Das Altpapier am 22. Mai 2019 Wiener Schnitzeljagd
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Jan Böhmermann macht Andeutungen zur Ibiza-Affäre. Die Frage, wer das Strache-Video gemacht hat, im Kontext der Medien- und Leakinggesellschaft. Das vorläufige Ende des ORF-Gesetzes. Und die Frage, ob Journalismus in YouTube wächst oder doch eher YouTube-Marotten in den Journalismus. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Am heutigen Mittwoch um 20.15 Uhr endet der Countdown auf der Site dotheyknowitseurope.eu, auf die der des Strache-Sturzes verdächtigte Jan Böhmermann am Montag per Tweet hingewiesen hat. Hinter der Oberfläche der Seite wurden ein paar kleine Hinweise ausgelegt, das Wort "Ibiza" etwa. Ein "kleines Special" habe man für diese Woche vorbereitet, schrieb er zudem noch. Dieser ausgebuffte Hund.
Aber das Beste ist die Uhrzeit. 20.15 Uhr, ausgerechnet. Das ist seit dem 26. Dezember 1952, als um diese Uhrzeit die erste "Tagesschau" endete, die Fernsehuhrzeit. 8 Uhr ist Schule, 15.30 Uhr ist Bundesliga, 20.15 Uhr ist Fernsehen. Aber um die Zeit hat Böhmermann heute gar keine Show, sein "Neo Magazin Royale" ist erst morgen. Könnte er also anderswo als beim ZDF…, hat er, Moment mal…, hm?
Mittlerweile ausgegraben wurde zudem noch Böhmermanns Bewerbungsrede für den österreichischen Fernsehpreis "Romy", die er im März 2018 vor einer lettischen Fahne gehalten hat, die der österreichischen stark ähnelt. Lettisch, wie angeblich die angebliche Nichte des russischen Oligarchen auf Ibiza.
Böhmermann spielt mal wieder Schnitzeljagd. Journalisten, zumindest solche, die auch Schnell-schnell-Reichweitendinge tun müssen, sind gut beschäftigt damit, die Hinweise zu ordnen, man will ja schließlich nicht auf einen ausgestreckten Mittelfinger reinfallen. Redaktionen tauchen in Quellcodes ein und identifizieren Witze als solche ("Nach Einschätzung der BR24-Redaktion handelt es sich hier nicht um ein versehentliches Überbleibsel aus der Programmierung der Seite, sondern um ein bewusst hinterlegtes 'Easter Egg'"). Die Pressestelle des ZDF wurde auch beschäftigt, in dem Fall interessanterweise damit, Böhmermanns Quoten-Aufbauprogramm wieder wegzuspoilern und Hinweise, die seine Redaktion ausgelegt hatte, lieber mal wieder einzusammeln ("Das Special … hat nichts mit Herrn Strache zu tun").
Und am Ende treten dann am Donnerstag bei Böhmermann womöglich einfach nur die Vengaboys auf…
Sie sehen schon, whoah!, we’re immer noch going to Ibiza hier. Aber es gibt auch immer noch eine Menge Medienaspekte rund um "Kurz-Schluss", "Strachevideo" oder unter welchem Schlagwort Sie das Thema halt auch immer abgespeichert haben; auch heute gibt es noch kein einheitliches. Böhmermanns Verwirrungsprogramm, das ihm erstmal einer nachmachen muss, ist nur das eine. Vor allem wird immer noch ein wenig gerungen um die Frage, ob die Veröffentlichung in Ordnung war. Der Spiegel begründet sie, wie es die SZ auch getan hat, in einem Online-Beitrag nun, genau wie den Veröffentlichungszeitpunkt. Am Montag hatte @mediasres vom Deutschlandfunk die ganze Sendung mit auftauchenden Medienaspekten (Altpapier vom Dienstag) gefüllt. Darin beharrte der Stuttgarter Landesdatenschutzbeauftragte Stefan Brink darauf, datenschutzrechtlich sei die Veröffentlichung problematisch: "Zwar sei das Gesamtmaterial vor der Veröffentlichung journalistisch bearbeitet und begrenzt worden, eine Beschränkung auf einen Wortbeitrag ohne unmittelbare Veröffentlichung des Videomaterials hätte er allerdings begrüßt".
Im Verfassungsblog gibt es nun zum Thema einen Beitrag, der auf eine Befürchtung eingeht, "die seit Inkrafttreten der DSGVO im Mai 2016 im Raum steht: Das Datenschutzrecht könnte sich hemmend auf die Ausübung der Meinungsfreiheit auswirken. Dass diese Sorge keineswegs unbegründet ist, zeigt ein Fall aus Rumänien." SZ und Spiegel hätten nichts zu befürchten, heißt es, es gebe aber "eine böse Schutzlücke für andere Arten des Journalismus".
Die Frage nach der Quelle
Die spannendste Frage rund um das Strache-Video – tatsächlich beinahe im Sinn von Krimi – ist nach wie vor die nach der Quelle der Aufnahmen. Warum diese keinesfalls erstrangige Frage nach ihr in Medien- und Leakinggesellschaften trotzdem nicht vernachlässigt werden kann, hat Wolfgang Michal in seinem Blog geschrieben:
"Behalten Spiegel und SZ ihr Wissen über 'die Quelle' für sich, handeln sie als Journalisten richtig und als Mitarbeiter eines kommerziellen Medienunternehmens ökonomisch sinnvoll. Ihr Verhalten könnte der FPÖ aber letztlich nützen. So lange die Urheber und die Auftraggeber 'im Dunkeln' bleiben, hat die FPÖ gut munkeln. Sie kann die Opfer- und Verschwörungskarte spielen und das Ganze als 'politisches Attentat', als 'perfide Geheimdienst-Falle', als 'Dolchstoß' oder als was auch immer im kommenden Wahlkampf verkaufen. Die Journalistin Barbara Tóth von der Wiener Wochenzeitung Falter meint: 'Die Erzählung von der Verschwörung – möglicherweise mit Hilfe internationaler Geheimdienste – verfängt in Österreich bereits massiv'. Um das dunkle Geraune, das den Inhalt des Videos bereits zu überdecken droht, zu verhindern, ist es in Medien- und Leaking-Gesellschaften wie unseren notwendig, die Bürger wissen zu lassen, wer was in welcher Form und wann mit welcher Absicht an die Öffentlichkeit lanciert."
Die österreichische Presse ist da übrigens bei ihrer Wiener Schnitzeljagd womöglich mittlerweile auf einer Spur…
Warum Jan Böhmermann oder etwa das Zentrum für Politische Schönheit, dessen Name auch vielfach gefallen ist, wohl kaum hinter dem Video stecken können, begründet Michal übrigens auch:
"Böhmermann und das ZPS mögen als Adressaten des Strache-Videos eine Rolle gespielt haben, als Urheber scheiden sie aus. Ihr Engagement gegen Rechts hätte es ihnen verboten, das Video so lange zurückzuhalten. Wären sie die Fallensteller für Strache gewesen, hätten sie das Ergebnis umgehend veröffentlicht oder so rasch wie möglich an Investigativjournalisten weitergereicht, um eine Regierungsbeteiligung der FPÖ im Herbst 2017 zu verhindern. Andernfalls würde man ihnen heute vorwerfen, sie hätten die Regierungsbeteiligung der FPÖ 2017 verhindern können und diese einmalige Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen. Damit wären sie bei ihren Anhängern als Zyniker entlarvt und moralisch unten durch."
Und noch eine Sache im großen Österreich-Komplex gibt es: Wenn die Regierung nicht mehr regiert, was heißt das eigentlich für die österreichische Medienpolitik? Die Wiener Zeitung schreibt,
"das Scheitern der Zusammenarbeit von ÖVP und FPÖ bedeutet (zumindest vorerst) auch das Aus für die Unsicherheit eines neuen ORF-Gesetzes, das bereits für Herbst geplant war. In der Tat war die Fallhöhe in der Medienpolitik gerade für den ORF eine beträchtliche. Immerhin wollte die FPÖ von ihrem Vorhaben, dem ORF die Rundfunk-Gebühren zu entziehen, nur ungern ablassen."
YouTube goes… Journalismus?
Man soll sich nicht nur um Dinge kümmern, die bei Twitter laufen, man soll sich nicht nur um Dinge kümmern, die bei Twitter laufen. Man soll sich nicht… Aber ein aspektreiches Was-mit-Medien-Thema des gestrigen Tages kann man nicht einfach übersehen, nur weil es dort präsent war.
Ein bekannter Youtuber, Rezo – "Markenzeichen blauer Haarschopf, Hauptbetätigung Musik- und Comedy-Videos" (faz.net) –, hat mit einem Video bislang drei Millionen Aufrufe erreicht, was nicht der Rede wert wäre, wenn er darin über Comedy spräche oder Games zocken würde; es geht aber um "Die Zerstörung der CDU", und da setzt dann wohl so eine Art Markus-Lanz-Petitions-Effekt ein: bekanntes Sujet, Rant-Form, große Anteilnahme = Thema, auch für Redaktionen. Eine Petition für die Ausstrahlung auf ARD und ZDF gibt es tatsächlich auch schon.
Das Video ist ein 55-minütiger, empörter Meinungsbeitrag über Klimapolitik, Sozialpolitik, Netzpolitik, Drogenpolitik oder Bündnispolitik, eine Art Wahlkampf gegen die CDU. Das Interessante daran ist, dass es kein Journalismus ist und auch kein halbjournalistisches Kabarett, aber auch – selbst wenn es nicht das erste seiner Art ist – Kriterien fehlen, um es einzuordnen; es herrscht eine gewisse Ratlosigkeit im Umgang mit dem Medium, der Form – "einer Mischung aus Analyse und Polemik, unterlegt durch Dutzende von Tabellen, Zahlensammlungen und Zitaten" (spiegel.de) – und dem mutmaßlich jungen Publikum.
Aus den Büros der CDU hat man bislang etwa die These vernommen, was Rezo betreibe, sei "faktisch Meinungsdiktatur", weil er seine Meinung als die einzig wahre darstelle und "suggeriert, dass 'zigtausende' Experten seiner Meinung wären". Erschrocken ist man da womöglich vor allem über die Reichweite, die ein junger Typ, den man nicht zum Hintergrundgespräch treffen kann und der von sich sagt, er informiere sich im Alltag "kaum" über Politik, "weil ich viel arbeite und nur selten Freizeit habe", plötzlich mitredet und ihm auch noch zugehört zu werden scheint.
faz.net schreibt in einem guten Text, auf den langen Rant ließe sich – "zustimmend, ergänzend und im Widerspruch – einiges über demokratische Prozesse antworten (…), über politischen Interessenabgleich, verschiedene Spielarten der Einflussnahme, außenpolitische Verpflichtungen und persönliche Aussetzer von Politikern". Ist aber insgesamt ganz wohlwollend. Die Hannoversche Allgemeine betreibt derweil einen einigermaßen ausführlichen Faktencheck und kommt zur Erkenntnis, dass der YouTuber, tatsächlich, zuspitze.
Wächst da eine Form von Journalismus auf YouTube oder wächst YouTube in den Journalismus? Vielleicht wird wirklich mal mehr weniger zufälliger Medienjournalismus über die Inhalte der Plattform gebraucht. Man hört ja, da werde so manches sehr stark rezipiert, was die Thematisierungsschwelle der Redaktionen nie überschreitet.
Altpapierkorb (NewsGuard, AfD-Medienkonferenz, Hintergrundgespräche, SWR-Intendanz, Grundgesetz als Hörspiel)
+++ Der Tagesspiegel schreibt über eine Art Siegel für Journalismus, das nun auch nach Deutschland kommt: "NewsGuard, 2018 gegründet (…), analysiert und bewertet Nachrichtenseiten, bislang sind rund 4500 in den USA und in Großbritannien geprüft worden. (…) Die Prüfung erfolgt laut Pressekonferenz am Dienstag in Berlin nach folgendem Prinzip: Ausgebildete Journalisten (…) messen die Qualität der Nachrichten- und Infoseiten nach neun Kriterien für Glaubwürdigkeit und Transparenz."
+++ Correctiv war dabei und berichtet über die "Erste Konferenz der freien Medien", also der sogenannten: "Wie die AfD rechte Blogger und Identitäre in den Bundestag einlud".
+++ Der Tagesspiegel berichtet in, auch, eigener Sache über die Hintergrundgesprächspraxis (siehe zur Vorgeschichte auch etwa dieses Altpapier): "Das Kanzleramt sieht durch ein Urteil zur Teil-Transparenz bei geheimen Presserunden seine Arbeitsfähigkeit gefährdet."
+++ Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann wird in der FAZ zur SWR-Intendantenwahl zitiert: "Dass Führungspositionen bei gleicher Qualifikation stärker mit Frauen besetzt werden sollen, ist allgemein Konsens." Heute sprechen Stefanie Schneider und Kai Gniffke, die beiden Bewerber für die SWR-Intendanz, vor den "Freundeskreisen" des Senders (FAZ).
+++ FAZ und SZ besprechen die Hörspielreihe des WDR zum Grundgesetz ("Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz").
+++ Dokumentarfilmerin Annette Baumeister spricht im Medienkorrespondenz-Interview über die Programmierungspraxis der ARD: "Allein die wöchentlichen Talkformate, Fernsehserien und Krimis belegen einen Großteil der attraktiven Sendeplätze. Sie sind Quotengaranten. Einzelne Dokumentationen oder Dokumentarfilme haben vor 22.45 Uhr im Ersten kaum eine Chance."
+++ Bei der Zeit gibt es im Nachgang zum Relotius-Fall nun Regeln für Autoren, die Reportagen schreiben (Glashausblog).
+++ Ein Interview mit Emmanuel Macron erscheint in Frankreich in zwei Zeitungen nicht, weil seine Mitarbeiter es vor Druck wohl noch einmal autorisieren wollten (Le Monde).
Neues Altpapier gibt es am Donnerstag.