Das Altpapier am 4. Juni 2018 Journalisten, hört alle Seiten
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Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel ist echt mal ein geiler Laden, meint zumindest sein Chef. Der Fall Babtschenko klingt endgültig wie eine neue Staffel von "The Americans", mit Blick auf den Fußboden sowie nach beiden Seiten können Journalisten aber den Überblick behalten. Die DSGVO hat das Internet kaputt gemacht. Wie punk ist eigentlich Instagram? Ein Altpapier von Juliane Wiedemeier.
Klaus Brinkbäumers Schultern möchte man auch nicht sein. So gewissenhaft und voller Überzeugung, wie dieser sich auf jene zu klopfen versteht, müssen sie schon ganz wund und blutig sein.
Das ist keine ganz neue Erkenntnis, findet sich aber in der aktuellen Ausgabe des von Brinkbäumer verantworteten Nachrichtenmagazins auf Seite 72/73 (€) so eindrücklich bestätigt, dass es hier eine gesonderte Erwähnung verdient.
Eigentlich möchte Brinkbäumer von der ersten Leserkonferenz im Spiegel-Haus berichten, die vor einer Woche stattgefunden hat. Doch bevor er dazu kommt, sind zwei Drittel des Textes bereits mit Sätzen wie
"Wenn wir vom SPIEGEL über den SPIEGEL diskutieren, kommen wir meist zu dem Schluss, in den vergangenen Jahren habe sich einiges verändert. Wir halten uns für offener, für differenzierter als früher, schon rein sprachlich für vielseitiger und darum im Urteil für weniger holzschnittartig",
"Wir glauben, dass wir uns selbst so scharf beurteilten, wie wir die Regierung oder VW kritisieren"
oder
"Die Kritik trifft mutmaßlich sämtliche Medien, den SPIEGEL aber, da die stärksten Marken in jeder Branche im hellsten Licht stehen, gewiss nicht weniger als die anderen",
verstrichen. Rein sprachlich verdienen sie allen Respekt, denn Selbstkritik so selbstgerecht klingen zu lassen, ist eine wahre Kunstform, die wir in Zukunft Spiegelismus nennen wollen. Andererseits zeigt sich hier genau die Arroganz, die Journalisten auf Beliebtheitslisten immer gleich hinter den Steuerfahndern platziert.
Einmal eingegroovt, nutzt Brinkbäumer auch das letzte Text-Drittel, um die bei der Konferenz vorgebrachte Kritik der Leser umzudeuten in Lob aufs eigene Haus. "Der eine oder andere Widerspruch ließ sich nicht auflösen: Dass wir zu aggressiv seien, hörte ich oft; das wir zahnlos geworden seien, hörte ich genauso oft", ist dafür nur ein weiterer Beispielsatz.
Wie gesagt: Klaus Brinkbäumers Schultern möchte man nicht sein; Klaus Brinkbäumer aber durchaus. Denn irgendwie muss es auch schön sein, im Jahr 2018 als Journalist so überzeugt zu sein, den richtigen Weg zu kennen und auch zu beschreiten. Jenseits der Ericusspitze, deren größte Sorge demnach weiterhin die Auslagerung der Orangensaft-Pressung an externe Dienstleister zu sein scheint, ist die Welt nämlich komplizierter.
Verräterischer Fußbodenbelag im Fall Babtschenko
Beweisstück A: Der Fall des russischen Journalisten und aktuell wohl berühmtesten Untoten Arkadi Babtschenko (zuletzt Altpapier am Freitag).
Wie man schon früh hätte darauf kommen können, dass der Mord fingiert war, lässt sich bei BBC Monitoring nachlesen und als zu überprüfende Indizienkette auch gleich in Faktencheck-Seminare übernehmen. Achten Sie auf den Fußbodenbelag! Weil:
"The photo appeared to show him lying indoors on a polished wooden floor, thereby contradicting Trakolo’s assertion that he was shot outside his flat. TV footage from outside Babchenko's flat also showed different flooring."
Ganz andere Folgen für ihren Arbeitsalltag erleben derweil mindestens 17 ukrainische und russische Journalisten, die sich auf einer Todesliste russischer Geheimdienste wiederfinden sollen, wie der Generalstaatsanwalt der Ukraine am Wochenende mitteilte, worüber in der taz Bernhard Clasen berichtet. Den Betroffenen werde nun Personenschutz gewährt, so der Staatsanwalt, was vernünftig klingt, bis man folgende Einschätzung kennt:
"Alexander Dubinski vom Fernsehkanal '1+1' fürchtet, dass die 'Todesliste des Kreml' den ukrainischen Machthabern ermögliche, unliebsame Journalisten loszuwerden. Warum sollte Putin Journalisten aus dem Weg räumen wollen, die die Machthaber kritisierten, fragt er sich.
Der Jurist Andrej Portnow warnt vor einer Überwachung von Journalisten durch Personenschützer. Diese würden sich nicht nur auf den Personenschutz beschränken. Vielmehr können sie sich ein genaues Bild machen von Fahrten, die ein Journalist unternimmt. Sie könnten zuhören, mit wem der zu Schützende telefoniere und wer ihn besuche. Ein Personenschützer könne auch elektronische Kommunikation überwachen."
Wer schützt hier wen vor was, und mit welchem Effekt? Allein alle offenen Fragen aufzuzeigen, erscheint mir hier der journalistischen Herausforderung genug.
Die fünf PR-Tricks des Wladimir Putin
Bei der Deutschen Welle, die dieser Tage ihren 65. Geburtstag feiert, begegnet man derartigen Aufgaben mit dem Klassiker, auch die andere Seite zu hören, wie Intendant Peter Limbourg am Wochenende im Tagesspiegel-Interview mit Joachim Huber erklärte:
"Wir verstehen uns als Stimme von ganz Deutschland, wir transportieren immer die Ansichten von Regierung und Opposition - wir sind vielseitig, nicht einseitig in unserer Berichterstattung. (…) Bei Sendern in autokratischen Staaten finden Interviews mit Oppositionspolitikern oder Dissidenten kaum bis gar nicht statt. Das ist der Unterschied zur Deutschen Welle."
Als Lohn für diese Bemühungen verzeichne man 96 Prozent Nutzer, die die Deutsche Welle glaubwürdig oder sehr glaubwürdig fänden, so Limbourg. Wobei zu ergänzen wäre, dass jemand, der einem Medium nicht glaubt, dieses wohl auch nicht nutzt.
Um den Themenkomplex "Berichten aus und über Russland - gar nicht so einfach" für heute abzuschließen, bliebe damit nur noch ein Hinweis auf das Blog von Armin Wolf. Am Freitag interviewte dieser für das österreichische Fernsehen Wladimir Putin. Gesendet wird das Ergebnis heute Abend um 20.15 Uhr bei ORF2; im Vorfeld verrät Wolf nicht nur ein paar Hintergründe zum Zustandekommen des Termins und ein paar Themen
("ich wollte wissen, ob in Nordkorea ein Atomkrieg droht, unter welchen Bedingungen Russland die Krim wieder aufgeben würde, warum Putin den Namen des Oppositionellen Alexej Nawalny noch nie öffentlich ausgesprochen hat und warum es so viele Fotos des Präsidenten mit nacktem Oberkörper gibt"),
sondern auch fünf klassische Antwort-Strategien des russischen Präsidenten:
"1. Er repliziert meist sehr ausführlich. Knappe Antworten sind selten, fast immer wird es grundsätzlich.
2. Er liebt Gegenfragen – für einen Interviewer immer unangenehm.
3. Er ist ein Meister des sog. Whataboutism – also des Ablenkens auf ein anderes Thema oder zumindest einen anderen Aspekt des Themas.
4. Wenn er etwas dementieren will, dementiert er, egal wie viele Belege es für einen Vorhalt gibt.
5. Und wenn er unterbrochen wird, kritisiert er das sofort – als unhöflich, ungeduldig oder voreingenommen. Um dann seine ursprüngliche Antwort fortzusetzen."
Putin ist eben PR-Profi, doch Wolf dafür auch professioneller Journalist. Das könnte sehenswert werden, heute Abend.
Pro-Tipp: Demonstrieren und trotzdem Zuhören
Letzter "Es ist kompliziert"-Stopp vor dem Altpapierkorb: Noch ein Beitrag zur Debatte, ob man als Journalist denn nun gegen die AfD demonstrieren darf/soll/muss oder nicht (s. Altpapier). Andrej Reisin hat ihn für die Website von "Zapp" verfasst, wo er die Meinung vertritt, Objektivität sei eine Chimäre, das aber kein Problem.
"Um zu verhindern, dass man in Berichten nur die eigene Sicht darlegt, hilft es daher, offen nach allen Seiten zu recherchieren, die besten Argumente der Gegenseite zu hören und wiederzugeben - und mögliche eigene Interessenskonflikte transparent darzustellen."
Alle Seiten hören und dem Leser, Zuschauer und Nutzer damit die Gelegenheit geben, sich selbst ein Bild zu machen - so einfach kann es also auch sein.
Altpapierkorb (#MeToo, DSGVO, "Late Night Berlin", Journalisten als Experten)
+++ "Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist es nicht anders als in einem Theater, in einer Stadtreinigung oder in einer Metzgerei. Übergriffe, Grenzüberschreitungen, auch Kriminalität, gibt es überall. Entscheidend ist, ob die Opfer Gehör finden oder ob man sie lächerlich macht, sie entwertet", sagt die ehemalige RBB-Intendantin Dagmar Reim im DWDL-Interview zur #MeToo-Debatte. Bereits am Freitag verkündeten 17 Medienunternehmen, darunter ARD und ZDF, einen Verein als Träger für eine unabhängige Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt gegründet zu haben.
+++ Noch ein paar Gedanken zur gemeinsamen Hauptstadtredation von Dumont und Madsack gefällig? Anne Fromm in der taz und Altpapier-Kollege Klaus Raab im Medientagebuch der Wochenzeitung Der Freitag hätten da noch welche im Angebot, die sich überraschenderweise leicht unterscheiden vom "Wir ziehen uns keineswegs zurück"-Sound, den Dumont-Chef Christoph Bauer im Interview mit Caspar Busse im SZ-Wirtschaftsteil (€) anschlägt.
+++ "Die DSGVO hat mein Internet kaputt gemacht, und wer auch immer sich für dieses zerstörerische Monstrum verantwortlich zeichnet, ist entweder ein Arschloch oder sich nicht bewusst, was seine Taten für Folgen haben können. Ich weiß nicht, was schlimmer ist." Das ist Hans Hoffs Thema in seineR DWDL-Sonntagskolumne.
+++ Überraschung! "Late Night Berlin" gibt es noch - auch wenn das außerhalb des ProSieben-Programms keiner bemerkt. Woran das liegt, also das mit dem Bemerken, analysiert auf der Medienseite der SZ Julian Dörr.
+++ Experten sind bei Journalisten beliebt; bei der Schweizer Mediengruppe Tamedia sollen ausgewählte Redakteure selbst welche werden, und zwar in Bereichen wie Recherche, Lokaljournalismus, Datenjournalismus oder Infografik. Was das soll, erklärt Rainer Stadler in der NZZ.
+++ Auf einer Skala von tote Hose bis Mickie Krause, wie punk ist es eigentlich, einen Account bei Instagram zu haben? Diese Frage klären wir nach der nächsten Maus; zunächst hat Harald Staun auf der Medienseite der FAS (€) noch folgende, letzte Anmerkungen zum verstörenden Klopp-Kerner-Campino-Video von vorvergangenem Wochenende: "Alles an dem Video will echt sein, spontan, unkalkuliert. Man kann den Gestank der Authentizität förmlich riechen. Aber selbst wenn nichts an der Szene gespielt ist, ist doch alles an ihr falsch (…). Alle drei sind, was Klopp einmal über sich gesagt hat, 'the normal ones'. Das heißt aber nicht, dass sich auch die Sympathien multiplizieren, wenn sich die drei Normalos in den Armen liegen. Es erhöht eher die Chance, dass sich die Abneigung gegen einen von ihnen auf alle überträgt."
Frisches Altpapier gibt es morgen wieder.