Das Altpapier am 18. Juli 2018 Zuchthaus Europa
Hauptinhalt
Wenn der Journalismus weiter so rasant nach rechts rückt, dürfte Mariam Laus Position in zwei Jahren als moderat gelten. Eine in der Debatte ums Zeit-"Pro und Contra" zirkulierende "Mordaufruf-Legende" wirft die Frage auf: Warum tun weitgehend alphabetisierte Journalisten so, als wären sie es nicht? Ein Altpapier von René Martens.
Wenn davon die Rede ist, dass gewisse Beiträge zur Mediendebatte veraltet wirken, dann bezieht sich das in der Regel nicht auf Äußerungen, die erst vor wenigen Wochen formuliert worden sind.
"Auf einmal ist unendlich viel sagbar und zeigbar geworden. Auf einmal verlieren die alten Gatekeeper, verliert der Journalismus seine sortierende Kraft – verstärkt durch eine dramatische Refinanzierungskrise",
hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen Anfang Juni im Rahmen eines Streitgesprächs mit der Innsbrucker Philosophie-Professorin bei der phil.cologne gesagt, und eine Zusammenfassung des Gesprächs ist nun in der August/September-Ausgabe des Philosophie Magazins erschienen.
Was Pörksen da sagt, ist im Prinzip ja nicht falsch, auch nicht, dass "die Deregulierung des Diskursmarktes" ein "fundamentales Problem" sei. Außerdem sagt er noch, angesprochen auf "die Hasskommentare und die Entgleisung des Diskurses in den sozialen Medien":
"Diese Radikalisierung ist kein Naturgesetz, wir können uns ihr durch Mäßigung entziehen. Mir scheint, als befänden wir uns momentan in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medienmöglichkeiten."
Ja, gut, aber wenn wir jetzt über die generelle Situation in der sog. Medienlandschaft reden, müssen wir dabei ja gar nicht über Irgendwas-mit-neuen-Medienmöglichkeiten oder Irgendwas-mit-Social-Media reden, sondern über das vielfältige Versagen des Old-School-Journalismus – sei es beispielsweise über die bizarre Inszenierung und Hochstilisierung des inhaltlich irrelevanten Unionsstreits (siehe etwa dieses Altpapier), und, wenn’s denn schon um "Radikalisierung" (Pörksen) gehen soll, natürlich jene, die in Mariam Laus Contra-Beitrag für die Zeit (siehe sämtliche Altpapiere seit Freitag) zum Ausdruck kommt.
"Wir Journalisten können nicht so weitermachen wie bisher", hat Kai Schächtele bei Übermedien kürzlich geschrieben (siehe Altpapier von Freitag), und mit einer anderen Akzentuierung fordert dies auch Spiegel-Online-Kolumnist Georg Diez im gestern hier erwähnten, anlässlich der Debatte um Laus Beitrag geführten Interview mit dem Deutschlandfunk:
"Wir sind in Deutschland und weltweit in den westlichen Demokratien in der Situation, wo die Medien tatsächlich sich stärker darüber definieren müssten oder sollten, die demokratischen Grundwerte zu vertreten, durchaus auch explizit. Und das ist für uns eine Veränderung der Rolle der Medien, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den letzten 70 Jahren eingenommen hat."
Die Zukunft der Medien, um hier mal in die Pathoskiste zu greifen, hängt also wesentlich davon ab, ob der herkömmliche Journalismus noch zu einer Besinnung in dem von Diez geforderten Sinne in der Lage ist.
Eine "viral gestreute Mordaufruf-Legende"
Ein kleines Bisschen wäre aber schon gewonnen, wenn es hochrangige und in gewisser Hinsicht durchaus verdienstvolle Journalisten unterließen, sich doof zu stellen. Gemeint sind jene, die aus einer "gespiegelten Gegenfrage" (Bildblog), mit der Titanic-Chefredakteur Tim Wolff auf Lau reagiert hat (und die Twitter mittlerweile gelöscht hat) einen "Mordaufruf" machten. Mit diesem irrwitzigen Aspekt befasst sich Lorenz Meyer im eben verlinkten Bildblog:
"Die gespiegelte Gegenfrage stellt vor allem ein rhetorisches Mittel dar. Sie ist ein Vergleich, der verdeutlichen soll, wie unverschämt die Denkweise ist, die einer solchen Frage zugrunde liegt. Vielleicht ist es daher noch nicht mal Satire, sondern nur sehr zugespitzte Gegenrede. Man kann Wolffs Gag gut finden oder auch nicht. Was er auf jeden Fall nicht ist: ein ernst gemeinter Mordaufruf. Und das ist jedem klar, der soweit alphabetisiert ist, dass er aus einem Zusammenhang sinnentnehmend lesen kann."
Zu den in diesem Sinne alphabetisierten Journalisten, die Meyer kritisiert, gehören die frühere taz-Chefredakteurin Ines Pohl, der frühere Zeit-Online-Chefredakteur Wolfgang Blau und der DJV-Sprecher Hendrik Zörner. Meyer weiter:
"Bleibt die Frage, ob es sich bei der viral gestreuten Mordaufruf-Legende um Vorsatz oder Fahrlässigkeit handelt."
Dass Meyer so freundlich ist, die Möglichkeit in den Raum zu stellen, die genannten Kollegen könnten fahrlässig gehandelt haben, ehrt ihn natürlich. Wie bereits angedeutet, tendiere ich – obwohl ich tendenziell ein freundlicher Mensch bin – dazu, die Fahrlässigkeit auszuschließen. Indirekt spricht es letztlich für den Status der Titanic (der es ja wirtschaftlich leider eher mau geht, wie allen linken Medien), dass ihr Chefredakteur derart rabaukig angegangen wird.
Ein Film für Mariam Lau
Dass ein Dokumentarfilm, dessen Dreharbeiten vor zwei Jahren begonnen haben, zum Zeitpunkt, zu dem er ins Kino oder ins Fernsehen kommt, wesentlich aktueller ist, als zu dem Zeitpunkt, als die Produktion begann – das ist eher ungewöhnlich. Dies trifft nun auf den Film "Iuventa" zu, der am 13. August bei 3sat zu sehen ist – und vorher vereinzelt in Programmkinos (morgen etwa im Berlin im Moviemento).
Iuventa ist das seit einem Jahr beschlagnahmte Schiff der 2015 gegründeten Organisation Jugend rettet, und der Film passt recht gut in die Debatte ums Zeit'sche Pro und Contra, weshalb Philipp Bovermann fürs SZ-Feuilleton am Montag Benedikt Funke, den früheren Kapitän des Schiffs, unter anderem darauf angesprochen hat. Zur grundsätzlichen Entwicklung der Berichterstattung über Seenotrettung sagt Funke:
"Ich forsche inzwischen zum Thema Migration. Vor einiger Zeit habe ich die Berichterstattung in deutschen Onlinemedien über die Seenotrettung untersucht. 2016 gab es in der Diskussion noch einen starken humanitären Fokus, wir wurden als humanitäre Akteure gesehen. Im Jahr darauf gab es bereits eine klare Differenzierung zwischen privaten und staatlichen Rettungsmissionen. Plötzlich waren wir die Kriminellen, die das europäische Grenzregime bedrohen. Seitdem werden wir ständig in die Rolle gedrängt: Ihr wollt ja, dass alle kommen! Darum geht's aber überhaupt nicht. Es geht darum zu retten – und derweil darüber zu reden, wie wir mit dem Thema Migration umgehen wollen. Mittlerweile ist die Diskussion aber so polarisiert, dass man zu dem Punkt gar nicht mehr kommt."
Sollte sich der hiesige Journalismus weiter so wie in dem von Funke skizzierten Maße radikalisieren, wird eine Position, die der Mariam Laus ähnelt, in zwei Jahren vermutlich als moderat gelten. Da wird dann – vielleicht nicht in der Zeit, aber an einem vergleichbaren Ort – eine Autor*in für die drakonische Bestrafung von Seenotrettung plädieren und eine andere für eine milde.
Ein Buch für Mariam Lau
In der bereits erwähnten neuen Ausgabe des Philosophie Magazins ist auch ein Gespräch mit Wendy Brown erschienen, einer "der einflussreichsten Intellektuellen der USA" (Ausriss hier). Anlass ist ihr gerade bei Suhrkamp erschienenes Buch "Mauern – Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität". Die Kernthese der Politikwissenschaftlerin Brown: Abschottung verschärft die Probleme, die deren Verfechter vorgeben, beseitigen zu wollen. Im Interview sagt sie:
"Die Befestigung der US-Grenze zu Mexiko begann bereits in den späten 1980er-Jahren und wurde in den 1990ern mit viel Geld fortgesetzt. Die Folgen bestanden darin, dass eine Schlepperindustrie entstand und der Drogenschmuggel sich intensivierte (…) (Man) hatte (…) eine riesige organisierte Kriminalität geschaffen. Hier kommt übrigens auch der 'Islamische Staat' (IS) ins Spiel, der mittlerweile zu einem der führenden Schlepper für Migranten aus Nordafrika und dem Nahen Osten geworden ist. Das Paradox liegt darin, dass der IS Unmengen von Geld durch die Verstärkung und Schließung der europäischen Grenzen verdient."
Ich zitiere das so ausführlich, weil dieser Aspekt in der Berichterstattung in Deutschland mindestens unterrepräsentiert ist. Die NZZ bespricht aktuell Browns Buch sehr positiv. Peer Teuwens zitiert unter anderem Browns Frage "Ab wann wird die Festung zum Zuchthaus?". Woran sich wiederum mit Dietmar Daths am Dienstag hier teilweise zitierter Analyse anschließen lässt.
Spiegel Online brachte bereits am Wochenende eine Rezension, in der die Weitsichtigkeit Browns betont wird. Die Erstausgabe des Buchs erschien nämlich bereits 2010.
Altpapierkorb (Hayalis Hauptthemen, "Sklavinnen des IS", "Borat" is back, für immer Punk)
+++ Großer Jubel ist ersten Berichten zufolge heute morgen bei den Zweitwohnungsnutzern unter den Altpapier-Lesern ausgebrochen. "Mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar ist (…), dass (…) für Zweitwohnungen ein Rundfunkbeitrag zu leisten ist", hat das Bundesverfassungsgericht heute unter anderem entschieden. Da das Gericht das Urteil (siehe dazu etwa ein 2:18 langes Video im YouTube-Kanal der FAZ) während der Produktion dieses Altpapiers verkündet hat, folgen ausgeruhte Einschätzungen morgen an dieser Stelle.
+++ Margarete Stokowski würdigt in ihrer Spiegel-Online-Kolumne die österreichische Grünen-Politikerin Sigi Maurer dafür, dass sie offensiv mit einer per Facebook zugänglich gemachten sexuellen Bedrohung umgegangen ist.
+++ "Werdet wahnsinnig", lautet einer der Ratschläge, die Titanic-Autor Cornelius W.M. Oettle vielleicht Journalistenschüler*innen gäbe, wenn er sie unterrichtete.
+++ "Pflege. Bildung. Armut" – das sind die Themen, denen sich Dunja Hayali in ihrem nach ihr benannten Talkmagazin, das es ab heute monatlich geben wird (und nicht mehr nur als Sommerpausen-Lückenfüller), in diesem Jahr hauptsächlich widmen wird. Gesagt hat sie’s dem Tagesspiegel.
+++ Um beim Thema Talksendungen zu bleiben: "Eine Talkshow-Moderatorin hat mal erzählt, dass Frauen erst einmal zögern, wenn sie sie als Studiogast einlade. Sie sagten dann häufig, es sei nicht ganz ihr Thema. Rufe sie hingegen einen Mann an, sage der meistens, er habe an dem betreffenden Tag Zeit – und fragt nicht mal, um welches Thema es geht." Das sagt Maria Furtwängler in einem großen Zeit-Online-Interview.
+++ Vielerorts besprochen: der deutsch-britisch-französische Dokumentarfilm "Sklavinnen des IS". Zum Beispiel in der Stuttgarter Zeitung, wo Thomas Klingenmaier so einsteigt: "Furchtbar das alles, wichtiger Film bestimmt, aber da kann ich gar nicht hinschauen. So werden nicht wenige Menschen denken, sobald sie auch nur den Titel des Dokumentarfilms 'Sklavinnen des IS' lesen, den das Erste am 18. Juli um 22.45 Uhr ausstrahlen wird. Und natürlich kann es jetzt kein lockendes, neugierig machendes 'von wegen' geben, kein Versprechen, alles sei nur halb so schlimm. Der Islamische Staat hat bei seinem Sturm auf Syrien und den Irak auch versucht, die Volks- und Religionsgruppe der Jesiden auszurotten. Die Männer wurden ermordet, die Frauen verschleppt, vergewaltigt, als Beute auf einem florierenden Sklavenmarkt des 21. Jahrhunderts verkauft." Zwei Opfer dieser Sklaverei, die heute in Baden-Württemberg leben, sind die Protagonisten des Films, dem eine "Straffung gut getan hätte", wie Viola Schenz (SZ), meint. Die FAZ hatte den Film bereits vor einem Monat besprochen, als bei Arte eine, um Schenz aufzugreifen, gestraffte Version lief (nämlich eine bloß einstündige).
+++ Dokumentarfilme (2): Martin Bernstein geht für die SZ (nicht fürs Medienressort, sondern im München-und-Region-Teil) auf Stefan Eberleins "München – Stadt in Angst" ein. In diesen Tagen jährt sich zum zweiten Mal das rechtsextremistische Attentat am Olympia-Einkaufszentrum, und dies ist für den Filmemacher der Anlass, sich mit den "Phantomtatorten" zu beschäfitgen, also den "Orten in München, an die an jenem Abend die Polizei gerufen wurde, weil die Anrufer sich sicher waren: Auch hier schießen gerade Terroristen".
+++ "Sacha Baron Cohen ('Borat') führt in seiner neuen Satiresendung prominente Bewohner des amerikanischen Irrenhauses vor" – so lautet in der Welt ein nicht unbedingt Welt-typischer Vorspann zu einer Rezension von Cohens Comedy-Serie "Who is America?", die deutsche Sky-Abonnent*innen seit Dienstag sehen können.
+++ In seiner "Bahnhofskiosk"-Kolumne (€) für Übermedien schreibt Michal Pantelouris über das Immer-noch-Punk-Fanzine Trust, das bereits seit 30 Jahren existiert.
+++ Andere Länder, ganz andere medienpolitische Debatten: Manuel Puppis vom Lehrstuhl für "Mediensysteme und Medienstrukturen" an der Uni Fribourg, kritisiert für die Republik die "ungenügende Medienförderung" der Schweizer Bundesregierung: "Die vorgeschlagenen Fördermassnahmen reichen nicht aus, um die Medienlandschaft erdbebensicher zu machen. Lediglich Online-Medien, die 'im Wesentlichen' aus Audio- und Videobeiträgen bestehen, könnten Gebührengelder erhalten. Doch die meisten journalistischen Angebote im Internet sind textbasiert. Es braucht deshalb eine Medienförderung für Online-Journalismus insgesamt."
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.