Das Altpapier am 28. Mai 2019 AKK vs. GG
Hauptinhalt
Annegret Kramp-Karrenbauer will "sehr offensiv" über "Regeln" gegen "Meinungsmache" diskutieren. Wer ebenfalls gerade Angst hat: Journalisten. Ein Altpapier von René Martens.
Der erste Akt der Zerstörung der CDU dauerte etwas weniger als eine Stunde, und der zweite dauerte nur etwas mehr als eine Minute. Das ist das Fazit, den man nach einem Clip ziehen kann, der für die Nachwelt festgehalten hat, was die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer am Montag auf einer Pressekonferenz gesagt hat.
Auch auf die Gefahr, dass manche Altpapier-Leser*innen den Wortbeitrag Kramp-Karrenbauers bereits auswendig kennen, sei er hier kurz referiert: Als sie gehört habe, "dass sich eine ganze Reihe von YouTubern zusammengeschlossen haben, um einen Wahlaufruf gegen CDU und SPD zu starten", habe sie sich gefragt, "was wäre in diesem Land los gewesen, wenn eine Reihe von, sagen wir mal: 70 Zeitungsredaktionen" kurz vor der Wahl einen Aufruf gestartet hätten, nicht CDU und SPD zu wählen. "Das wäre klare Meinungsmache vor der Wahl gewesen, und ich glaube, es hätte eine muntere Diskussion in diesem Land ausgelöst."
Eine "muntere Diskussion" hat nun aber eher Kramp-Karrenbauer selbst ausgelöst. Denn: Dass Journalisten dazu aufrufen, Parteien nicht zu wählen - das ist Business as usual seit Jahrzehnten. Die Munterkeit der Diskussion wird noch danach gesteigert, dass Kramp-Karrenbauer darüber philosophierte, dass es im "analogen Bereich" sog. Regeln gegen derartige "Meinungsmache" gebe. Man müsse sich nun darüber "unterhalten", ob diese nicht auch für den "digitalen Bereich" gelten. Sie sei sich "ganz sicher", dass das, was sie da gerade gesagt habe, "in der gesamten medienpolitischen und auch demokratie-theoretischen Diskussion der nächsten Zeit eine Rolle spielen" werde. "Und deswegen werden wir diese Diskussion auch sehr offensiv angehen."
Zuerst hatte das Redaktionsnetzwerk Deutschland (der Link führt zum Potsdamer Outlet) gemeldet, dass Kramp-Karrenbauer die "Regulierung von Meinungsäußerungen erwägt". Das Verb "Regulieren" oder das Substantiv "Regulierung" verwendete die CDU-Vorsitzende zwar nicht, die Umschreibung war dennoch korrekt.
Die ins Spiel gebrachten "analogen Regeln" gegen "Meinungsmache" existieren bisher nur im Hirnstüberl Kramp-Karrenbauers. Stefan Kuzmany (Spiegel Online) erklärt ihr Artikel 5 des Grundgesetzes. Der garantiere "selbstverständlich" auch,
"dass sich zwei, drei, dreißig oder dreihundert Menschen in freier Entscheidung zusammentun und gemeinsam zum Beispiel feststellen, dass die Regierungspolitik der Koalition etwa beim Klimaschutz vollkommen unzureichend ist und die Regierungsparteien deshalb unwählbar sind. Ob es der CDU-Vorsitzenden nun passt oder nicht."
Er ordnet Kramp-Karrenbauers Äußerungen als "wirre Kontrollphantasien" ein.
"Das Grundgesetz gilt auch für Youtuber - selbst wenn sie die CDU attackieren",
betitelt die Frankfurter Rundschau einen Kommentar Viktor Funks zur Sache.
Eine ausführliche medienrechtliche Einschätzung findet sich in einem Twitter-Thread von Simon Assion, Mitbegründer der Plattform Telemedicus. Er schreibt unter anderem:
"Wenn Zeitungen sich in Deutschland zusammentun würden, um konzertiert eine Wahlempfehlung abzugeben, dann wäre das (…) vollkommen legal. Versuche der negativ betroffenen Parteien, eine solche Praxis 'offensiv anzugehen', wären demgegenüber offensichtlich verfassungswidrig."
Mit dem unter anderem durch seine Arbeit für den Journalisten Richard Gutjahr bekannt gewordenen Anwalt Markus Kompa äußert sich ein weiterer Medienrechtler, und zwar bei Telepolis:
"Wenn AKK YouTubern Boykott-Aufrufe gegen Parteien verbieten will, müsste sie ein solches Gesetz erst auf den Weg bringen (…) Eine solch unsportliche Gesetzesänderung wäre allerdings ein langer Ritt, weil Presse- und Medienrecht Ländersache ist und damit 16 Bundesländer überzeugt werden müssten.
Es spricht allerdings viel dafür, dass ein solches Gesetz verfassungswidrig wäre, da es in den Wesensgehalt des Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes eingreifen würde. Denn fundamentaler Sinn und Zweck des Artikel 5 Abs. 1 GG ist die Kritik an der Obrigkeit, wie sie den Deutschen in bitterster Zeit verwehrt war. Eine Entscheidungshilfe zur vornehmsten Bürgerpflicht, nämlich der Wahl oder Abwahl der Regierungsparteien, ist ausdrücklich erwünscht."
Kompas leicht pathetisches Fazit:
"Rezo hat dem Grundgesetz genau das Geschenk gemacht, das es vor 70 Jahren bestellt hat."
Dass Kramp-Karrenbauer hier "autoritäres Denken offenbart" (Kuzmany), ist inhaltlich nicht überraschend. Es war immer absehbar, dass die Debatte über Flucht und Migration und die damit verbundene Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts (an dem Kramp-Karrenbauer kräftig mitgewirkt hat, siehe hier, hier und hier) nicht zuletzt dazu dient, den Boden zu schaffen für die Beschneidung der Freiheitsrechte im Innern, dass sich also die salonfähig gewordene Härte nach außen irgendwann auch gegen missliebige Eingeborene richten würde. Dass Kramp-Karrenbauer ihre orbanistischen Neigungen so ungeschickt zu Markte trägt, verwundert allerdings etwas.
Falls, was theoretisch möglich wäre, Kramp-Karrenbauer einen Blackout hatte und sie sich beim Schlagwort-Bingo verplappert hat, hätte sie diesen Fehler natürlich zugeben können. Statt dessen schickte sie zwei Tweets ab, die alles noch schlimmer machten. In einem davon behauptete sie im ersten Satz, man unterstelle ihr Dinge, die sie nicht gesagt hat, um im zweiten Satz dann das zu sagen, was sie angeblich nicht gesagt hat. Das PR-Desaster komplettierte schließlich ein Bindestrich-Vergesser, der laut Twitter-Bio "digitalpolitischer Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion" ist (klingt ein bisschen wie Transgender-Referent des Vatikans). Der behauptete, Kramp-Karrenbauer habe sich "für eine Regulierung ausgesprochen, die wir offline selbstverständlich haben", obwohl "wir" diese siehe oben, selbstverständlich nicht haben.
Brauchen wir Fundamentalkritik?
Um ganz kurz einen Gang runterzuschalten, ordnen wir den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Altpapier gestern), der Annegret Kramp-Karrenbauer so zu schaffen macht, mal feuilletonistisch ein:
"Die Schirmherrschaft des Internets teilen sich ein paar wenige Unternehmen, auch der Staat ist nicht weit. Dennoch ist ein Kommunikationsraum entstanden, in dem junge Menschen sich massentauglich und unvermittelt zu Wort melden können, ohne den Umweg über eine Parteikarriere oder Redakteursstelle nehmen zu müssen und damit im Zweifelsfall sogar mehr Menschen erreichen, als auf dem traditionellen Weg",
schreiben Theresa Hein und Quentin Lichtblau in der SZ vom Montag (79 Cent bei Blendle).
Wobei uns von den Stichworten "Parteikarriere" und "Redakteursstelle" natürlich letzteres mehr interessiert. Beziehungsweise: Jene, die auf diesen Stellen sitzen, und sich nun, wie Hein/Lichtblau schreiben, "fragen", ob ihnen "YouTuber gerade den Rang ablaufen. Ein herkömmlicher Zeitungskommentar über die Klimapolitik der CDU hätte nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit bekommen".
Man könnte, etwas weniger feuilletonistisch formuliert, natürlich auch konstatieren, dass manche Journalisten, die bisher auf Politikberichterstattung im Politikberater- oder Dienstbotensound gesetzt haben, gerade Muffensausen haben, dass ihnen "YouTuber den Rang ablaufen". Dafür spricht jedenfalls die seit einigen Tagen zum Ausdruck kommende Gereiztheit: Rezo mache "Krawall", stehe für "Populismus" (Markus Decker, RND), ihm schwebe eine "Ökodiktatur" vor (Christian Lindner, pardon: Burmeister, ebenfalls RND). Auf den äußerst gereizten Jasper von Altenbockum (siehe Altpapier von Freitag) bezieht sich Hans Hoff in seiner am Montag an dieser Stelle schon zitierten DWDL-Kolumne, in der er unter anderem über "das Aufheulen jener" schreibt, "die sich immer noch als Gatekeeper gerieren":
"Das Aufheulen des FAZ-Leitartiklers spricht die Sprache des in der Seele verwundeten Machthabers, der sieht, wie ihm die Deutungshoheit aus den Händen gleitet. Die Wut, mit der er nun maximalempört austeilt, zeugt von einer Angst, die der in der CDU-Zentrale herrschenden mindestens ebenbürtig ist."
Ein FAA (Frankfurter Allgemeiner Autor), der anderer Meinung ist als JvA, nämlich Florentin Schumacher, fragt in einem FAS (€)-Artikel:
"Ist die Fundamentalkritik einer Regierungspartei nicht die Aufgabe von Journalisten, der Alles-Dreck-Ausbruch nicht genauso notwendig wie das Entweder-oder-Abwägen im Namen der Objektivität?"
Journalisten sind mithin gerade mit zwei Herausforderungen konfrontiert - sie müssen einerseits bereit sein für "Fundamentalkritik" (Schumacher), sich andererseits vom bisher praktizierten "Thesenjournalismus" verabschieden. Jedenfalls nach Meinung der am Montag hier zitierten Relotius-Abschlussberichterstatter des Spiegel.
"Die täglich konsumierten Mitteilungen in den sozialen Medien sind voll von Emotion, von Hass, Überschwang, Blödsinn, Vorurteilen, Behauptungen, Verschwörungstheorien. Wir können das nicht toppen. Wir müssen es unterbieten",
schreiben sie (siehe dazu auch einen taz-Artikel von mir). Eine Ent-Emotionalisierung des Journalismus täte demnach also gut. Man müsste, um ganz kurz noch ein anderes Fass aufzumachen, die Diskussionen, die der Abschlussbericht der Spiegel-Untersuchungskommission auslösen dürfte, aber auch koppeln an jene über die "Emotionalisierung" im Formatfernsehen.
Altpapierkorb (Der Begriff Populismus, Klimakatastrophe statt Klimawandel, Lokaljournalismus in Mainz, Pinneberg und Dresden, Juan Moreno, Til Schweiger, Fritz Bauer, Wladimir Putin)
+++ Wer das Stichwort Europa-Wahl hier bisher vermisst hat: Zur Einordnung der Berichterstattung dazu gibt es heute ein Extra-Altpapier von Nora Frerichmann.
+++ Thomas Hecken macht sich in der vierteljährlich erscheinenden Pop-Zeitschrift Gedanken über den Begriff "Populismus" bzw. dazu, was "mit dem Populismus-Begriff versucht" wird, und angesichts dessen, dass es Leute gibt, die Rezo des "Populismus" bezichtigen (siehe oben), ist das ja krass aktuell: "Eine (offene) Kritik an der Demokratie oder zumindest an den Verhältnissen, die eine liberal-marktwirtschaftliche Ordnung hervorgebracht hat, vermeidet man, indem man 'populistische' Tendenzen in den Mittelpunkt rückt. Vereinfachungen, populäre Forderungen, nicht diskursive Elemente, Schwarz-Weiß-Malerei, Personalisierungen etc. sollen den Anschein bekommen, sie gehörten nicht recht zur Demokratie, sondern seien mehr oder minder antidemokratisch oder zumindest der Demokratie abträglich, mit einem (ihrem) Wort: populistisch. Dieses Argument verfängt aber überhaupt nicht, falls nicht das ganze Spektrum der größeren Parteien in den europäischen und nordamerikanischen Ländern mit einbezogen wird – denn sie agieren nach Maßgabe dieser Bestimmung allesamt populistisch. Will man diesen Schluss vermeiden, bleibt von den genannten Merkmalen wenig übrig, sie taugen dann offenbar nicht, um einen Widerspruch von (herrschenden) demokratischen Verhältnissen und populistischer Vorgehensweise zu behaupten."
+++ Was Rezo mit Sicherheit begrüßen wird: Dass der Guardian künftig nicht mehr verharmlosend von "Klimawandel" reden und statt dessen den präziseren Begriff "Klimakatastrophe" verwenden will. Stefan Fries greift das auf.
+++ Christoph Sterz stellt bei @mediasres unter anderem den Merkurist (Altpapier, Altpapier) vor. Hier können Leser auf unterschiedliche Weise direkten Einfluss auf den Inhalt nehmen - unter anderem deshalb kommt das Lokaljournalismus-Portal "alleine in Mainz auf circa 30.000 Seitenaufrufe pro Tag".
+++ Die Dresdner Neuesten Nachrichten lassen Werner Patzelt, "den Autoren des CDU-Wahlprogramms in Sachsen, als vermeintlich unabhängigen 'Politikwissenschaftler' die Ergebnisse anderer Parteien bewerten" und machen das "nicht einmal kenntlich", kritisiert Bento-Redakteur Jan Petter bei Twitter. Was Patzelt sagt (oder gesagt haben soll), ist natürlich erste Krawallmacher-Sahne. Textauszug: "Für die Landtagswahl am 1. September könne es nur dann Rückenwind für die sächsische CDU geben, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel zurücktrete. 'Ihre Existenz nährt die AfD. Die Wähler bestrafen die etablierte Politik, und Frau Merkel ist das Gesicht der etablierten Politik. Das ist erstmals auch auf kommunaler Ebene deutlich', so Patzelt." Falls das wörtlich gemeint ist, heißt das: Merkel muss sterben, damit die CDU in Sachsen ein paar Stimmen mehr bekommt.
+++ Die Stadt Pinneberg hat Strafanzeigen gegen einen oder mehrere Whistleblower gestellt, der/die dem Pinneberger Tageblatt Informationen aus vertraulichen Sitzungen hat/haben zukommen lassen. Die Zeitung berichtet darüber in auch eigener Sache.
+++ Mehr in Sachen Whistleblower: Juan Moreno bekommt in zweieinhalb Wochen den Leuchtturm-Preis des Netzwerks Recherche.
+++ Ein Träumchen: Til Schweiger, der große Intellektuelle unter den Schauspielern dieses Planeten, findet den Verschwörungstheoriker Daniele Ganser schnafte. Die Information verdanken wir Boris Rosenkranz (Übermedien).
+++ Die FAZ (€) würdigt den afghanischen TV-Sender Tolo News: "Neun Mitarbeiter wurden binnen zwei Jahren getötet. Doch die Journalisten weichen der Gewalt nicht."
+++ "Nicht weniger als drei" Spielfilme gab es in der jüngeren Vergangenheit über den Nazijäger Fritz Bauer, und nun rollt eine nach Ansicht von Manfred Riepe (Tagesspiegel) empfehlenswerte Arte-Dokumentation "die Geschichte des jüdischen Staatsanwalts neu auf".
+++ "Das Privatleben des Präsidenten, überhaupt jeder Blick hinein in die Kulissen seiner Macht, wird heute von der Öffentlichkeit ferngehalten. Vor 19 Jahren, ließ er viel mehr Nähe zu. Der russische Filmemacher Vitali Manski drehte damals einen Putin-Imagefilm fürs Fernsehen. 18 Jahre später, mittlerweile im Exil, sichtet er das verworfene Material." Das Ergebnis ist "Putins Zeugen", zu sehen am Mittwoch bei Arte. Die SZ empfiehlt den Film.
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.