Das Altpapier am 18. Juni 2018 Black Friday
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Ist die jüngste Titanic-Aktion eine wirksamere Qualitätskontrolle als der Presserat? Während die mit Fragezeichen um sich werfende Neon sich verabschiedet, reüssieren Magazine, in denen alles klar ist. Und: die Fernsehähnlichkeit der nicht gedruckten Online-Presse. Ein Altpapier von Klaus Raab.
Es war 12.18 Uhr am Freitag, als die Nachrichtenagentur dpa meldete, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe in seiner Rede anlässlich des 125-jährigen Bestehens einer großen Mediengruppe an die "publizistische Verantwortung der Verlage" appelliert. In Steinmeiers Manuskript heißt es zum Beispiel: "Ob für einen Leser oder eine Million Leser – Journalisten müssen immer mit höchster Sorgfalt an ihren Artikeln arbeiten."
Es war 12.18 Uhr am Freitag, als zunächst der englischsprachige, drei Minuten später auch der deutsche Dienst der Nachrichtenagentur Reuters meldete, CSU-Chef Horst Seehofer habe "nach einem Bericht des Hessischen Rundfunks das Unionsbündnis mit der CDU aufgekündigt". Was nicht stimmte; es war kein Bericht des Hessischen Rundfunks, sondern der Tweet eines Titanic-Redakteurs.
Ironie der Gleichzeitigkeit.
Die Nachrichtenagentur Twitter hatte zuvor… Na ja, wer diese Kolumne liest, weiß, was passiert ist. Titanic-Redakteur Moritz Hürtgen hatte sein Twitter-Handle @hrtgn einem neuen – by the way, ziemlich originellen – Klarnamen zugeordnet ("hr tagesgeschehen"), die besagte Nachricht von höherer Priorität verschickt; und im Kreise jener Redaktionen, die immer die ersten sein müssen, fanden sich einige, die prompt sehr eilige Meldungen verschickten, bevor um 12.27 Uhr von der dpa ein korrigierender Hinweis verschickt, bald darauf auch von Reuters eine Korrektur gemeldet wurde.
Hinterher waren dann jene klüger, die vorher nicht die Deppen waren. br.de nannte das Ganze etwa "(e)in Lehrstück in Sachen Aufgeregtheit". horizont.net tat sich hervor mit der ausgeruhten Zeile "Titanic schockt Medien mit Satire-Tweet zu Unions-Aus – und das Netz flippt aus". Und auf sz.de erschien erstaunlich schnell ein Telefon-Interview mit Hürtgen. Egal, was man von seiner Aktion hält – auch dazu wurde bald unter prominenter Beteiligung kontrovers getwittert –, der Satz, den er darin sagt, ist unzweifelhaft richtig: "Ich finde es beinahe besorgniserregend, dass das so einfach geht."
Das Positive: Als praktische Medienkritik funktioniert die Hürtgen-Aktion. Zur Qualitätskontrolle ist sie hilfreicher als der Maßnahmenkatalog des Presserats. Selbst eine Rüge kriegt außerhalb der Branche kaum jemand mit. Eine Eilmeldungs-Korrektur, die direkt auf die kleinen Fummelgeräte der Kundschaft geschickt werden muss, wird viel breiter wahrgenommen und ist deshalb schlechter fürs Geschäft.
Aber zurück zum weniger Positiven: Zu viel Lernfähigkeit sollte man wohl nicht voraussetzen.
Börse, Börse!
Die Geschichte ging noch weiter: Das SZ.de-Interview mit Hürtgen gehört auch selbst zum "Lehrstück in Sachen Aufgeregtheit": Was darin anklingt – "Die Reaktionen auf Ihren Tweet waren enorm. An der Börse ist sogar der Dax kurz eingeknickt", hieß es in einer Frage –, stand am Samstag dann auch in der gedruckten Süddeutschen (Seite 2): "Auch Börsenhändler haben Reuters abonniert, um schnell auf Nachrichten zu reagieren. Und das taten sie dann auch: Der Dax verlor nach der Falschmeldung fast ein halbes Prozent."
Der kausale Zusammenhang, der hier suggeriert wird und sich von da aus weiterverbreitete, ist allerdings das Ergebnis einer, sagen wir, ebenfalls nur mittelausgeruhten Analyse. "Blödsinn" wird er am Anfang, "völlig spekulativ" am Ende dieses Threads genannt. Und bei handelsblatt.com heißt es: "Das plötzliche Minus ist allerdings nicht mit Sicherheit auf die Falschmeldung zurückzuführen. Am heutigen Handelstag werden an den Terminmärkten Optionen und Futures auf Aktien und Indizes fällig. Ein volatiler Handel war bereits im Vorfeld erwartet worden."
Es war also in gewisser Hinsicht ein Black friday für "die Medien" – wobei man auch sagen muss: "Die Medien" sind bei Weitem nicht "alle Medien".
Welche stolperten – in welcher Hinsicht auch immer – über die Titanic-Geschichte und welche nicht?
Eine Unterscheidung in schlechte Verlagsmedien und gute Öffentlich-Rechtliche, die bei der Nachrichtenagentur haha Twitter am Freitag kursierte (z.B. hier zu bewundern), ist nicht zielführend. Der "Faktenfinder" der "Tagesschau" wies darauf hin, dass auch etwa tagesschau24 zunächst vom Ende des Unionsbündnisses von CSU und CDU berichtet hatte; Stefan Niggemeier ergänzte alsbald um Phoenix und WDR.
Die Erzeugnisse von Verlagen, an deren publizistische Verantwortung der Bundespräsident appelliert, hatten also Gesellschaft. Was die Frage aufwirft, wie sich die deutsche Medienlandschaft sinnvoll typologisieren lässt.
Zum Beispiel Affektinkontinenz statt Presseähnlichkeit
Besser als eine Unterscheidung in presseähnliche und nicht presseähnliche wäre vielleicht eine in schnelle und lieber mal etwas weniger schnelle bzw. in affektinkontinente und weniger affektinkontinente.
Aber nö: Unterscheidbarkeit nach dem Grad der Presseähnlichkeit muss es sein. Die einen nennen sich Presse, also dürfen die anderen nicht ähnlich sein. Das ist ja nun nach Jahren des Nordkorea-Konflikts zwischen Verlagen und Öffentlich-Rechtlichen eines der Ergebnisse der Friedensverhandlungen (Altpapiere vom Donnerstag und Freitag).
Aber nur weil man die einen x nennt und die anderen nicht x-ähnlich, ist noch lange keine kluge Einteilung erreicht. Stefan Niggemeier räumte nach dem Ende des "ewige(n) Streit(s) über den sogenannten Telemedien-Auftrag für ARD und ZDF" bei Übermedien nochmal ein wenig auf:
"(D)ie ganze Idee, dass im Zeitalter von Multimedia und Konvergenz der Online-Auftritt eines Fernsehsenders drastisch anders aussehen muss als der einer Zeitung, ist ein Anachronismus. Für jüngere Generationen ist vermutlich heute schon nicht klar, was ein 'Fernsehsender' im engeren Sinne ist. Sie verbinden die Videos, die sie sehen, und die Texte, die sie lesen, im Zweifel nicht mit einem klobigen Gerät im Wohnzimmer einerseits oder einem Druckerzeugnis aus Papier andereseits. Dass die Verleger sich mit dem überaus analogen Begriff der 'Presse' behelfen müssen, um eine gewisse Textlastigkeit zu beschreiben, ist bezeichnend." (…)
"Das ist auch deshalb ein Anachronismus, weil die Online-Angebote der Zeitungen längst viel mehr sind als elektronische Versionen von Druckwerken." Seine Beispiele: bild.de und welt.de, "der multimediale Auftritt einer Nachrichtenmarke, zu der mehrere Papierzeitungen ebenso gehören wie ein Fernsehsender". (…) "Sollen die Nachrichtenangebote von ARD und ZDF im Netz auch klar unterscheidbar bleiben von solchen multimedialen Verlagsangeboten? Wie? Und warum? Niemand kann privaten Medien-Angeboten im Netz untersagen, immer mehr auch wie ein Fernsehsender aufzutreten und zu wirken. Sie selbst sind immer weniger 'presseähnlich'."
Die letzte Neon, oder: Antworten statt Fragen
Noch eine Unterscheidung bietet sich an, um den Medienmarkt zu typologisieren: Es gibt Magazine, denen "(h)inreichend prominente Persönlichkeiten wie die Moderatorin Barbara Schöneberger, der Fernseharzt Eckart von Hirschhausen, der Fernsehkoch Johann Lafer oder der Entertainer Joko Winterscheidt (…) einem beliebigen, aber zu ihren Schwerpunkten grob passenden Magazin ihre Identität" überstülpen (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung).
Und es gibt Neon, von der am heutigen Montag die letzte Ausgabe erscheint – was Anlass ist für einen zweiten Schwung freundlicher Nachrufe (hier der erste, erschienen nach der Einstellungsnachricht).
Warum reüssieren aber die ersteren und Neon nicht mehr?
Zunächst wären da natürlich die bekannten hausgemachten Gründe für das Aus der Neon zu nennen, die David Denk in seiner teilnehmenden Abschiedspartybeobachtung in der SZ am Rande zitiert. Kurzfassung: Missmanagement.
"Der Umzug von München nach Hamburg 2013, den fast die Hälfe der damaligen Redaktionsmitglieder nicht mitmachte, markiert eine Zäsur in der Geschichte des Magazins." – Dann: "neue Chefredaktionen, neue Art-Direktoren, erst ein sogenanntes Rebrush, dann ein Relaunch. Erst setzte man auf die Themenbereiche Food und Spießigkeit, dann auf Coolness und Hipster." usw.
Aber weil "Zeitschriften, die für ein gewisses Lebens- oder Generationengefühl stehen, (…) ohnehin kurzlebig" sind, wie Altpapier-Kollege René Martens in der taz schreibt, ist es schon richtig, sich anzuschauen, worin der Unterschied in der Gefühlsvermittlung zwischen Neon und den Nachfolgern mit den Prominentennamen besteht:
Neon, schreibt Julia Kopatzki im Tagesspiegel, "hat über Jahre denen eine leserische Heimat gegeben, die mehr Fragen als Antworten hatten. Und auch wenn 'Neon' selbst meistens mehr Fragen als Antworten hatte, so fühlte man sich zumindest nach jeder Ausgabe etwas weniger allein."
Ganz anders Magazine von Schöneberger, Hirschhausen oder Lafer in ihrer "Melange aus guter Laune bei bester Gesundheit", so Timon Karl Kalyeta in einem wirklich lustigen Text in der FAS: Sie würden, genau wie Joko Winterscheidts JWD, funktionieren
"wie Oasen der Zuordenbarkeit – über die Person wird Vertrauen hergestellt und gleichsam eine identifizierbare Verantwortlichkeit delegiert. Ganz so, wie Claus Hipp einst für seine Babynahrung warb: 'Dafür stehe ich mit meinem guten Namen.' Wer lässt sich denn noch von einer gesichtslosen Chefredaktion entflammen?"
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Altpapierkorb (WM-Fernsehkritik, Günter Bannas, Abmahnung, ZDF-Dokumentarfilm)
+++ Eine Fußball-WM bietet viele schöne Anlässe für Fernsehkritiken, die wahrscheinlich sogar gelesen werden. Der Tagesspiegel verteidigt ZDF-Live-Reporterin Claudia Neumann gegen "überzogene Pauschalkritik": "Bei vielen negativen Tweets zu Claudia Neumann scheint allerdings vor allem das Geschlecht aufzustoßen." Anja Rützel macht bei Spiegel Online (Transparenzhinweis: für das ich auch manchmal über Fernsehen schreibe) Lust auf vier Wochen Fußballfernsehkritik. Und Übermedien hat mal die seriösesten Spielprognosen der Öffentlich-Rechtliche zusammengeschnitten.
+++ War früher alles besser, Günter Bannas? Die taz hat den kürzlich in den Ruhestand gegangenen Kanzlernachlatscher von der FAZ über Schiffsmodellbau und Politikjournalismus interviewt. Was er kritisch sieht: "Wenn der Austausch von Argumenten nicht mehr ernst genommen wird, Politik nur entlang von Reizworten und persönlichen Konflikten erzählt wird, ist diese Berichterstattung nicht mehr ausreichend für eine funktionierende Demokratie." Worin er dagegen keine Verschlimmerung zu früher erkennt: im Journalisten-Hang zur Politikberatung. "Den gab es früher (…) genauso, vielleicht fast noch stärker. Um Hans-Dietrich Genscher als Außenminister gab es einen Kreis von Journalisten, die ihm immer erzählen wollten, was Deutschland jetzt zu tun oder zu lassen habe. Manche nannten sich da sogar: 'diplomatischer Korrespondent'. Das fand ich doch etwas albern."
+++ Wegen der Veröffentlichung eines Texts im Rahmen der MeToo-Debatte in der taz wurde der Journalist Harald Schumacher von seinem Arbeitgeber, der Handelsblatt-Gruppe, abgemahnt. Die taz und die SZ berichten: "Der Verlag wirft ihm einen Verstoß gegen die Regeln seines Arbeitsvertrages vor. Er dürfe zwar gelegentlich auch für andere Publikationen tätig werden, allerdings bedürfe es der schriftlichen Einwilligung der Chefredaktion, wenn er dabei die ihm während seiner Tätigkeit für den Verlag bekannt gewordenen 'Nachrichten und Unterlagen' weiterverwerte. Diese schriftliche Einwilligung habe er aber nicht eingeholt."
+++ Zu viele Talkshows? Faz.net will nicht ohne.
+++ "Als Paul über das Meer kam" (ZDF, 23.55 Uhr) ist der empfohlene Film des Tages, ein Dokumentarfilm (siehe Uhrzeit). evangelisch.de, tagesspiegel.de und Abendblatt.de via dpa haben Rezensionen.
Neues Altpapier gibt es am Dienstag.