Das Altpapier am 5. Juli 2018 Die Parlamentarier mit den Heckenscheren-Händen

Das EU-Parlament stimmt über die Reform des Urheberrechts ab, und es stellt sich die Frage, warum es nur jenes oder die Meinungsfreiheit sein darf. Denn wir wollen: beides! Frauen, die Fußballspiele kommentieren, sind eine Chance für die Gesellschaft. Kai Gniffke würde alles nochmal so machen. Die Deutsche Welle lernt Türkisch. Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.

Die Mitglieder des Europäischen Parlaments haben heute einiges vor. Drei Stunden möchten sie sich laut Tagesordnung am Vormittag aussprechen, und zwar über "Fälle von Verletzungen der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit" in Moldau, Somalia und Burundi.

Ab 12 Uhr folgen dann die Abstimmungen. Leidlich bekannt ist die ganz vorne platzierte mit dem schönen Titel "Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt", wenn auch unter ihren Künstlernamen "EU-Urheberrechtsreform" oder "Copyright-Novelle" (zuletzt Altpapier gestern).

Falls Sie die vergangenen Wochen doch unter einem Stein oder mit der Suche nach Horst Seehofers Masterplan verbracht haben (fürs nächste Mal: sowas lagert unser Horst immer gleich rechts vom Bernsteinzimmer), hat die umtriebige Meedia-Redaktion die wichtigsten Fakten sowie Stimmen für und wider zusammengetragen. Auf der Medienseite der SZ rekapituliert Thomas Kirchner:

"Kommt eine Mehrheit für die kürzlich beschlossene Version des Rechtsausschusses zustande, erhält Europa vermutlich bald ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger sowie neue Regeln, die Kreativen eine stärkere Position gegenüber den Internet-Plattformen verleihen würden. Genau so möglich ist ein Nein. Dann hätten sich vorerst jene durchgesetzt, die vor 'Upload-Filtern' und 'Zensurmaschinen' warnen; die Diskussion würde von vorne losgehen. (…) Die Sozialdemokraten sind aber ebenso gespalten wie die Grünen, Liberalen und andere Fraktionen, weshalb der Ausgang des Votums völlig offen ist."

Kein Wunder, dass bis zuletzt alle Lager noch einmal ordentlich trommelten.

Entweder: EU-Parlamentarier halten die Zukunft der Musik in den Händen

Begrüßen wir zuerst in der Pro-Ecke zwei Musiker, die unterschiedlich viele Zeichen benötigen, um auszudrücken: Urheberrecht super Sache!

"You hold in your hands the future of music here in Europe",

appelliert Paul McCartney, Vorname Legende, an die EU-Parlamentarier (via futurezone.at).

Küchenpsychologen dürfen gerne kurz über das "here" vor "in Europe" im großen Kontext Brexit nachdenken.

Etwas wortgewaltiger gibt sich bei Heise Komponist und Gema-Aufsichtsratmitglied Matthias Hornschuh. Er vollbringt das Kunststück, sehr aufgeregt unaufgeregte Differenzierung zu fordern. Aber es geht ihm um den Fortbestand und die Finanzierung seiner Berufung; als Journalist kann man die ein oder anderen Großbuchstaben also verzeihen.

Lesen wir rein:

"Was zur Zeit in Brüssel gebacken wird (…) ist kein 'Presseleistungsschutzrecht+Uploadfilter-Erlass', sondern eine Urheberrechtsrichtlinie. So wird es aber nicht behandelt. Das Urheberrecht ist – vor allem anderen – das grundrechtlich verbriefte und nicht-aufgebbare Recht der Urheber. In wie vielen Artikeln der letzten, aufgeheizten Wochen aber ist Ihnen auch nur ein einziger Urheber untergekommen? Gar zu Wort gekommen? Das kommt quasi nicht vor. Denn wir sind kompliziert: 'Das verstehen unsere Leser/Zuschauer/Hörer nicht!'"

Hatte ich nicht Wut und Aufregung versprochen? Moooment:

"Jeder Monat, den wir in diesem Prozess verlieren, ist ein weiterer Monat, in dem parasitäre Plattformen sich auf unsere Kosten mästen. Ein weiterer Monat, in dem Nutzungen stattfinden, ohne Genehmigung und ohne Vergütung. Ein Monat, in dem sich das irrlichternde Gewohnheitsrecht das doch wohl dürfen zu müssen zur verstiegenen Behauptung entwickelt, das alles habe irgendetwas mit 'Meinungsfreiheit' zu tun ... 'Grundrecht auf Game of Thrones'? Hatten wir schon mal. Kann wegfallen. So wie all die unerträglichen Lippenbekenntnisse von ahnungs- und haltungslosen Politikern, von wahnsinnig verständnisvollen Netzaktivisten, die schon immer besser als wir wussten, was für uns gut wäre, ohne verstanden zu haben, wie das, was wir tun, eigentlich funktioniert. Es reicht!"

Wer den ganzen Artikel durch hat und mehr möchte: In seinem Blog schreibt Hornschuh noch ausführlicher zum Thema. Man beachte auch die Bebilderung, die die Schöpfer (ganz recht, ich googelte "Synonym Urheber") von Farbverläufen interessieren dürften.

Im Kern hat Hornschuh recht: In den Berichten zur Urheberrechtsreform, die mir untergekommen sind, spielte das Urheberrecht nur die zweite Geige. Allerdings stellte auch niemand in Frage, dass dieses auch im Netz ein unterstützenswertes Anliegen sei. Die Frage ist ja eher, ob das EU-Parlament die richtigen Mittel wählt, um es zu erreichen.

Oder: EU-Parlamentarier operieren mit der Heckenschere an der Meinungsfreiheit

Damit willkommen in der Contra-Ecke und, natürlich, in der Spiegel-Online-Kolumne von Sascha Lobo, der es als Profi-Schreiber versteht, mögliche Folgen der Reform ganz praktisch runterzubrechen folgende:

"- Die Verbreitung von Links in sozialen Medien könnte enorm erschwert werden.

- Es könnte schwierig und/oder teuer werden, Bilder in sozialen Medien zu verbreiten.

- Die Bildersuche im Netz könnte in der EU abgeschafft werden.

- Texte, Bilder, Tonaufzeichnungen und Videos werden vor der Veröffentlichung gefiltert von einer kaum kontrollierbaren Maschine, von der niemand genau weiß, wie sie funktioniert."

Genau das meint Horschuh wohl, wenn er sich über eine unredliche Verkürzung auf einen "Presseleistungsschutzrecht+Uploadfilter-Erlass" mokiert.

Andererseits legt Lobo wiederum sehr plakativ dar, was das Problem der zu installierenden Filter wäre, indem er von praktischen Erfahrungen mit derartiger Technik bei Facebook berichtet, die Anzeigen für Gartenarbeit, Schamhaarfrisuren und Konzerte verhinderte, weil sie die Worte "Bush" und "Clinton" enthielten.

Das freundliche Bus-Reiseunternehmen "Merkel", das mir gestern den Fahrradweg zuparkte, könnte in einer solchen Online-Welt einpacken.

Lobo:

"Das ist die heutige Realität der Upload-Filter, die laut (CDU-EU-Parlamentarier und Verhandlungsführer für das Urheberrecht Axel, Anm. AP) Voss selbst der 'zugrundeliegenden Systematik' entsprechen. Das ist das feinziselierte Skalpell, mit dem Filter-Voss eine maximalinvasive Operation an geschützten Grundrechten wie Meinungsfreiheit vornehmen möchte."

In etwas EU-bürokratischeren Worten, aber dadurch auch angenehm unaufgeregt und differenziert argumentiert der europäische Datenschutzbeauftragte Giovanni Buttarelli derweil in seiner (englischsprachigen) Stellungnahme zur Urheberrechtsreform, die Stefan Krempl leider etwas krude formuliert bei Heise aufgreift.

Buttarelli begrüßt das Ziel der Reform ausdrücklich, und weist darauf hin,

"that the provisions contained in this proposal or the draft resolution do not aim to mandate general surveillance of activities on the internet. Given, however, the already endemic monitoring of people on the internet, there is a risk that this proposal would exacerbate the situation if the measures taken prove not to be 'appropriate and proportionate'."

Und zum letzten: Stephan Wolligandt, Inhaber eines Drei-Tweet-Accounts und dennoch Sprecher der Gruppe "Save the Internet", den Annette Mattgey für Lead digital, das "Fachmagazin für Digital-Professionals" aus dem W&V-Verlag, porträtiert:

"'Definitiv' kann er (Wolligandt, Anm. AP) die Argumente der Gegenseite verstehen. 'Wir sind nicht grundsätzlich gegen die Kontrolle des Urheberrechts, aber wir wollen weniger fehleranfällige und transparentere Methoden.'"

Womit wir festhalten können: Den Befürwortern des Urheberrechts geht es ums Elementare. Den Gegnern aber auch. Was zur Frage führt, warum hier überhaupt das Recht am eigenen Werk gegen die Meinungsfreiheit ausgespielt werden muss? Aber hey, heute ist Abstimmung, da kann man sich mit solchen Feinheiten nicht mehr aufhalten.

Altpapierkorb (Momentum Claudia Neumann, Türkisch-Deutsche Welle, typisch Bild-Zeitungs-Leser)

+++ Um an den Einstieg anzuschließen: weitere übersehene Themenbereiche liegen in Mosambik, Surinam und Turkmenistan. Über derartige blinde Flecken der Auslandberichterstattung informiert Deutschlandfunks "@mediasres".

+++ "Ob es weibliche Kommentatoren sind oder homosexuelle Spieler, Fußballer mit Migrationshintergrund – manche Menschen scheinen nicht akzeptieren zu wollen, dass ihnen das Altbekannte abhandenkommt. (…) Ihnen fehlt anscheinend die Fantasie, sich auszumalen, welche Chance es für die Gesellschaft bedeuten könnte, dass Frauen Fußballspiele kommentieren." ZDF-Fußballkommentatorin Claudia Neumann hat der Wochenzeitung Die Zeit ein Interview gegeben. Beim Tagesspiegel fordert Joachim Huber derweil vom ZDF, ihr die Kommentierung des WM-Endspiels zu übertragen. "Jedes Ereignis hat sein Momentum, Neumann bei der WM ist eines."

+++ "Vielleicht würde ich noch einen Satz dazu sagen, gemäß: 'Da ist noch nichts sicher, aber wenn...'. (…) Und dann würde ich genau den Text wieder wählen." Sagt Kai Gniffke ebenfalls im jetzt offenbar auch Medien-Magazin Die Zeit (Vorabmeldung) zu seinem umstrittenen Kommentar in den "Tagesthemen" (Altpapier am Dienstag).

+++ Der Etat der Deutschen Welle wird um 28 auf 325 Millionen Euro erhöht, sodass nun auch ein türkischsprachiges Angebot realisiert werden kann. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dazu eine Pressemitteilung herausgegeben, in der es heißt "Der Sender ist die Stimme Deutschlands in die Welt. Gerade in Zeiten internationaler Krisen wird sie immer wichtiger."

+++ Dass man als Verleger-Lobby Sender-Websites eine Presseähnlichkeits-Debatte ans Bein binden kann, hat man nun auch in der Schweiz entdeckt (Rainer Stadler, NZZ).

+++ Wie sich Politiker die Zukunft von ARD und ZDF vorstellen, lässt DWDL in Serie klären. Den Auftakt gibt Tabea Rößner von den Grünen.

+++ Wer gerne Bild-Zeitung liest? Mittelalte Männer ohne Abitur, hat das DJV-Magazin Journalist herausgefunden.

+++ Das Bildblog verdient nun genug (im Sinne von 4.200 Euro im Monat) durch seine Unterstützer und wird werbefrei.

+++ "Oasen in der vielbeklagten amerikanischen Fußballwüste" hat Nina Rehfeld für die Medienseite der FAZ () besucht.

Neues Altpapier gibt es morgen wieder. Über Rückmeldungen und Diskussion freuen wir uns @altpapier.