Das Altpapier am 24. Juli 2018 Deutsche Härte
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Wenn hiesige Boulevardjournalisten Özil "als Schwächling beschimpfen und ihn einen Jammerlappen nennen", sollte man auch im Blick haben, dass hier "weiße Heteromänner ihre Machtpositionen gegen Genderwahn und Diversity vorwärtsverteidigen". Ein Altpapier von René Martens.
Goethe geht ja eigentlich immer - natürlich auch beim derzeitigen Thema aller Themen:
"Ein Satz Goethes sagt, der Handelnde sei immer gewissenlos, es habe niemand Gewissen als der Betrachtende. Der Fall Özil ist geeignet, diesen Satz zu erläutern."
So steigt FAZ-Feuilleton-Chef Jürgen Kaube heute auf der Aufmacherseite seines Ressorts ein. Es gibt hier - wir reden, wie gesagt, von der Feuilleton-Aufmacherseite - noch einen weiteren Text zu Özil, er stammt von Patrick Bahners, dem Verantwortlichen fürs Ressort Geisteswissenschaften, und dieser, in dem es um Berichterstattung der Bild-Zeitung geht, ist, anders als der Kaubes, eher Özil-freundlich.
Und sonst so in der FAZ-Printausgabe? Auf der Seite Eins stehen zwei Texte zu Özil, auf der Medienseite einer (plus eine Kurzmeldung), im Politikteil ist dem Thema die komplette dritte Seite gewidmet, darunter ein Artikel über eine "ähnliche Debatte" in Frankreich (die, wenn man genauer hinschaut, dann doch eher anders verlaufen ist, aber das nur am Rande). Für den Sportteil muss ja auch noch etwas übrig sein, da findet sich heute eine komplette Seite mit Artikeln zu Özil (drei sind’s). Auch den Kollegen von der Wirtschaft fällt was ein (zu Özil und Sponsoren).
Man könnte natürlich fragen, welche Themen durch eine derartige (und anderswo zumindest ähnliche) Schwerpunktsetzung in den Hintergrund geraten - jenseits von denen, über die sowieso nicht geschrieben wird. Oder auch: Was passiert, wenn etwas passiert, was sich mit einer gewissen Berechtigung als wichtiger einstufen ließe als "der Fall Özil" (Kaube). Oder, um mit dem Nürnberger-Nachrichten-Redakteur Klaus Schrage zu fragen:
"In Sachen #Özil bleibt für mich nur noch eine Frage offen: Was wäre eigentlich los, wenn #Erdogan selber zurücktritt?"
Der aus medienjournalistischer Sicht wichtigste Text ist der bereits erwähnte von Bahners, der online mit "Wie Mesut Ö. ausgebürgert werden sollte" und in der Print-Fassung mit "Die Akte 'Bild'" überschrieben ist:
"Wochenlang hatte die Bild-Zeitung beklagt, dass Mesut Özil keine öffentliche Erklärung zu dem Foto abgab, das ihn und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Erdogan zeigt. Nun äußerte sich Özil, schriftlich, in einem dreiteiligen Text, der länger sein dürfte als jeder Artikel, der je in der 'Bild' gedruckt wurde oder jedenfalls seit dem Vorabdruck aus 'Deutschland schafft sich ab' von Thilo Sarrazin."
Bahners geht unter anderem auf die Sprache von Julian Reichelt und Co. ein:
"Spielverderber, Heulsuse, Memme: das sind Klischees aus der untersten Schublade der Bolzplatzausrüstung. In der Özil-Affäre entfalteten sie eine toxische Wirkung, weil sie dafür eingesetzt wurden, die staatsbürgerliche Loyalität des Deutschen Mesut Özil in Zweifel zu ziehen (…) Man musste Özil als Schwächling beschimpfen und ihn einen Jammerlappen nennen. Das ist die Logik jener Schulhofkämpfe, mit denen Bild sonst die Warnungen vor einem Auseinanderbrechen unserer multikulturellen Gesellschaft illustriert."
Andreas Borcholte beschäftigt sich bei Spiegel Online ebenfalls mit der Bild-Zeitung und ihrer "aggressive Geringschätzung", mit der sie "auf Özils erschütterndes Bekenntnis reagiert":
"Wie die 'Bild'-Redakteure in ihrer sogenannten Analyse, beinahe jeden Satz, jede Aussage Özils diskreditieren, mit rhetorischem Schaum vor dem Mund immer wieder 'kompletten Unfug', 'pures Selbstmitleid' oder 'Starrsinn pur' einwerfen und dem Sportler ein Weltbild vorwerfen, das 'gefährlich nah an Erdogan' sei, das ist infam. Besonders von Özils Medienschelte scheint sich das Blatt provoziert zu fühlen. 'Keine große Medienmarke kritisierte je seine Herkunft. Eine Dreistigkeit gegenüber den freien Medien seiner Heimat, denen Özil pauschal und ohne jeden Beleg Rassismus vorwirft', heißt es im Text."
Borcholtes Bilanz:
"Was Starrsinn und Selbstgerechtigkeit betrifft, können es die ‚Bild‘-Leute locker mit ihrem vermeintlichen Gegner aufnehmen. Im Gegensatz zu den Medienleuten scheint Özil nicht vergessen zu haben, wie in den vergangenen Wochen nahezu jede Negativmeldung über die Nationalmannschaft mit seinem Konterfei bebildert wurde."
Einen entscheidenden Punkt hat Klaus Walter (taz):
"Dass Mesut Özil zum Sündenbock und zur Zielscheibe rassistischer Attacken wurde, hat nicht nur mit den bescheuerten Erdoğan-Fotos zu tun, sondern auch mit seiner Art, Fußball zu performen, mit seinem Auftreten auf dem Platz und, ja, mit seiner gottverdammten Körpersprache. Die hängenden Schultern, das Zerbrechliche, das Hadern, die Melancholie, die auch im Torjubel nie ganz verschwindet aus Mesuts Glubschaugen – Symptome einer Fußball(un)männlichkeit, die so gar nicht nach deutschem Tugendschweiß und German Panzer riecht."
Nicht zuletzt ist die, tja, Kritik an Özil also dadurch motiviert, dass er niemals etwas von der sog. deutschen Härte an den Tag gelegt hat, die man hier zu Lande weiterhin für eine Fußballtugend hält. Walters Fazit:
"Özils Rücktritt ist nicht nur ein Triumph des Rassismus, er ist auch einer des maskulinistischen Rollbacks von rechts, in dem kernige weiße Heteromänner ihre Machtpositionen gegen Genderwahn und Diversity vorwärtsverteidigen."
Da der Begriff Rücktritt immer wieder auftaucht, sei mit Hilfe der FAZ an dieser Stelle klargestellt, dass Özil "sich übrigens die Rückkehr in die Nationalmannschaft offenhält" (Michael Hanfeld) bzw. "seinen Rückzug nur für den Zeitraum erklärt hat, in dem er sich weiterhin rassistisch beleidigt sieht. Optimistisch könnte man also auch von der Ankündigung einer Spielpause sprechen" (Bahners again).
Sollte dieses Land eine Art Rezivilisierung erleben oder Springer doch noch enteignet werden - was ja ungefähr aufs Gleiche hinausläuft -, wird Özil das Trikot mit dem Adler drauf also vielleicht wieder anziehen.
"Integrationserpressung in Reinform"
Ein Großteil der Kommentatoren kritisiert die Doppelmoral, die weite Teile der Debatte prägt:
"Von einem Nationalspieler mehr Haltung zu verlangen als von der eigenen Regierung, die mit der Türkei Flüchtlingsabkommen abschließt und Handel betreibt, ist Integrationserpressung in Reinform",
meint Jagoda Marinic (die sich heute auch im SWR-Hörfunk geäußert hat) in der taz. Andrej Reisin, Mitarbeiter bei "Panorama", schreibt:
"Ob der 'Ehrenspielführer' Lothar Matthäus Putin lobend die Hand schüttelt oder Julian Draxler einen Dankesbrief an Russland schreibt, ob Franz Beckenbauer verlauten lässt, er habe in Katar keine Arbeitssklaven gesehen oder der DFB und diverse deutsche Proficlubs auf Werbetournee in China gehen: Diktatoren? Menschenrechte? Ich bitte Sie, was soll der Fußball denn da machen?"
Wie Marinic bringt Reisin das Flüchtlingsabkommen ins Spiel:
"Dass Putin (momentan wieder) einer der Verbündeten Erdogans im Syrien-Konflikt ist, dass die EU mit eben jenem Erdogan einen schmutzigen Flüchtlings-Deal hat, dass die deutsche Waffenindustrie mit dem Segen der Bundesregierung Panzer und anderes Kriegsgerät an den NATO-Partner Türkei liefert - alles geschenkt. Aber wehe, ein Fußballer mit türkischem Migrationshintergrund posiert mit Erdogan - dann ist er geliefert.
Und Hasan Gökkaya (Zeit Online) fragt:
"Selbst Journalisten und Politiker wissen bis heute nicht, wie man mit Erdoğan richtig umgehen soll. Aber ein schüchterner Fußballstar soll das können?"
Zudem betont er:
"Gerade jetzt muss man vielleicht noch mal daran erinnern, was für eine Welt das ist, deren moralische Maßstäbe der Fußballer Mesut Özil nun angeblich unterlaufen haben soll: Die Fifa ist ein krimineller Sumpf. Ihre Funktionäre schummeln, tricksen, schmieren. Dass Weltmeisterschaften in komplett undemokratischen Ländern wie Russland und bald Katar stattfinden, ist längst akzeptiert (…) In Bayern regiert ein verurteilter Steuerhinterzieher den wichtigsten Fußballverein des Landes. Aber das ist nun natürlich alles egal. Weil der Haustürke vermeintlich einen Fehler gemacht hat. Und weil er sich nun auch noch erdreistet, sich von seinem Land, von Deutschland, nicht alles gefallen zu lassen."
Dem Aufsichtsrat des "wichtigsten Fußballvereins des Landes" gehört übrigens ein Mann an, der derzeit in Untersuchungshaft sitzt. Gegen ein weiteres Mitglied gibt es in den USA einen Haftbefehl. Aber das nur am Rande.
Meuthens Verhältnis zur Wahrheit
Auf das am Montag hier im Zusammenhang mit einem miserablen "Tagesschau"-Beitrag erwähnten ARD-"Sommerinterview" mit Jörg Meuthen gehen Melanie Amann und Sven Röbel für Spiegel Online ein:
"Log AfD-Chef Meuthen im 'Sommerinterview'?",
fragen sie. Es geht dabei
"um Meuthens Kontakte zu einer Organisation namens 'Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten', die seit Anfang 2016 mit teuren Plakatkampagnen, Internetpropaganda und Wahlkampfzeitungen in Millionenauflage Stimmung für die AfD macht".
Im ARD-Interview
"erklärte Meuthen kategorisch: 'Ich habe zu keinem Zeitpunkt je Kontakt zu diesem Verein gehabt.' Das war offenkundig nicht die Wahrheit. Ein Artikel in einer Zeitung des Vereins legt nahe, dass Meuthen sehr wohl Kontakt zu dem seltsamen Club hatte: Anfang 2016, kurz vor der baden-württembergischen Landtagswahl, veröffentlichte die Wahlkampfzeitung 'Extrablatt' ein ausführliches Interview mit Meuthen, der seinerzeit AfD-Spitzenkandidat für den Stuttgarter Landtag war."
Hier findet man das Faksimile des Interviews. Auch Lobby Control äußert sich bei Twitter zur Sache.
Wir brauchen neue Kategorien
Auf den gestern hier erwähnten Offenen Brief der Jugend-Retter-Mitgründerin Pauline Schmidt an Zeit-Redakteurin Mariam Lau hat diese mittlerweile mit einem ausführlichen Beitrag bei Facebook geantwortet.
"Sie machen sich Sorgen um die Debattenkultur in Deutschland. Ich nicht. Ich finde, dass sie ziemlich in Ordnung ist. Wer 'Asyltourismus' sagt, bekommt sogar aus der eigenen Partei einen solchen Gegenwind, dass er zurückrudern muss. Ich habe in meinem Stück gegen die private Seenotrettung heftig ausgeteilt, und heftig zurückbekommen - das ist völlig in Ordnung so."
Lau war am Montag auch beteiligt an einer SWR-2-Diskussion über die eine oder andere Frage, die ihr Ursprungs-Beitrag aufgeworfen hat (tl;dl). Die durch Laus Artikel ausgelöste Debatte greifen unter anderen Vorzeichen Martin Böttcher und Vera Linß in einem Gespräch mit der Soziologin Saskia Sassen auf, das sie für Deutschlandfunk Kultur geführt haben. Thema: die Leerstellen in der Debatte. Sassen sagt:
"Zum Beispiel fliehen viele dieser Migranten vor Kriegen, die wir in gewisser Weise erst möglich gemacht haben. Wir - der Westen. Indem wir beispielsweise der einheimischen Bevölkerung Land weggenommen haben, indem wir Wasserzugänge verhindert haben, indem wir Land durch Plantagen, Agrarindustrie und Bergbau zerstört haben, sind Menschen an den Rand gedrängt worden. Wir im Westen sind die Profiteure des Reichtums und der Ressourcen Afrikas (…) Das typische Bild, was man sieht, ist das des ankommenden Migranten. Sie sind da unten in Libyen, dann machen sie die Überfahrt undsoweiter. Anstelle, dass man sich mal fragt, was da passiert, wo diese Leute herkommen."
Zu Böttchers Frage "Brauchen wir eine neue Sprache?" sagt Sassen:
"Ja, die brauchen wir. Die dominanten Kategorien, die wir verwenden – von 'Kriegsflüchtlingen' und traditionellen Einwanderern zu reden –, reichen nicht aus, um das darzustellen, was eine wachsende Migration heute ausmacht. Das hängt mit bestimmten Formen wirtschaftlicher Entwicklung zusammen, die Menschen aus ihren Ländern drängen, die Land und Wasservorräte vernichten und vergiften. Wir brauchen eine neue Sprache. Nicht nur im Journalismus, sondern auch in der Forschung zu diesem Thema."
Dokukorb (Gender, Jordanien, Nord Stream 2)
+++ Was normalerweise Altpapierkorb heißt, heißt heute halt mal anders, denn im Sommer setzen die Sender stark aufs Nonfiktionale, und das spiegelt sich heute auf den Medienseiten wieder. Fangen wir mit der FAZ an, weil die gleich zwei Besprechungen liefert. Ursula Scheer schreibt über den 3sat-Film "Die Abschaffung der Geschlechter. Typisch Mann, typisch Frau, typisch Was?", immerhin schon um 20.15 Uhr zu sehen: "(Es) geht in dem Film von Constanze Grießler und Franziska Mayr-Keber mitnichten um eine Liquidierung biologischer oder sozialer Geschlechterrollen und -begriffe im Zeichen des Gendersterns. Auf unideologische Weise stellen die Filmemacherinnen stattdessen sechs Menschen vor, die Mannsein, Frausein und alles dazwischen umtreibt, mal mehr, mal weniger existentiell. Und nebenbei parlieren der Kolumnist Harald Martenstein und Eva Blimlinger, die Rektorin der Akademie der Bildenden Künste in Wien, über das Gesehene." Puh, "auf unindeologische Weise", da haben die FAZ-Leser*innen aber noch mal Glück gehabt! Scheers Text gibt’s für 45 Cent bei Blendle.
+++ In der zweiten FAZ-Rezension geht es um "die viertgrößte Stadt Jordaniens" - wobei es sich um ein Flüchtlingslager handelt. Heike Hupertz schreibt über die Arte-Dokumentation "Zaatari – Leben im Nirgendwo": "Vom Elend solcher Lager – dokumentarisch vielfach bezeugt – ist hier nichts zu sehen. Der Film versteht sich stattdessen als filmpoetische Hommage an die Widerstandskraft und die Fähigkeit selbst traumatisierter Eltern, durch Perspektivenfinden wider alle Zukunftslosigkeit ihren Kindern Stabilität und Sicherheit zu vermitteln."
+++ Vor dem Film aus Jordanien, auf den man im linearen Fernsehen bis 23.35 Uhr warten muss, läuft bei Arte heute noch die Dokumentation "Gas-Macht. Politik mit Pipelines", für deren Besprechung sich Thomas Gehringer im Tagesspiegel entschieden hat: "Die geplante Pipeline Nord Stream 2, die das Erdgas von Sibirien durch die Ostsee direkt nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern leiten soll, 'droht die EU zu spalten', heißt es zu Beginn des vom MDR produzierten Films. Warum das so ist, welche wirtschafts- und machtpolitischen Interessen eine Rolle spielen, weshalb die Pipeline energie- und umweltpolitisch umstritten ist, das arbeiten die Autoren Christian F. Trippe und Ulli Wendelmann in ihrem Film umfassend heraus."
+++ In der SZ befasst sich David Denk mit der ZDF-Doku-Reihe "Mit 80 Jahren um die Welt", die man durchaus auch Dokutainment-Reihe nennen könnte, denn: "Die sechs Teilnehmer kennen einander nicht, als sie am Frankfurter Flughafen zusammengeführt werden, um unter der Reiseleitung von ZDF-Moderator Steven Gätjen sechs Länder in vier Wochen zu erkunden." Ariane Holzhausen schreibt in der Stuttgarter Zeitung ebenfalls über "Mit 80 Jahren um die Welt"
+++ Die taz schließlich hat aus dem Angebot eine Dokumentation ausgeguckt, von der sie eher abrät. Der vom RBB verantwortete Film "Das verrohte Land" beweise "beachtliche Qualitäten auf den Gebieten der Suggestion und Angstmache". Ohnehin, meint Jens Müller, hätten "die Dokus der ARD (…) gerne mal so eine Neigung ins Reißerische".
Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.