Das Altpapier am 10. Juli 2018 Die Kultur der Sache
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Claudia Neumann kommentiert nicht das WM-Finale. Es ist 2018, und es gibt trotzdem noch den Otto-Katalog. Bei Ippens gibt es Discounter-Journalismus. Twitter wird mal wieder nacherzählt. Journalistische Themenauswahl ist nicht alternativlos. Und: Der WDR bekommt nun doch eine neue Fernsehchefredakteurin. Ein Altpapier von Klaus Raab.
"Anke Schäferkordt fordert engeres Korsett für ARD und ZDF", war dieser Tage in der Berliner Morgenpost zu lesen. Im Otto-Katalog allerdings wird die RTL-Chefin bald keines mehr finden.
"In ein paar Wochen" bzw. "im Dezember" bzw. "in diesem Winter" bzw. "im Dezember 2019" – hmja – soll das letzte gedruckte Exemplar erscheinen: der Katalog mit der Kollektion für Frühjahr/Sommer 2019. Ein "Digitalisierungsopfer" nennt die Deutsche Welle deshalb den armen Katalog. Wer aber findet, dass die Nachricht eigentlich doch darin besteht, dass es ihn 2018 allen Ernstes immer noch gibt, liegt vielleicht auch nicht ganz falsch.
Wie auch immer:
"(D)amit ist das Zeitalter dieser buchdicken Versandbibeln endgültig zu Ende. Konkurrent Quelle ging schon 2009 pleite, Neckermann stellte seinen Katalog 2012 ein und stellte noch im gleichen Jahr Insolvenzantrag. Nur Otto hat sich gehalten, aber mittlerweile bräuchten die Kunden nun mal keinen Katalog mehr, heißt es bei dem Unternehmen: 95 Prozent der Kunden bestellten über das Internet. Zudem ändern sich Sortiment und Preise heute ohnedies schneller, als die Händler Kataloge drucken könnten."
So steht es im Wirtschaftsteil der SZ.
Was hat das Ganze nun mit Medien zu tun? Mit Medien schon einiges, mit Journalismus aber natürlich weniger. Wobei…: Man muss nur die Unternehmensnamen austauschen, "Versandbibeln" und "Katalog" durch "Zeitung" ersetzen, "Kunden" durch "Nutzer", "bestellen" durch "lesen", "Sortiment und Preise" durch "Informationslage und Debattenstand bei Twitter" sowie "Händler" durch "Verlage" – dann lesen wir hier eine Medienseitengeschichte der Zukunft.
Besondere Erwähnungen verdienen sich im Zusammenhang mit der Otto-Berichterstattung Horizont, Süddeutsche und Wilhelmshavener Zeitung. Horizont dafür, dass dort schon vergangene Woche über das bevorstehende Ende des Katalogs informiert wurde. Die SZ für eine über die dpa-Meldung ("Models wie Claudia Schiffer, Heidi Klum oder Gisele Bündchen zierten das Titelbild") hinausgehende Tiefenrecherche: Auch Cindy Crawford, Elle Macpherson und Karolina Kurkowa waren auf dem Cover zu sehen. Und die Wilhelmshavener Zeitung, weil sie die Geschichte so passend betulich formulierend erzählt: "Früher blätterten Kunden noch in dicken Versandkatalogen und suchten nach Waren, die ihnen gefielen. Ein Anruf, ein Fax, ein Brief oder eine Postkarte mit den nötigen Bestellnummern wurde dann an den Versandhandel gerichtet. Nach einer gewissen Wartezeit kam die gewünschte Ware dann an."
Das alles scheint wirklich sehr sehr lange her zu sein, mindestens ein paar Menschheitsepochen oder wenigstens Jahre.
Discounter-Journalismus
Früher, ja, früher. Alles schlecht war damals aber auch nicht. Wissen Sie noch, früher, als die Tageszeitungen mit mehrseitigen Aldi-Beilagen ausgeliefert wurden? Das war schon gut. Die Leute, also manche, kauften ihre Aldi-Prospekte, bekamen eine Zeitung gratis dazu, und die Zeitung bekam dafür Geld von beiden. Das waren noch Zeiten; man brauchte nicht mal ein Leistungsschutzrecht dafür, es war irgendwie so schön selbstverständlich.
Heute dagegen! Müssen Redaktionen auf den Facebook-Seiten von Aldi nach Geschichten suchen, um das Publikum zu binden. Aus der Not eine Untugend macht Ippens merkur.de, dessen Aldi-Posting-Nacherzählungs-Clickbait-Sammlung Anlass für einen Übermedien-Text ist (frei derzeit nur für Leute mit Abo; Offenlegung: Ich schreibe hin und wieder für Übermedien):
"Früher lehrte man Journalistenschüler: Die Geschichten liegen auf der Straße. Heute weiß man: Die besten Geschichten stehen auf der Facebookseite von Aldi. Und daneben sitzen die Online-Journalisten des 'Münchner Merkur' und schreiben sie ab."
Wenn Aldi-Kundinnen und -Kunden sich bei Facebook über stinkende Grillkohle oder ausverkaufte Spezialangebote beschweren – der Merkur ist da. Es ist nur ein kleines Beispiel für journalistischen Schwachsinn, aber, um jetzt mal meine ganz persönliche Urlaubsreife ins Spiel zu bringen, schon hardcore deprimierend.
Wer nicht das WM-Finale kommentiert
Und damit aber zu den wirklich wichtigen Dingen: Fußball-WM-Berichterstattung.
"Béla Réthy kommentiert das WM-Finale" lautet eine der Meldungen des Tages. Wobei – wasn los heute, Journalismus? – auch das nicht die tatsächliche Nachricht ist, denn das hat er ja praktisch schon immer getan. Die Nachricht ist: Seine ZDF-Kollegin Claudia Neumann (Altpapier) kommentiert nicht das WM-Finale. Das wäre ja auch zu schön gewesen.
Sie sehen: Otto-Katalog, Aldi-Geschichten, WM-Nachrichten – es geht heute an dieser Stelle etwas mühsam voran; Agenturleute würden sagen: mit Priorität 9. Ist am Ende Sommerloch? Ja, nee. Da sei Twitter vor, weil da immer was högscht Relevantes geht.
Die sog. Natur der Sache
Einerseits:
"Twitter ist inzwischen die wichtigste und schnellste Informationsquelle für meinen Beruf. Ich komme dadurch an Informationen, die ich sonst nicht kriegen würde, aus sehr speziellen Fachzeitungen und von Experten. Vor allem ist es eine gute Diskussionsplattform."
Sagt Armin Wolf vom ORF im Tagesspiegel-Interview, in dem er auch noch einmal darauf hinweist, dass die ORF-Social-Media-Richtlinie, die ORF-Journalistinnen und -Journalisten das einordnende Twittern verbieten sollte (Altpapier), zurückgezogen wurde ("Das war ein Entwurf. Der wurde zurückgezogen, jetzt wird an einem neuen gearbeitet").
Andererseits:
Lothar Matthäus gegen Bild. Letztere kommentierte Matthäus’ Handshake mit Wladimir Putin: "Matthäus sollte keine blutigen Hände schütteln!" Der reagierte mit einem Bild von u.a. Bilds Nikolaus Blome, wie er Putin die Hand schüttelt. Hmja. Dummerweise ist Twitter nicht nur "inzwischen die wichtigste und schnellste Informationsquelle" für Armin Wolf, sondern auch die wichtigste und schnellste Informationsquelle für Redaktionen, die nacherzählen, was auf Twitter so alles gemeint wird.
"So schlagfertig reagiert Lothar Matthäus auf einen scharfen Bild-Kommentar" lautet der Titel über dem entsprechenden Beitrag bei Meedia. "Matthäus bekommt Shitstorm nach Putin-Foto – und schlägt zurück. Im Netz wird er dafür abgefeiert" steht bei der HuffingtonPost. Wenn man dann erstmal drin ist in den Tweet-Sammlungs-Artikeln, erfährt man, dass ein Händedruck im Rahmen eines Interviews vielleicht doch etwas anderes sein könnte als ein PR-Foto. Aber natürlich ist dieser Discounter-Bullshit bei Meedia dann trotzdem, Stand Dienstag 0.42 Uhr, meistgelesen.
Weiter geht es mit dem auch stark twittergespeisten "Medienhype des Wochenendes" (Altpapier von Montag) und der Frage, die nun auch die SZ im Leitartikel stellt: "(W)arum fällt es so leicht, Mitleid mit den thailändischen Jungs zu haben und sich mit vollem Herzen über jeden Geretteten zu freuen – und warum gibt es diesen Verlust an Empathie mit den Bootsmenschen im Mittelmeer?" Oder wie es wiederum Meedia formuliert: "Medienmacher diskutieren Doppelmoral bei Thailand-Rettung: 'Warum interessieren zwölf Jugendliche mehr als tausende Ertrunkene?'”
Man kommt einer Antwort sicher auf die Spur, wenn man die bekannten journalistischen Auswahlfaktoren ins Spiel bringt, wie es Nora Frerichmann gestern an dieser Stelle getan hat. Aber an der Meedia-Formulierung – "Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Reporter auf Einzelschicksale und Ereignisse konzentrieren" – ist trotzdem ein Haken: In der Natur der Sache liegt es nicht. Wenn, dann in der Kultur der Sache. Wenn die werte Menschheit wollte, könnte sie es schließlich schon ändern.
Altpapierkorb (Ellen Ehni, Klaas Heufer-Umlauf, NSU-Urteilsverkündung, Frankreichs WM-Berichterstattung, "Babylon Berlin")
+++ News from the WDR: Sonia Mikichs Nachfolgerin als WDR-Fernsehchefredakteurin wird im September Ellen Ehni. kress.de hat die meisten offiziellen Zitate über sie. Hans Hoff in der SZ die meisten nicht vom WDR selbst verbreiteten Anmerkungen: "Bemerkenswert ist Ehnis Ernennung zur Chefredakteurin Fernsehen vor allem deshalb, weil es aus dem WDR lange geheißen hatte, es werde nach Mikichs Amtszeit keine eigene Chefredaktion fürs Fernsehen mehr geben. Vielmehr würden die Bereiche Fernsehen, Hörfunk und Internet in trimedialen Einheiten aufgehen." Den "lange gewünschten großen Schnitt" gebe es also nicht.
+++ "Mehr Poesie als Chauvinismus" – Jürg Altwegg schreibt in der FAZ Erstaunliches über die Berichterstattung französischer Medien über die Fußball-WM: "Die Medien berichten intensiv und auf hohem Niveau, aber entspannt. Die Sportseiten werden zu literarischen Veranstaltungen. (…) Das Stadion wird nicht mehr zum Schauplatz für das Rückspiel historischer Schlachten und vergangener Kriege hochgeschrieben. Die Historisierung in der Berichterstattung bleibt auf den Fußball beschränkt."
+++ Über die Spendenaktionen von Klaas Heufer-Umlauf für neue Schiffe zur Seenotrettung und Jan Böhmermann schreibt die taz.
+++ Warum es am Mittwoch keine Live-Bilder von der Urteilsverkündung im NSU-Prozess geben wird, schreibt Wolfgang Jahnisch in der SZ.
+++ "Vor dem Münchner Landgericht hat Thilo Sarrazin am gestrigen Montag von seinem ehemaligen Verlag, der Deutschen Verlagsanstalt (DVA), 843644 Euro Schadenersatz gefordert" (FAZ). Sarrazin, so fasst die SZ den Fall zusammen, "hat sich für sein neues Buch einer kompletten Lektüre des Korans unterzogen und leitet daraus offenbar Aussagen über die Integrationsfähigkeit muslimischer Einwanderer in Deutschland ab." Sein Verlag fand es "schwierig" (sic!), "Sarrazins Erkenntnisse über Koran und Islam zu überprüfen, zumal er es abgelehnt habe, das Gutachten eines Experten hinzuzuziehen." Was für ein Geschäftsmodell.
+++ David Denk hat bei der RBB-Hörspieladaption von "Babylon Berlin" zugehört (SZ, derzeit nur frei für Abonnenten).
Neues Altpapier kommt am Mittwoch.