den Schweizer Blog Geschichte der Gegenwart geschrieben hat:
"Handke hat zwischen 1991 und 2011 zehn Texte zu den Kriegen in Jugoslawien veröffentlicht. Darin ergreift er für Jugoslawien, für Serbien, für das serbische Volk Partei, gegen die Abspaltung der Teilrepubliken, gegen die westliche Bild- und Berichterstattung, gegen die Gleichsetzung mit Faschisten, gegen die NATO-Intervention, gegen die Legitimität des Internationalen Kriegsverbrechertribunals. Obwohl diese Kritikpunkte diskussionswürdig sind, hat Handke diese Punkte immer mehr aus den Augen verloren. Seine Texte – Reiseberichte, Zeugenberichte, Notizen, Tagebücher – geben vor, wahrhaftig zu sein und die poetischen Mittel in den Dienst der literarischen Wahrheitsfindung zu stellen. Auch poetische Mittel können genau und angemessen sein, auch literarische Wahrheitsfindung soll Wahrheitsfindung sein. Beides misslingt Handke gründlich."
Die von Wild genannten Texte finden sich in "Aufsätze 2" – im elften Band der bei Suhrkamp erschienenen "Handke Bibliothek". Sie sind somit Teil seines literarischen Werks – wobei man ergänzen muss, dass Handke die in diesem Buch versammelten Texte ursprünglich überwiegend für aktuelle Medien geschrieben hat (ein Aspekt, den Mladen Gladic in einem Freitag-Text herausstellt).
Lässt sich die Person Handke von seinem Werk trennen?
Ja, jedenfalls sagen das zahlreiche seiner Verteidigerinnen und Verteidiger. Dagegen lassen sich folgende Argumente vorbringen:
"In die Rede von der Autonomie der Kunst hat sich ein folgenreicher Irrtum eingeschlichen, nämlich die Annahme, ihre heiligen Wahrheiten dürften auf keinen Fall durch öffentliche Deutungen behelligt, kritisiert oder, wie Handke im Zeit-Interview sagt, 'denunziert' werden. Das klingt zwar vornehm, ist aber muffige Kunstreligion. Sie sperrt die Literatur in den Tabernakel einer fingierten Weltlosigkeit, macht ihre Lektüre steril und zieht der Kritik den Zahn."
Das schrieb zum Beispiel Thomas Assheuer kurz nach der Preisverleihung in der Zeit. Und Andreas Breitenstein bemerkt in der NZZ:
"(E)s gab und gibt (...) die apolitischen Handke-Versteher, die Literatur und Politik säuberlich auseinanderhalten zu können meinen – wie eine rezeptionsästhetisch ausgerichtete Germanistik, die darauf schwört, dass ein Text klüger ist als der Autor, oder die Schwedische Akademie in Stockholm."
Ist Handke ein Medienkritiker?
In einem vor zwei Monaten erschienenen Altpapier kam bereits ein FAZ (€)-Text des Schriftstellers Eugen Ruge zur Sprache, in dem er betonte, "Handkes eigentlicher Furor", der in seinen Texten zu Jugoslawien zum Ausdruck kam, habe "sich gegen die Medien" gerichtet. Entsprechend äußert sich auch Ronald Pohl, Kulturredakteur beim Standard, er vertritt die Ansicht, Handke habe "Kritik an der Kriegsberichterstattung" der 1990er Jahre geübt:
"Er nahm voller Ingrimm Anstoß (...) am Unechten, am technisch Vermittelten. Ihn ekelte vor den stark frisierten Fotos der Weltpresse. Er erkannte noch in den Bildern der Leidtragenden die schamlose Preisgabe unteilbarer Erfahrungen (...). Er sah keine Berichterstatter am Werk, sondern kriegsgeile Kiebitze. Unter dem 'immer noch weiträumigen Himmel über einem trotz allem wohlbegründeten Jugoslawien.'"
Zu "Winterliche Reise", dem meist beachteten Text Handkes in dem hier in Rede stehenden Zusammenhang, schreibt Pohl:
"Ob die völlig verzerrte Wiedergabe des Inhalts des Buches, zu der es in den letzten Monaten durch seine Kritiker fortwährend gekommen ist, darin begründet liegt, dass viele den dichterisch-philosophischen Text schlicht nicht zu verstehen in der Lage sind, oder ob es sich dabei um eine Art später Rache von Medienrepräsentanten für die erlittene narzisstische Kränkung handelt, weil Handke mit diesem Text seinerzeit 'ihre' Arbeit in Frage gestellt hat, das will ich hier gar nicht entscheiden."
Naja, ein bisschen aus dem Fenster lehnen will Pohl sich dann wohl doch. Er schreibt des Weiteren:
"(D)en Journalismus greift Handke in diesem Buch (...) frontal an, und zwar nicht bloß die Berichterstattung über Jugoslawien, sondern mehr noch, das Wesen des Journalismus überhaupt, seine ausgehöhlte Sprache und den durch sie bedingten Verfall der Wahrnehmung, die dadurch ausgelöste Wirklichkeitsverarmung."
Dass eine "ausgehöhlte Sprache" nicht gering verbreitet ist im Journalismus und sie einen "Verfall der Wahrnehmung" mit sich bringt – das stand zwischen den Zeilen möglicherweise schon in dem einen oder anderen Altpapier. Insofern ist das grundsätzlich gewiss kein unberechtigter Kritikpunkt, ich tendiere aber dazu, darüber lieber jenseits der Person Handke und des Themas Jugoslawien-Krieg diskutieren zu wollen.
Karl Wagner nahm 2009 in dem Buch "Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart" eine literatur- und medienhistorische Einordnung vor:
"Handkes Schreiben gegen den Krieg in Jugoslawien steht in einer ehrwürdigen Tradition der (österreichischen) Literatur; Handke ist sich dessen auch bewusst, wenn er sich beispielsweise ermahnt, 'nur kein Karl Kraus zu werden' (...). Die unbequeme Frage von Karl Kraus nach den Interessen derer, die für den Krieg sind, weil sie an ihm verdienen, von der Rüstungsindustrie bis zu den Zeitungen, hat nichts an ihrer Dringlichkeit verloren, gar nicht zu reden von der literarischen wie journalistischen Produktion des Feindbilds Serbien (nicht erst) im Ersten Weltkrieg. Handkes Medienkritik im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Serbien setzt also eine der vornehmsten Aufgaben literarischer Arbeit fort."
An anderen Stellen ist Wagners Text allerdings ausgesprochen Handke-kritisch, das lässt bereits die Überschrift "Handkes Endspiel. Literatur gegen Journalismus" erahnen (ein Aspekt, der in diesem Jahresrückblick noch an anderen Stellen Thema sein wird).
Wie auch immer: Ist Medienkritiker denn nun eigentlich eine adäquate Bezeichnung für Handke? Eher nicht, meint der bereits zitierte NZZ-Redakteur Andreas Breitenstein:
"Handkes von vielen verständnisvoll verteidigte Medienkritik ist (...) eigentlich gar keine, weil er das journalistische Metier als mindere, mit gedanklichen und sprachlichen Fertigteilen arbeitende Erkenntnisform grundsätzlich verachtet. Im Gegensatz zur Dichtung mit ihren Visionen, Elevationen und Exaltationen kann dieses 'nur' mit profanen Informationen, soliden Recherchen, anschaulichen Schilderungen, klugen Kommentaren und gepflegter Sprache aufwarten."
Ähnlich hatte sich der verstorbene Michael Althen bereits 2010 in einer SZ-Rezension zu Handkes Reiseaufzeichnungen 'Unter Tränen fragend' geäußert:
"Es gab ja durchaus ein paar Gründe, am Kriegseinsatz der Nato zu zweifeln (...). (T)atsächlich mag (...) manches Urteil voreilig, manche Parole überzogen gewesen sein – aber für Handke ist nichts von alledem verhandelbar. Seine Worte dafür sind: 'Giftschlammschmeißer, Kriegsbraut, West-Propaganda, Kriegsgebrüll, Zuschlag-Wörter, Bilder-Pornographie, Fletsch-Gebiss, Schlagstockmeinung, Elends-Touristen, Übelwoller, Verbrecherwelt'. Und dazwischen immer wieder sein scheinheiliger Abgesang: 'Es war einmal eine Zeitung', El País, Le Monde, Die Zeit (...). Sein letzter Satz lautet: 'Das Zeitalter der Information ist vorbei.'”
Letzterer Satz treffe "vor allem zu für jemanden, der an Information gar nicht mehr interessiert ist, der nur noch glaubt, was er selber sieht und zum Dichterwort formen kann."
An Althen und Breitenstein anknüpfend, ließe sich sagen, dass Handke mit einem schematischen Gegensatz zwischen Literatur und Journalismus hausieren geht, der aus den (zumindest teilweise) zwangsläufigen Schwächen des Journalismus dessen Nichtswürdigkeit ableitet. Ob Handkes Sprache mehr leistet als Journalismus, ist aber gerade im Zusammenhang mit seinen Texten zu Jugoslawien noch mal eine ganz andere Frage. In Althens neun Jahre altem und enorm hellsichtigen Text heißt es dazu:
"Man ertappt sich bei der Lektüre, dass man manchmal unwillkürlich den Kopf einzieht und sich dafür geniert, wie gnadenlos sich der Mann verrennt. Vor dem Hintergrund der Geschehnisse wirkt seine Prosa so besonders manieriert und eitel, so unangemessen in ihrer hoffnungslosen Gewählt- und Gespreiztheit. Seine Sprache ist in der Tat ein Opfer dieses Krieges. Weil so transparent wird, wie ungeeignet sie ist, sich mit diesem Krieg auseinander zu setzen, wie weltfern und -fremd. Nichts wird klarer, nichts deutlicher, nichts spürbarer. Der Krieg bleibt hinter einem Schleier schamloser Anmaßung."
Die größtmögliche Gegenposition dazu vertritt die dänische Schriftstellerin Madame Nielsen im Freitag:
"Die Serbienbücher sind weit besser und wichtiger als Handkes groooße Romane – wie der von den dänischen Rezensenten in den höchsten Himmel gelobte Der große Fall – mit all ihrer 'Poesie', 'Phantasieren' und 'Märchen', Romane, in denen alle Personen am meisten dem Schriftsteller selbst ähneln. Handke ist viel besser darin, das und die wirklich Seiende(n) zu beschreiben als zu phantasieren. Die Sprache der Serbien-Schriften ist ostentativ nicht-journalistisch, doch sie ist auch nicht, wie die Anklage oft lautet, 'poetisch' oder 'Geschichte poetisierend', es ist schlicht und einfach eine andere Sprache, die die Welt und unsere Geschichte auf ganz andere Weise erfasst und wiedergibt."
Der Satz "Die Sprache der Serbien-Schriften ist ostentativ nicht-journalistisch" ist offensichtlich an Kritikerinnen und Kritiker gerichtet, die die genannten Texte – vermeintlich – nach journalistischen Kriterien bewerten.
In diesem Sinne schreibt Madame Nielsen des Weiteren:
"Was im Feuilletonverfahren gegen Handke oft übersehen wird: Er ist kein Journalist, aber auch nicht bloß ein Schriftsteller: er kommt nach Den Haag als Jurist, der seit seiner Jugend 'ein begeisterter Gerichts- und Gefängnisbesucher' ist. 'Ich wollte die jeweiligen Angeklagten sehen (...). Ich wollte das Gesicht der Angeklagten sehen und betrachten, möglichst nah.’ Er wohnt dem Prozess gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Milošević bei wie ein passionierter Jurist."
Der oben erwähnte Mladen Gladic schreibt ebenfalls im Freitag zu diesen von Madame Nielsen so genannten "Serbien-Schriften":
"Diesen Berichten geht es um eine 'Augenzeugenschaft', die jenseits der Feststellung von Schuld und Unschuld auf Kleines, Ab- und Umwegiges achtet. Es geht um eine Aufmerksamkeit für das, was den kritisierten Journalisten, die nur eine Story suchen und beim Erzählen dieser Story der Branchenregel des 'wer, was, wann, wo, wie' folgen, während sie das fehlende 'warum' schon im Vorhinein beantwortet haben, notwendig entgehen muss."
Oder ist Handke bloß ein Journalistenbeschimpfer?
Bei der Pressekonferenz der Nobelpreisträger in Stockholm hat Handke unter Beweis gestellt, dass seine "Giftschlammschmeißer"-Skala (siehe die zitierte Rezension Michael Althens) nach oben offen ist. Dem "amerikanischen Journalisten Peter Maass, der im Internet-Magazin The Intercept ein detektivisches Belastungsverfahren gegen Handke betreibt" (Süddeutsche), bzw. "in den vergangenen Wochen minutiös Handkes Jugoslawientexte aufgeschlüsselt hatte" (Spiegel), hielt Handke entgegen, eine auf Klopapier kreierte "Kalligrafie aus Scheiße", die ihm neulich zugestellt worden sei, sei ihm lieber als seine, Maass', "leeren und ignoranten" Fragen.
René Aguigah fragte sich danach bei Deutschlandfunk Kultur:
"Ob dieser Fäkal-Vergleich zu jener Medienkritik gehört, die Handkes Verehrer an ihrem Autor so loben und preisen? Oder erinnert er nicht eher an eine Medienverachtung, wie sie heute etwa die AfD und deren politische Verwandten praktizieren?"
Eine Passage, für die der Begriff Journalistenverachtung eher zutreffend zu sein scheint als Medienkritik, greift John Erik Riley in einem Longread auf, der sich in einem weiten Sinne als Bosnien-Reisereportage bezeichnen lässt und unter dem Titel "Ignoble: On the Trail of Peter Handke’s Bosnian Illusionsim" einen Tag vor der Nobelpreisverleihung im Literary Hub erschienen ist. Es geht, um kurz auszuholen, um Handkes Reaktionen auf einen 1996 erschienenen New-York-Times-Artikel von Chris Hedges über das Massaker von Višegrad:
"'Witnesses said,‘ Handke repeats, 'survivors said,‘ in a sarcastic tone, like a comedian imitating the voice of someone he wishes to mock. Here, as elsewhere, Handke’s antipathy is not merely political in nature; it is aesthetically motivated. The language of the mass media is as much of an affront to him as the facts themselves. When Hedges closes his article with a witness who repeats 'the bridge, the bridge, the bridge‘—admittedly, with great pathos—Handke brushes it off as too melodramatic, too much like Tennessee Williams."
Um den Aspekt Handke und die Medienkritik bzw. die Frage, ob letzterer Begriff in seinem Fall überhaupt adäquat ist, eine halbwegs anekdotische Note hinzuzufügen: Dietrich Leder hat für die Medienkorrespondenz anlässlich der laufenden Debatte noch einmal einen Blick auf eines von Handkes Frühwerken geworfen:
"Vollends vergessen ist, dass Handke auch auf das Fernsehen reagierte – und zwar im Fernsehen selbst. Im Jahr 1969 drehte er, 26-jährig, mit 'Chronik der laufenden Ereignisse' seinen ersten eigenständigen Spielfilm, den er im Auftrag und als Produktion des Westdeutschen Rundfunks (WDR) realisierte."
Es handle sich, so Leder, um eine "Selbstreflexion des Fernsehbetriebs", in der Handke "die unterschiedlichsten Elemente" miteinander mische. Der Begriff "Selbstreflexion" lässt sich so interpretieren, dass Handke einmal Teil der Medienbranche war, die er nun verachtet. Jedenfalls passt dann also möglicherweise mal wieder F.W. Bernsteins berühmter Zweizeiler:
"Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche."
Handke und Milošević
Einer der Kernpunkte der Kritik an Handke ist seine Teilnahme an der Trauerfeier für den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević im Jahr 2006. Als dieses "Monster" - der bosnisch-amerikanische Aleksandar Hemon im Oktober dieses Jahres in der New York Times unter der auf Handke gemünzten und zweifellos rockenden Headline "The Bob Dylan of Genocide Apologists" - beerdigt wurde, hielt der nunmehrige Nobelpreisträger dort auch eine Rede. In diesem Zusammenhang kritisiert John Erik Riley den Schriftsteller Karl Ove Knausgård, der in der eingangs erwähnten norwegischen Debatte als Handke-Verteidiger in Erscheinung trat:
"Although he does not explicitly endorse Handke’s statements, Knausgård claims that Handke is 'merely doing what an author should do, ask questions.' He thereby sidesteps an uncomfortable topic, which is how the context of words often alters their meaning. The funeral of a former autocrat, in a place brimming with nationalists — many of whom have likely committed war crimes — is just such a word-bending context, if ever there was one. In that volatile space, written and spoken language run the risk of being subordinated by the language of the body. Handke’s physical presence is of greater meaning than his rarefied thoughts and any insistence that he 'lacks answers‘. The image of his body onstage says: This man is deserving of my support."
Handke – ein (neuer) Rechter?
Dass sich aus Peter Handkes Journalismus-Verachtung eine rechte Haltung herauslesen lässt, hat im aktuellen Kontext Alida Bremer in einem Perlentaucher-Essay dargelegt. Zunächst geht es um das eben erwähnte Thema Višegrad:
"Wir wissen nur, dass bosnische Muslime aus Višegrad brutal vertrieben worden sind. Die Faktenlage dazu ist eindeutig. Das Problem ist, dass Peter Handke die Fakten nicht für aussagekräftig hält. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung antwortete er auf die Frage, was denn falsch sei an der Frage nach der Schuld: 'Das ist so schwierig, dem kann man nur durch die Fiktion gerecht werden, es geht nicht historisch oder journalistisch.' Man stelle sich vor, wir würden auch über den Zweiten Weltkrieg nur fabulieren und die Historiker nicht ernst nehmen."
Gemeint ist ein Interview, das 2010 erschienen ist. Darauf bezieht sich Bremer auch im Folgenden:
"Bei all den 'Experten', die über das zerfallene Jugoslawien reden, kann ich diese Wahrhaftigkeit nicht finden – schon im Wort 'Balkanexperte' rieche ich die Tendenz und Ideologie. Das Wort gehört zu meiner Schimpfwörterlitanei."
Bremer schreibt, Handke sei ein
"durch und durch rechter Denker (...), der an die Aufklärung nicht glaubt. Weil er ein Guru, ein Seher, ein Prophet sein möchte (...). Weil er die westliche Welt mit ihren komplizierten demokratischen, menschenrechtsorientierten, politisch korrekten Gesellschaften hasst. Weil er seine hartnäckige Abwertung von Journalisten mit der Betonung seiner heiligen Rolle als Sprachmagier untermalt. Dadurch etabliert er eine Hierarchie, in der es besondere Menschen gibt, die mehr sehen und mehr verstehen (nämlich ihn und alle, die ihm folgen)."
Peter Hintz greift Bremers Perlentaucher-Essay bei 54 Books auf – und geht dabei auf ein 1996 "auf der Höhe des Skandals um Handkes Jugoslawien-Reportagen" in der deutschen Zeitschrift Novo erschienenes und später von Suhrkamp wiederveröffentlichtes Interview ein:
"Ganz im Duktus der heutigen Lügenpresse-Rufer erzählt Handke darin dem Novo-Chefredakteur Thomas Deichmann (...), dass die 'Medien […] eine Art Viertes Reich bilden' würden, in dem 'im Vergleich zum Tausendjährigen Reich, das nur zwölf Jahre gedauert hat, überhaupt kein Ende abzusehen‘ sei."
Daran ließe sich mit Geschichte-der-Gegenwart-Autor Markus Wild anknüpfen, der meint:
"Handkes Rhetorik gleicht jener der Neuen Rechten (...). Wer (...) In-Frage-stellt oder Zweifel anbringt, fragt und zweifelt ja nur (Fragen und Zweifeln werden ja wohl noch erlaubt sein!), braucht dafür keine Gründe, muss dafür keine Verantwortung übernehmen."
Wild bezieht sich dabei auf Handkes "scheinberechtigte und scheinunschuldige Suggestivfragen", und diesem Aspekt widmet sich auch der ebenfalls bereits zitierte Literary-Hub-Autor John Erik Riley:
"There are many forms of genocide denial. The most obvious kind is overt and unambiguous ('These things didn’t happen.'). Alternatively, denial can be portrayed as an attempt at balancing the scales, thereby diminishing the severity of the worst crimes and their systematic nature ('Everyone was misbehaving. Mistakes were made on all sides.'). These rhetorical tactics, although common and influential, are easy to pick apart. The most complex forms of denial are far less blatant, however. On the surface, they do not resemble denial at all, but are more like a perpetuum mobile of incredulity, of doubt feeding on itself. The author may pose questions under the guise of being inquisitive, even when the questions have been answered and the answers are indisputable. Uncertainty and hesitation are transformed into semantic devices. ('I am merely asking questions! What do you have against questions?')
Mit dieser Das-wird-man-ja-wohl-noch-fragen-dürfen-Taktik habe er "in seinen Kriegspamphleten die Kniffe der Neuen Rechten antizipiert", meint Wild. Tendenziell eher rechts zu verorten ist ja auch Handkes "Whataboutism"-Strategie (siehe dazu etwa Anatol Stefanowitsch) bzw. sein "cocktail whataboutism which found all parts of former Yugoslavia equally responsible for its demise" (Aleksandar Hemon im oben zitierten "Dylan of Genocide Apologists"-Artikel).
Handke – ein Antifaschist?
Die Pro-Handke-Stimmen stammen teilweise von Autoren, die Bücher über Handke geschrieben haben. Einer davon: Leopold Federmair. Im österreichischen Nachrichtenmagazin Profil und für den in Düsseldorf ansässigen Blog Begleitschreiben, betont er unter der Überschrift "Peter Handkes Antifaschismus", worum es diesem "seit langem" gehe:
"Den Blick vom Kriegsgeschehen bzw. dem spätkapitalistischen Getöse abzuwenden und ihn dem friedlichen Treiben zu schenken. Dieses Kunststück mag nicht immer geglückt sein, aber auch von literarisch unbedarften Personen, zu denen die anläßlich der Literaturnobelpreisverleihung sich empörenden Politikjournalisten gehören, kann man verlangen, literaturspezifische Merkmale dieser Art wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Gewiss, die Friedensepik idealisiert; insofern läge sie in der von Alfred Nobel in seinem Testament gemeinten 'idealen Richtung', und Handke wäre ein 'würdige' Preisträger. Diese Epik ist aber nur das, was sie ist, und funktioniert auch nur dann, wenn sie die Kriegs- und Gewalterfahrungen nicht einfach ausblendet, sondern, sei es auch untergründig, präsent hält."
Was oben ja schon einmal anklang: Einige, die Handke verteidigen, unterstellen jenen, die ihn kritisieren, eine Leseinsuffizienz bei literarischen Werken. In diesem Fall trifft es also "literarisch unbedarfte" Politikjournalisten. In den "Reiseberichten aus der Zeit der Jugoslawienkriege", so Federmair weiter, finde man
"vorsichtige Annäherungen, Zweifel und Selbstzweifel, Hinterfragungen der oft ideologisch bedingten und in parolenhafte Sprache gegossenen Gewissheiten, wie sie ein Großteil der Massenmedien und heute vor allem die 'sozialen Medien' verbreiten."
Federmair gehört auch zu den Unterzeichnenden der sog. Handke-Erklärung, in der sich zahlreiche Prominente (überwiegend aus dem österreichischen Kulturbetrieb) zu Wort melden. Darin heißt es:
"Die Anti-Handke-Propaganda rechnet nicht nur mit Handke ab, sie rechnet mit jedem störenden Einfluss in öffentlichen Auseinandersetzungen von Autorenseite ab. Es wird ein Machtanspruch über jeglichen Versuch selbständiger Sichtweisen gestellt."
Hier wird noch mal ein großes, tendenziell verschwörungstheoretisches Fass aufgemacht: Dass es nicht nur um Handke geht, sondern auch um den politisch intervenierenden Schriftsteller im Allgemeinen.
Selbstreflexion und fehlende Selbstreflexion
Man kann Handke natürlich vorwerfen, er hätte jetzt eingestehen können, dass er in den 1990er Jahren das eine oder andere falsch gesehen hat. Andererseits: Wer hat sich denn sonst mit den eigenen Sichtweisen in Sachen Jugoslawien in den 1990er Jahren selbstkritisch beschäftigt? Allzu viele Beispiele scheint es mir nicht zu geben. Positiv wäre in diesem Zusammenhang die Zürcher Wochenzeitung (WOZ) zu nennen. Marcel Hänggi schreibt dort in einem 2006 erschienenen Artikel:
"Hatte die WOZ nun 'Recht' oder nicht? War sie 'serbenfreundlich'? Man muss sich nicht weit zum Fenster hinauslehnen, um festzustellen, dass zwar von allen Parteien Kriegsverbrechen begangen wurden, die grösste Schuld aber auf serbischer, die geringste auf muslimischer Seite lag und dass die WOZ dies nicht verhältnisgetreu abbildete (...). Durch ihre wiederholte Betonung der Kriegs(mit)schuld der sezessionistischen Republiken unterschlug die WOZ (...) die Tatsache, dass die Jugoslawische Volksarmee – oder Teile davon – den Krieg für den Fall des Auseinanderbrechens Jugoslawiens von langer Hand geplant hatten."
Was Hänggi über die WOZ sagt, lässt sich auf einen Teil der deutschen Linken bzw. ihre damals in den Medien repräsentierten Positionen sagen. Dreizehn Jahre später schreibt Doris Akrap in der taz einen zumindest entfernt verwandten Text. Hier geht es nicht um die einstige Position einer Zeitung, sondern um ihre eigene. Peter Handke sei "ein Kretin", schreibt sie – unter anderem, weil er "die Opfer des schwersten Verbrechens im postfaschistischen Europa verhöhnt" habe, sie betont aber auch, dass sie das nicht immer so gesehen habe:
"Ich bin in meinen Ansichten zum blutigen Zerfall Jugoslawiens gefühlt drei bis fünf Mal um den Block gelaufen. Und ich kann nicht ausschließen, dass ich vielleicht nochmal rum muss. Ich hatte nie auch nur die leisesten Sympathien für den restjugoslawischen hypernationalistischen Autokraten, den serbischen Staatschef Slobodan Milošević. Aber genauso wenig hatte ich die für sein kroatisches Pendant Franjo Tuđman."
Das sei in der deutschen Linken damals "keine exklusive Haltung" gewesen. Denn:
"Während der eine Teil im wiedervereinigten Deutschland den Sieg über den Kommunismus feierte, kämpften die Nichtsodeutschen und Linken mit dem gesamtdeutschen Nationalismus, Rassismus und neonazistischer Gewalt – Baseballschlägerjahre ist das aktuelle Stichwort dafür. Diese Gruppe sah im neuen Deutschland das alte. Und dazu passte auch das Verhalten der deutschen Regierung in den jugoslawischen Zerfallskriegen ab 1991."
Im günstigsten Fall lässt sich die Haltung dieser "Gruppe" – viele von deren Argumenten waren damals auch meine – als Der-Feind-meines-Feindes-ist-mein-Freund-Haltung interpretieren. Handkes Positionen kamen in den 1990er Jahren in solchen Kreisen recht gut an. Akrap weiter zum Hintergrund:
"Von Bild bis Joschka Fischer, deutsche Medien und Politiker sahen in Serbiens Präsident Hitlers Wiedergänger, im Kosovo ein neues Auschwitz und bombardierten zum dritten Mal in diesem Jahrhundert Belgrad (1999). Und das alles, nachdem man den Massakern im Bosnienkrieg (1991 bis 1995) quasi zugeguckt hatte und der deutsche Außenminister Kroatien im Alleingang als unabhängigen Staat anerkannt hatte (1991)."
Ein nicht geringes Problem der (übrig gebliebenen) Linken benannte im Mai dieses Jahres (also lange vor Ausbruch der aktuellen Handke-Debatte) der österreichische Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger in seinem Blog für den Standard: Einer "der härtesten Propagandisten eines pro-serbischen Kurses in der Linken im deutschsprachigen Raum" sei Jürgen Elsässer gewesen, also der heutige Rechtsextremist, "dessen Parteinahme für den serbischen Nationalismus eine der Kontinuitäten seines politischen Œuvre" sei. Die Jugoslawien-Texte Elsässers aus der Zeit als er noch ein Linker war bzw. als Linker missverstanden wurde, sollte man vielleicht noch einmal auf ihre Seriosität überprüfen. Falls es schon jemand getan haben sollte, ist es mir entgangen.
Ein paar Schlussworte
Eine Folgerung Doris Akraps aus der Auseinandersetzung mit den eben erwähnten Fragen lautet:
"Die Vehemenz, mit der Peter Handke heute weltweit für seine Haltung zu Serbien angegriffen wird, ist auch mit der Überforderung von damals zu erklären. Man holt nach, was ausgeblieben ist, als die Verbrechen geschahen."
Es soll aber nicht das einzige Schlusswort bleiben. Norbert Mappes-Niediek meint in einem Beitrag für die Deutsche Welle:
"Die Debatten der letzten Wochen handelten schon nicht mehr davon, was in Bosnien und im Kosovo wirklich geschehen ist, wie viele Menschen umkamen, wer Recht hatte und wer schuld war. Das Thema war das Recht des Dichters auf seine eigene Wahrheit."
Auf einen eher launigen Ausklang wollen wir angesichts all der Gedankenschwere aber auch nicht verzichten. Hierfür herangezogen sei der freie Journalist Mirko Wenig:
"Das Jahr 2019 wird in die Geschichte eingehen als 'das Jahr, in dem die deutschsprachige Literaturkritik plötzlich nur noch und ausschließlich über Peter #Handke schrieb'!"