Das Altpapier am 10. Januar 2019 "Passwort" ist kein Passwort
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Gegen Cyberkriminalität kann mehr getan werden als das Beschuldigen der Opfer. Deutsche Faktenprüfer müssen anglophiler werden. Der Stern feiert sich selbst für die Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher (bzw. die Aufarbeitung des Falls). Das deutsche Fernsehen braucht mehr Panzerfahrer. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.
Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V., kurz Bitkom, hat sich die große Datenhavarie von 2018/19 sicher nicht gewünscht, die auch uns seit mehreren Tagen beschäftigt. Aber sagen wir so: Es gibt schlechtere Timings, als ausgerechnet jetzt "1.010 Internetnutzer ab 16 Jahren telefonisch befragt" zu haben, ob sie im vergangenen Jahr Opfer von Cyberkriminalität geworden seien.
Das bejahten 50 Prozent, was als "Jeder zweite Internetnutzer von Cyberkriminalität betroffen" ordentlich knallt, wie Bitkom in der dazugehörigen Pressemitteilung selbst titelt, was Medien von Handelsblatt bis tagesschau.de gerne übernehmen, aber etwas an Luft verliert, wenn man sich die genauen Ergebnisse anschaut (Quelle: Pressemitteilung):
"Am häufigsten klagen Onliner über die illegale Verwendung ihrer persönlichen Daten oder die Weitergabe ihrer Daten an Dritte. Fast jeder Vierte (23 Prozent) war davon betroffen. (…) So wurden im vergangenen Jahr 12 Prozent der Internetnutzer nach eigenen Angaben beim privaten Einkauf oder Verkaufsgeschäften betrogen. Jeder Neunte (11 Prozent) gibt an, dass seine Kontodaten missbraucht wurden. Nur 2 Prozent berichten jeweils von Datenklau und Identitätsdiebstahl außerhalb des Internets, den Missbrauch von Kontodaten gibt dort 1 Prozent an."
Indem ich aller DSGVO zum Trotz immer wieder Rundmails vom örtlichen Pferdehof über seine Grillfestpläne erhalte, um die ich nie gebeten habe (ausnahmsweise kein Witz), gehöre ich also nach Bitkomscher Lesart auch zu Cyberkriminalitäts-Opfern, was in in der Sache nicht falsch ist, ich in der Wortwahl aber etwas übertrieben finde. Aber sei’s drum, wenn es dabei hilft, für Datensicherheit zu sensibilisieren, was offensichtlich dringend nötig ist.
Und nun? Ermitteln deutsche Behörden im großen Datenleck-Fall zur Frage, welche Sicherheitslücken der 20-jährige Verdächtige mit zu viel Tagesfreizeit, wohnhaft bei Mutti, wohl gefunden und genutzt hat (Meldung im Standard aus Österreich), während die deutsche Justizministerin Katarina Barley im ARD-Morgenmagazin gestern eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene ankündigte, etwa in Form einer Telefon-Hotline beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Was alles schön ist, aber das Problem nicht löst, dass viele Menschen, mich sicher inklusive, jeden Abend ihre Haustür doppelt abschließen und alle Rolläden herunterlassen, aber zu wenig verschlüsseln und für sich behalten, wenn sie im Internet unterwegs sind.
An Tipps, was helfen könnte, mangelt es derzeit nicht. Allerdings hat Sascha Lobo in seiner Spiegel-Online-Kolumne daran zu Kritisierendes identifiziert (Links im Original):
"Die Nerds sagten, man müsse unbedingt nerdiger werden.
Die Datenschützer sagten, man müsse den Datenschutz noch viel ernster nehmen.
Die Facebook-Hasser sagten, man müsse sein Facebook-Konto löschen",
schreibt er unter der Überschrift "Die Lösung bin ich!"
"Es sind nicht alle Empfehlungen falsch, nur weil sie von Leuten kommen, die sich selbst beschreiben. Es gehört ja oft zum Wesen des Experten, sich an die eigenen Regeln zu halten. Aber die Allgegenwart der Selbstempfehlung lässt auch einen anderen Schluss zu: mangelnde Abstraktion von der eigenen Position. Die fehlende Einsicht, dass es sehr andere Menschen mit sehr anderen Prioritäten gibt. Das werte ich als Zeichen einer noch unreifen Debatte und allseits großer Hilflosigkeit den neuen Realitäten der Vernetzung gegenüber."
Zudem ärgert Lobo, dass mit dieser Argumentation Victim Blaiming betrieben werde. Selbst schuld, wenn Du als Passwort den gleiche Code wählst wie Emily Gilmore für ihren Panic-Room, sagen die Experten für Zwei-Faktor-Authentifizierung und Facebook-Abstinenz, und natürlich sollte sich jeder um Sicherheit im Netz ebenso sorgen wie um seine Handtasche im Urlaub oder seinen Wagen auf dem Lidl-Parkplatz. Aber das Drücken des Abschließzeichens auf dem Autoschlüssel ist halt etwas einfacher als das Behalten von 35 zehnstelligen Passwörtern mit Sonderzeichen.
Ich würde sagen, wir befinden uns da gerade im langsamen Prozess der Sensibilisierung, Zeitpunkt "Zigaretten sind schlecht für die Gesundheit? Ich weiß ja nicht… oh, der arme Marlboro-Mann!". Nun sollte die Politik Warnzeichen auf den Zigaretten-Packungen einführen, um im Bild zu bleiben - denn so einfache Hilfestellungen fehlen derzeit noch, wie Markus Böhm bei Spiegel Online schreibt:
"Ob Betroffene des aktuellen Daten-Leaks 'passwort' als Passwort nutzten, ist unbekannt. Klar ist aber, dass sich ständig viele Nutzer auf diese Art angreifbar machen - das zeigen Auswertungen zu den beliebtesten Passwörtern Deutschlands. 2018 lagen laut einer davon '123456', '12345' und '123456789' vorn - vor 'ficken' auf Platz vier, 'hallo' auf Platz sieben und 'passwort' auf Platz neun.
Einige Dienste verhindern von vorneherein, dass solche Passwörter gewählt werden können - Googlemail und Mailbox.org zum Beispiel. Bei den zwei angeblich beliebtesten E-Mail-Anbietern Deutschlands, GMX und Web.de, jedoch kommt man mit mancher dummen Eingabe durch: 'passwort' wird in einem Test am Mittwoch jeweils angenommen, genau wie '12345678'. Bei beiden Anbietern braucht man mindestens acht Zeichen als Passwort, eine weitere Bedingung gibt es nicht."
Das wäre doch mal ein Anfang, von dem es laut Jörg Schieb im WDR-Blog Digitalistan wie folgt weitergehen könnte:
"Aber auch die Politik trägt Schuld. Anstatt nun ein Cyberabwehrzentrum Plus Deluxe mit Sternchen (und Wochenenddienst) einzuführen, wäre es doch eher angeraten, die Zwei-Faktor-Authentifizierung bei sicherheitsrelevanten Logins (wie beim E-Mail-Postfach) gesetzlich zum Mindeststandard zu erklären. Gefällt nicht allen? Egal! Wir müssen uns im Auto doch auch anschnallen."
Erst kommt die neue Technik, dann folgen die Sicherheitsstandards. Im Internet wären wir dann auch soweit.
Relotius-Lehren, Teil 34234: Mehr und weniger Teamwork
Auch heute spielen wir wieder die Klassiker, und damit herzlich willkommen zu einer neuen Folge "Lehren aus dem Fall Claas Relotius".
Bei Horizont argumentiert Uwe Vorkötter, dass nicht alle bisher gezogenen die richtigen seien:
"(E)in Text ist nicht deswegen schlecht, weil er gut geschrieben ist. Relotius hatte kein Problem mit der Ästhetik, sondern mit der Wahrheit.(…) Der Journalismus, der das Leben aus der Nähe beschreibt, urteilsfähig, aber ohne Vorurteil, ist wichtig. Er kommt als Sozialreportage daher, als Kriegsreportage, als Reisereportage, leicht oder schwer, kurz oder lang. Er muss analysieren, darf unterhalten oder kann schockieren. Eins darf er allerdings nicht sein: Literatur."
Wenn ich an dieser Stelle etwas hinzufügen darf: Es wäre schon viel geholfen, wenn die Journalisten bei den in ihren Reportagen reportagig beschriebenen Vorgängen persönlich anwesend gewesen wären. Das fiel mir noch auf, als ich den Text von Boris Rosenkranz bei Übermedien las über die Legende des Jungen, der durch ein Assad-kritisches Graffiti den Krieg in Syrien ausgelöst haben soll. In diesen wimmelt es nur so vor detailreichen Beschreibungen über Ereignisse, die das überzitierte Kino im Kopf anschmeißen, aber die die Journalisten sich alle haben nur erzählen lassen.
Für "Zapp" haben sich derweil Daniel Bouhs & Andrej Reisin die sagenumwobene Dokumentation des Nachrichten- und Märchenmagazins Der Spiegel vorgeknöpft. Diese muss sich einige Fragen gefallen lassen, nachdem ihr etwa entgangen ist, dass man die wahre Anmutung des Ortseingangsschildes von Fergus Falls bei Google Streetview hätte nachprüfen können.
Nun sollen Dokumentare und Reporter rotieren, damit zwischen beiden keine zu große Vertrautheit aufkommen könne, sondern ein "positives Misstrauen" erhalten bleibe, wie der designierte Chefredakteur Steffen Klusmann im NDR erklärt.
Im Umkehrschluss legt das nahe, dass zumindest ein Dok-Mitarbeiter mit Relotius im gleichen Boot saß - ob wissentlich oder durch Schlampigkeit und akute Jobbocklosigkeit motiviert, werden wir hoffentlich im Zuge der großen Aufklärungskampagne erfahren, die der Spiegel uns versprochen hat.
Weitere Pläne des Magazins laut Zapp:
"Mit Reportern sollen zwingend auch Fotografen ausrücken, damit Vor-Ort-Recherchen und Treffen mit Protagonisten dokumentiert werden. Auch ein ausgiebiger 'Selfiejournalismus' ist im Gespräch, also Reporter, die ihre eigenen Bewegungen dokumentieren."
Man lässt sich also von Praktiken im angelsächsischen Fact-Checking-Prozess inspirieren, wenn ich mir diesen zwischenjährlichen Blogpost von Eva Wolfangel zu ihren Erfahrungen mit eben diesem in Erinnerung rufe.
Richtig so. Gerne auch bei anderen Medien einführen - die dazu nötigen zeitlichen, personellen und ökonomischen Ressourcen gleich mit.
Der Stern feiert sich für die Hitler-Tagebücher (oder so ähnlich)
Dass deren aktuell immer akuter werdender Mangel nicht die einzige Erklärung für Märchenjournalismus ist, bewies - Achtung, Überleitung! - 1983 das Magazin Stern mit der Veröffentlichung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher. Damals hatten Medien durchaus noch Zeit und Kohle und fielen dennoch auf Konrad Kujaus Fälschung rein.
Ab heute bietet der Stern die Geschichte als zehnteiligen Podcast an. Jeden Donnerstag kommt eine neue Folge. Der Plan zur Aufarbeitung ist schon älter und wurde noch unter Chefredakteur Christian Krug angestoßen.
"Damals konnten wir nicht wissen, dass zu unserem Start ein neuer Betrugsfall in den Medien aufgedeckt würde. Umso wichtiger erscheinen uns heute die erneute Aufarbeitung und die Erinnerung an diesen Fall von vor mehr als 35 Jahren - in Zeiten, in denen 'Fake News' eines der am heißesten diskutierten Themen ist, auch über die Medienbranche hinaus",
lässt sich die aktuelle Chefin Anna-Beeke Gretemeier in der Pressemitteilung von Gruner + Jahr zitieren, und ich frage mich ernsthaft, ob sie sich gut überlegt hat, Fälschungen von Journalisten und Fake News in einen Topf zu werfen? Denn was wäre die Lehre? Traue niemandem, erst recht keinem journalistischen Magazin?
Ein wenig befremdet vom Sound aus dem Hause G+J in Zusammenhang mit dem Podcast zeigt sich auch Kurt Sagatz im Tagesspiegel:
"Die gebotene Distanz zum 'größten Flop der Pressegeschichte', wie ihn 'Stern'-Gründer Henri Nannen selbst nannte, ist zwar durchaus vorhanden. Die reichlich eingestreuten Superlative über 'exklusive Gespräche', in die reingehört werden kann, und 'einmalige Dokumente der Zeitgeschichte' nehmen sich dennoch merkwürdig aus, wenn sie der 'Stern' selbst in diesem Zusammenhang verwendet."
Selbstkritik und -erkenntnis sind in unserer Branche offensichtlich dringend nötig. Selbstbeweihräucherung eher nicht.
Altpapierkorb (Talkshowkönig, medialeskaliertes Amberg, 30 Jahre "Logo", Genies in Panzern)
+++ Ihre Recherchen zu den Paradise Papers führten die türkische Journalistin Pelin Ünker zu den Söhnen des Parlamentschefs Binali Yildirim und ihren maltesischen Firmen. Nun wurde sie in Istanbul wegen Beleidigung eines hochrangigen Politikers zu rund einem Jahr Haft verurteilt. Sie hat angekündigt, dagegen in Berufung zu gehen (faz.net, sueddeutsche.de).
+++ Robert Habeck braucht kein Twitter, er war 2018 schließlich Talkshowbesuchs-König, hat die Frankfurter Rundschau nachgezählt.
+++ "Von Amberg aus wurde eine Nachricht ins ganze Land getragen, von der schon viele Leute vor Ort denken, dass der Vorfall nicht allzu beachtenswert sei." Ralf Hutter bei Übermedien über die zwischen den Jahren national eskalierte Meldung von jugendlichen Flüchtlingen, die betrunken Passanten geschlagen haben sollen. Auf der Medienseite der SZ stellt Aurelie von Blazekovic eine Studie der Uni Mainz zur medialen Berichterstattung während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 vor, die festgestellt hat, dass diese "in ihrer Haltung nur bedingt ausgewogen, aber faktisch überwiegend richtig" gewesen sei.
+++ Die Kindernachrichtensendung "Logo" ist gestern 30 Jahre alt geworden. Bei DWDL schreibt Timo Niemeier, welche frühen "Logo"-Elemente heute "Tagesschau"-Standard sind.
+++ Spätestens nach Klaus Raabs Jahresrückblick zum Thema haben Sie das Problem der Schleichwerbung unter Instainfluencern natürlich auf dem Zettel. Gestern gab es einen Teilerfolg für Team Werbefreiheit vor dem Berliner Kammergericht, meldet Horizont.
+++ Erfolgsrezept für gutes Fernsehen gefällig? "Es muss ein Genie kommen, das mit dem Panzer durch die Etage fährt und sagt, wir machen das so und 'lead, follow or get out of my way'". Meint zumindest Harald Schmidt im Interview mit "@mediasres" im Deutschlandfunk. Den Anlass dafür bietet die SWR-Serie "Labaule & Erben" (Altpapier gestern).
+++ Die Handball-WM kehrt zurück zu ARD und ZDF, thematisiert Kurt Sagatz im Tagesspiegel.
+++ Die italienische Mafia-Serie "Ein Wunder", die heute auf Arte startet, rezensiert Ursula Scheer auf der Medienseite der FAZ (€): "Nach den ersten Folgen der von Sky, Arte und Wildside produzierten Serie könnte man tatsächlich denken, sie legte nichts weiter als Klischees um ihren ungewöhnlichen Kern: Frauen sind entweder Huren oder seltsame Heilige; die katholische Sexualmoral hat jeden erotisch pervertiert; in Rom geht es zu wie in Sodom und Gomorrha, aber die Oberfläche glänzt und man macht bella figura. Doch je länger das Wunder andauert, desto verblüffender entwickeln sich die Charaktere, desto unvorhersehbarer kreuzen sich ihre Wege."
Neues Altpapier gibt es morgen wieder.