Das Altpapier am 23. Juli 2018 "Sie schleifen unsere Empörung ab"
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Zu den "Hauptagenten der Normalisierung der AfD" gehört die "Tagesschau", und das zeigte sich am Sonntagabend wieder mal deutlich. Politik-, Nachrichten- und Hauptstadtjournalisten scheinen nicht bereit zu sein, ihre Arbeit fundamental in Frage zu stellen. Ein Altpapier von René Martens.
Hauptsächlich ging es in Sascha Lobos letztwöchiger Spiegel-Online-Kolumne unter der Überschrift "Berichterstattung und Haltung kann man nicht trennen" (siehe auch Altpapier) ja um den Umgang deutscher Journalisten mit Donald Trump. Lobo schrieb über die Berichterstattung zu Trump aber auch:
"Ich befürchte, das ist symptomatisch für die Hilflosigkeit klassischer Medien beim weltweiten autoritären Backlash."
Konkret kritisierte er die "Tagesschau":
"Zur reichweitenstärksten Sendezeit zwischen zwei WM-Halbzeiten wurden ohne jede Einordnung Statements des AfD-Vorsitzenden (Alexander) Gauland gesendet (…) Es entspricht der hilflosen Normalisierung, die auch in den Schlagzeilen über Trump liegt."
Dass man bei der "Tagesschau" diese Kolumne gelesen hat, ist nicht sehr wahrscheinlich. Der erste Bericht in der sonntäglichen 20-Uhr-Ausgabe wirkt jedenfalls wie eine nachträgliche Bestätigung von Lobos Text. Es handelt sich dabei um Cross Promotion für einen Beitrag des eigenen Hauses, nämlich für ein "Sommerinterview" mit dem AfD-Politiker Jörg Meuthen, also Gaulands Co-Vorsitzenden. Im Rahmen der Wiedergabe des Interviews fällt unter anderem folgender Satz
"Außerdem habe (Meuthen) dem italienischen Innenminister Glückwünsche zur Schließung der italienischen Häfen für Flüchtlingsschiffe ausrichten lassen."
Mit Lobo ließe sich dazu sagen:
"Mit den Instrumenten politischer Normalität versucht der Journalismus, das Aberwitzige zu verarbeiten."
Beziehungsweise: Wenn die "Tagesschau" in einem Aufmacherbeitrag der Hauptausgabe kommentarlos referiert, dass ein Politiker einem italienischen Neofaschisten fürs Ausleben seiner Menschenfeindlichkeit "Glückwünsche" ausrichten lässt, ist der Tag, an dem die Sendung nüchtern bzw. nach allen Regeln der Nachrichtenkunst darüber berichtet, dass irgendwer irgendwem zu Massenhinrichtungen gratuliert, nicht mehr fern.
Zum desaströsen Eindruck passt dann auch eine Wortmeldung vom Twitter-Account der fürs Sommerinterview zuständigen Sendung "Bericht aus Berlin", der Meuthens "Verharmlosung rechtsextremer bzw. rechtspopulistischer Parteien unkritisch" übernehme, wie der Politikberater Johannes Hillje konstatiert.
Vor der Ausstrahlung des "Sommerinterviews" hatte Perlentauchers Thierry Chervel noch gefragt:
"Was wäre, wenn nicht Facebook und Twitter, sondern die Öffentlich-Rechtlichen (Ausgewogenheit) und der Staat (Parteienfinanzierung und -stiftungen) die Hauptagenten der Normalisierung der AfD sind?"
Spätestens seit Sonntagabend lässt sich sagen: Das ist, zumindest, was die Öffentlich-Rechtlichen angeht, eine rhetorische Frage.
Schmeißt alle Stellschrauben weg!
Ich befürchte ja, dass der "Tagesschau"-Beitrag zu Meuthen nach den geltenden Regeln des Nachrichtenjournalismus nicht zu beanstanden ist. In dem Zusammenhang mit diesem "Tagesschau"-Bericht ist es jedenfalls aufschlussreich, auf die Kritik einzugehen, die Lobo mit seiner Kolumne ausgelöst hat. Birgit Schmeitzner, Korrespondentin für den BR im ARD-Hauptstadtstudio, schrieb im Tagesspiegel am Sonntag
"Ich halte (…) (Lobos) Schlussfolgerung, dass ein Journalist in die Berichterstattung 'wertende Elemente' einbauen und Haltung zeigen muss, für falsch. Was ist 'Haltung'? Wer definiert das? Wofür, wogegen? (…) Wir müssen an anderen Stellschrauben drehen. Mehr Zeit für Recherche. Lieber richtig melden als der Erste sein. No clickbait. Mehr Kontext. Mehr Bildung und Medienkompetenz."
Marco Bertolaso, Leiter der Abteilung Zentrale Nachrichten im Deutschlandfunk, findet:
"Meinung hat ihren wichtigen Platz in den Medien. In den Nachrichten wäre sie aber nutzlos und gefährlich."
Ich kann natürlich nicht wissen, ob Schmeitzner und Bertolaso den "Tagesschau"-Aufmacher gut fanden, aber "gefährlich" war er allemal.
meedia.de hat zu Lobos aktueller Kolumne Statements von dpa-Nachrichtenchef Homburger und "Heute Journal"-Redaktionsleiter Wulf Schmiese eingeholt. Homburger sagt:
"Hinter Haltungsjournalismus versteckt sich gerne Empörungsjournalismus, bei dem das Emotionalisieren im Vordergrund steht und nicht das Informieren. Vor allem aber unterschätzt Empörungsjournalismus die Kraft objektiver und nüchterner Information."
Und Schmiese meint:
"Über Aussagen des amerikanischen Präsidenten berichten wir nachrichtlich korrekt zitierend oder ihn im O-Ton zeigend."
Tja, Meuthen wurde in der "Tagesschau" auch "nachrichtlich korrekt" zitiert und "im O-Ton gezeigt".
Friederike Herrmann (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) hat sich mit den Positionen, wie sie Homburger und Schmiese hier vertreten, bereits im April 2016 ausführlich befasst. Ich habe ihren unter anderem bei Übermedien veröffentlichten Text damals im Altpapier unter der Headline "Der fatale Glaube an die Neutralität von Fakten" zusammengefasst. Herrmann schrieb seinerzeit:
"Noch immer verstellt der Glaube an die Neutralität von Fakten und Nachrichten den Blick darauf, wie sehr der Journalismus von der Institutionenperspektive geprägt ist und dem Verlautbarungsjournalismus verfällt, weil er die Geschichten der Politiker erzählt. Das führt dazu, dass die Medien in einem solchen Diskurs vor allem reagieren und Politiker ihnen die Agenda vorgeben können. Und Journalisten reflektieren zu selten, in welche Narrative sie dabei eingebunden werden."
"Serviceorientierte Christsoziale"
Letzteres tut Roman Deininger in einem Essay für die SZ vom Wochenende (der derzeit nicht frei online steht) zumindest teilweise:.
"Ein ernster Gedanke zur Mitnahme ins Sommerloch: Man muss offen reden über die komplexe, aber in dieser Komplexität auch alternativlose Beziehung von Journalisten und Politikern. Sie ist ein ständiger Grenzgang zwischen Nähe und Distanz: ohne Nähe keine Information, ohne Distanz keine Objektivität."
Deininger weiter:
"Journalisten dürfen blöderweise nie dabei sein, wenn Politik entsteht - wenn es hinter verschlossenen Türen entscheidend oder intim wird (abgesehen vom Spiegel-Kollegen Markus Feldenkirchen bei Martin Schulz, was Feldenkirchen sehr und Schulz gar nicht geholfen hat). Tagt ein Kabinett oder ein Parteivorstand, ist man auf Indiskretionen angewiesen. Schon ist man in der Zwickmühle: Man achtet still die, die nichts rauslassen. Aber man braucht die, die quatschen."
Angela Merkel sei
"dem Quatschen leider gar nicht zugetan, während die CSU offenbar beschlossen hat, auch dieses Defizit der Kanzlerin überzukompensieren. Im Machtkampf zwischen Söder und Seehofer teilten einem serviceorientierte Christsoziale zu jeder Tag- und Nachtzeit mit, was der Söder wieder Niederträchtiges gesagt oder wo der Seehofer wieder blass und krank gewirkt habe. Mit Politikern in einem Boot zu sitzen ist nicht immer ein uneingeschränktes Vergnügen."
Das ist alles süffig geschrieben, aber das Kernproblem ist ja, "dass Journalisten zu viel über Politiker berichten und zu wenig über Politik" (Jay Rosen vor rund einem Monat gegenüber dem Deutschlandfunk-Magazin @mediasres, siehe auch Altpapier), und zu dieser Erkenntnis gelangt Deininger imho dann eben doch nicht.
Insgesamt habe ich nicht den Eindruck, dass Politik-, Nachrichten- und Hauptstadtjournalisten bereit sind, ihre Arbeit fundamental in Frage zu stellen - obwohl das für die Zukunft des politischen Journalismus unabdingbar ist. Ich habe natürlich leicht reden, denn ich bin ja - dem Weltgeist sei’s gedankt - keines von dreien. Es reicht jedenfalls nicht, hier und dort an einer "Stellschraube" zu "drehen" (Schmeitzner) und mehr "Abstand, bitte" (Deiningersd Headline) einzufordern. Tatsächlich muss man alle "Stellschrauben" lösen, sie wegwerfen und was ganz anderes entstehen lassen.
Vermutlich wird die Berliner Migrationsforscherin Naika Foroutan (im Altpapier zuletzt vor rund zweieinhalb Jahren erwähnt) das ähnlich sehen.
"Sind wir Journalisten schuld am Aufstieg der Rechten?",
fragt Andrea Dernbach sie nun in einem Interview für den Tagesspiegel. Foroutan sagt:
"Ich kritisiere lieber meinen eigenen Beruf, da kenne ich mich besser aus. Ich stelle aber fest, dass sich viele an so etwas abarbeiten wie an Beatrix von Storchs Satz, sie sei auf der Maus ausgerutscht, als sie Schüsse auf Migranten an der Grenze forderte. So ein Satz ist in seiner ganzen Absurdität doch geplant! Trump macht sich über behinderte Menschen lustig und bezeichnet die Kinder der Flüchtlinge als verschlagen, Salvini bezeichnet die Flüchtlingshelfer als kriminelle Handlanger der Schlepper – damit werden Grenzen verschoben und Entmenschlichungen vorbereitet. Plausibilität, Konsistenz spielen keine Rolle mehr. Die Rechte wollte die Grenzen des Sagbaren schleifen und sie hat es geschafft."
Das "Wichtigste" sei diesem Zusammenhang aber:
"Sie schleifen unsere Empörung ab. Empörung kann ein großer Mobilisierungseffekt in Gesellschaften sein – aber wenn so viel passiert, über das man sich empören kann, dann ist das irgendwann eine stumpfe Waffe. Und das ist eine Strategie."
Ein Offener Brief an eine Ahnungslose
Eine Zwischenüberschrift im Altpapier vom vergangenen Mittwoch lautete "Ein Film für Mariam Lau", und gemeint war damit der Dokumentarfilm "Iuventa, der der Fortbildung der Zeit-Redakteurin möglicherweise dienlich sein könnte. Bei All Your Sisters hat sich nun Pauline Schmidt zu Wort gemelde, eine der Mitgründer*innen von Jugend Rettet, deren Geschichte der Film erzählt. Schmidt stellt in einem offenen Brief an Lau deren Sachunkundigkeit heraus.
"Sie verfolgen (…) die These, dass reine Seenotrettung nicht zur Lösung dieser politischen Probleme beiträgt und ich möchte gerne mit der Frage antworten: Wer hat das eigentlich jemals behauptet? Mehr als die Hälfte unserer Arbeit bestand darin, andere Lösungsansätze zu suchen und die Politik zum Handeln aufzufordern. Seit Tag eins benutzte ich für unseren Verein die Metapher des 'Lückenfüllers'. Die Forderung von Jugend Rettet war ein Seenotrettungsprogramm der europäischen Staaten, damit sich NGOs auf lange Sicht zurückziehen können."
Das kommt auch in dem erwähnten Film zumindest kurz vor. Schmidt weiter:
"Für mich zeichnen Sie in Ihrem Text eine Art Karikatur. Ich habe in den letzten Jahren keine Person kennengelernt, die diesem Bild entspricht und die ihre Arbeit mit der Ignoranz ausübt, die sie in Ihrem Text unterstellen (…) Ich vermisse den Blick auf Strukturen und darauf, was ihre Reichweite und ihr damit verbundener Einfluss für den Alltag der Menschen bedeuten, die Sie so hart aburteilen (…) (und) die zeitgleich zu Ihrer Veröffentlichung mit dem Thema Kriminalisierung, unfassbarem rechtem Hass und Bedrohungen und der Schwere des Jobs an sich und den resultierenden emotionalen Konsequenzen kämpfen müssen."
Altpapierkorb (Gruner + Jahr, Kartoffeln, Chance the Rapper)
+++ Am späten Sonntagabend twitterte der Journalist Jan Petter in Sachen Mesut Özil: "Fürchte, die nächsten 48 Stunden werden noch schlimmer, als viele befürchten. Bild, Grindel & Co. werden sicherlich nicht mit Selbstkritik anfangen, sondern eher ihre bisheriges Vorgehen noch weiter eskalieren." Zu befürchten ist’s in der Tat. Auch aus diesem Grund wird das Thema erst im Altpapier von Dienstag ausführlich Erwähnung finden.
+++ Anne Fromm greift für die taz eine Gruner + Jahr betreffende arbeitsrechtliche Angelegenheit auf, die kürzlich im Altpapier bereits kurz Erwähnung fand: "2016 (…) unterschrieb Julia Karnick, mit damals 45 Jahren, die erste Festanstellung ihres Lebens, einen Vertrag über eine Viertage-Woche als stellvertretende Redaktionsleiterin der Brigitte Woman, befristet auf zwei Jahre. Der ist Anfang dieses Jahres ausgelaufen und Karnick vor Gericht gezogen. Sie argumentiert, dass sie zwar erst seit 2016 offiziell bei Gruner angestellt war, dass aber schon vorher, seit 2014, ein Arbeitsverhältnis als quasi Angestellte bestand. Würde das Gericht das anerkennen, dann wäre die Befristung ihres Arbeitsvertrags ungültig, weil das Gesetz Kettenbefristungen verbietet – zumindest, wenn es keinen triftigen Sachgrund gibt." Aber: "Das Hamburger Arbeitsgericht hat Karnicks Klage abgelehnt."
+++ Ein Running Gag aus dem rechten Milieu: Antirassisten Rassismus vorzuwerfen. Die NZZ hat ihn gerade mal wieder aufgewärmt und sich dabei unter anderem über Journalisten echauffiert, die Deutsche als "Kartoffeln" bezeichnen. Fatma Aydemir schreibt dazu in der taz: "Die Behauptung eines 'umgekehrten Rassismus' (ist) ungefähr so sinnvoll wie eine Armamputation zu befürchten, weil man sich beim Käsefondue den kleinen Finger verbrannt hat. Ich beispielsweise liebe das Wort Kartoffel, ich verwende es mit oder ohne Anlass, mal beleidigend, manchmal gar anerkennend ('du bist pünktlich wie eine Kartoffel!'). Ich bin sogar mit Kartoffeln befreundet, ich kaufe bei ihnen ein, im Notfall lasse ich mir auch mal die Haare von ihnen schneiden."
+++ Anfang dieses Monats war an dieser Stelle anlässlich eines Übermedien-Beitrags die Rede davon, "dass der MDR sich erst sehr spät von seinem rechtsradikalen freien Mitarbeiter Uwe Steimle zu distanzieren beginnt". Den Pfad der Vernunft scheint man beim MDR schon wieder verlassen zu haben. Die SZ berichtet jedenfalls im Rahmen eines Steimle-Porträts ("Während sich auf dem Küchentisch Katze Schnurri zusammenrollt, beschwört Steimle die Angst vor einer Zeit, in der Notstandsgesetze erlassen werden"), dass der Sender "an dem Dresdner fest(hält)".
+++ Über Sacha Baron Cohens Serie "Who is America? (siehe Altpapier vom vergangenen Mittwoch) schreibt nun auch die NZZ am Sonntag. Denise Bühler meint: "Während es bei politischen Performances, Liedern und Filmen beim Appell an die Vernunft ihres Zielpublikums bleibt, greift Baron Cohens Satire mit gespielten Rollen echte Vorurteile an. Was er mit seinen boshaften Interviews bewirken kann, muss sich noch zeigen. Aber eines hat Sacha Baron Cohen jetzt schon erreicht: Politiker und Lobbyisten wissen, dass sie in Zukunft besser aufpassen müssen, was sie sagen, wenn ihnen jemand beim Interview gegenübersitzt und ihnen das Gefühl gibt, mit allem einverstanden zu sein."
+++ Zu den vermögenden Menschen, die möglicherweise nicht nur in philantropischer Absicht Medienunternehmen kaufen, gesellt sich nun auch der HipHop-Künstler Chance the Rapper. Er hat die Plattform Chiagoist erworben - was er selbst in einem neuen Stück erwähnt. Die New York Times berichtet.
Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.