
Kolumne: Das Altpapier am 2. April 2025 Das 20. Jahrhundert ist vorbei
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02. April 2025, 14:05 Uhr
Journalisten eilen gehorsam den Opfer-Inszenierungs-Narrativen von Rechtsextremen voraus. Ein Oberlandesgericht versteht nicht oder will nicht verstehen, welch fundamentale Bedeutung der Informanten- und Quellenschutz für den Journalismus hat. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Wird uns die Wahrheit retten?
- Quellenschutz in Gefahr
- Ein unüberraschendes und unspektakuläres Urteil
- Die neuen Faschisten brauchen keine Journalisten
- Umfragen sind Ausdruck "politisch-medial hergestellter Vorstellung von Realität"
- Altpapierkorb (Schweizer Fernsehen wandert mit Neonazis; heute vor 100 Jahren wurde Hans Rosenthal geboren; Correctiv-Chefredakteur lobt Dokumentarfilm über Correctiv-Recherchen)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Wird uns die Wahrheit retten?
Wie geht man mit Journalisten um, die den aktuellen Faschismus in den USA verharmlosen? Die sich entschieden haben, in einer Puppenstubenwelt zu leben und ihre Arbeit nicht zu machen? Eine Anregung dafür liefert die US-amerikanische Medienkritikerin Margaret Sullivan in ihrem Substack. Erst einmal schreibt sie:
"In dieser Zeit der Lügen, des Spin und der Orwellschen Manipulation von Wörtern (Beispiel A: 'Department of Government Efficiency') brauchen wir eine klare Sprache. Wir brauchen Formulierungen, die den Kern dessen treffen, was passiert, ohne Schönfärberei, Euphemismus oder nette Wortspiele."
Eines der von Sullivan herangezogenen Beispiele dafür, wie man es nicht machen sollte, stammt von der "New York Times":
"Als Trump der Smithsonian Institution befahl, die amerikanische Geschichte weiß zu waschen, spielte die Times den Stenographen: 'Trump fordert Smithsonian auf, 'amerikanische Größe' zu fördern.' Und die Washington Post schlug sanft zu: 'Trump will das Smithsonian umgestalten'."
Einen ähnlichen Tonfall hatte bei diesem Thema auch tagesschau.de auf Lager (mit Dank an @sektordrei.bsky.social für den Hinweis). "Trump will mehr Nationalstolz in US-Museen" und "Jetzt will er auch das Programm der berühmten Museen der Smithsonian Institution neu ausrichten" - so lauten Formulierungen über und in dem Text. Der gute Mann, der einen Befehl, Geschichte zu fälschen, als Neuausrichtung beschreibt (Ralf Borchard heißt er), wird es sicherlich noch weit bringen.
Sullivan konstatiert:
"Ich habe keine Ahnung, ob uns die Wahrheit, wenn sie klar und mutig ausgesprochen wird, retten wird (…) Aber ich weiß, dass wir wirklich verloren sein werden, wenn alle einfach aus Angst nachgeben."
Sie verknüpft ihre Feststellungen mit einem Aufruf:
"When you see politicians or journalists capitulating, or soft-pedaling, or appeasing, call it out."
Denn:
"Die Geschichte lehrt uns, dass Tyrannen nicht beschwichtigt werden können."
Sullivan ruft aber nicht nur dazu auf, Faschismus-Verharmloser zu benennen, sondern auch "Wertschätzung" zum Ausdruck zu bringen, wenn Journalisten durch "Mut und Direktheit" auffielen. Das sei "wichtiger als Sie denken".
Ein Plädoyer für Klarheit liefert auch der in Odense lehrende Medienwissenschaftler Curd Knüpfer in einem Gespräch mit dem DLF-Magazin "@mediares" "zur Frage, wie Medien mit dem Faschismus-Begriff umgehen sollten". Knüpfer sagt, "in Anbetracht dessen, was wir (in den USA) erleben (und) was wirklich hochgradig besorgniserregend ist", sollte es "nicht die Aufgabe der Medien sein, die Leute (…) ruhig zu halten oder nicht aufrütteln zu wollen". Die Institutionen des Journalismus müssten sich fragen,
"ob es noch angebracht ist, die Heuristiken, das Gelernte des Rundfunkjournalismus des 20. Jahrhunderts zu bedienen, wo man sich eben in dieser Rolle gefunden hat, dass man sich zurückhält, neutral verhält, sehr vorsichtig ist, darauf wartet, dass irgendwelche anderen Institutionen im Prinzip was sagen".
Was Knüpfer danach sagt, fasst Interviewer Sebastian Wellendorf mit den Worten zusammen, die Medien müssten nun "zwei Gänge höher schalten".
Quellenschutz in Gefahr
Wenn es eine Journalistin verdient hat, für "Mut und Direktheit" (Sullivan) gewürdigt zu werden, ist es die heutige "Kontext"-Chefredakteurin Anna Hunger. Pressekammern hiesiger Gerichte halten manchmal aber nicht allzu viel von Mut und Direktheit, und diese Erfahrung musste "Kontext" in der vergangenen Woche beim Oberlandesgericht Frankfurt/Main machen. Die Wochenzeitung darf nun nicht mehr den Namen eines Neonazis nennen, der für zwei AfD-Abgeordnete im baden-württembergischen als Mitarbeiter tätig gewesen war. Die Zeitung (für die ich ungefähr einmal pro Jahr schreibe) blickt in ihrer aktuellen Ausgabe folgendermaßen zurück:
"Im Mai 2018 erschienen bei Kontext zwei Artikel, von denen wir damals nicht ahnten, dass sie uns sieben Jahre lang beschäftigen sollten. Unserer Redakteurin Anna Hunger wurden damals Chatprotokolle eines Mannes zugespielt, der für zwei AfD-Abgeordnete im baden- württembergischen Landtag arbeitete. Facebook-Chats, die sehr viele Scheußlichkeiten in Wort und Bild enthielten. Wir entschieden uns dazu, Teile daraus zu veröffentlichen, weil wir meinen, dass genau das der Job von Journalisten ist: aufdecken, was im Verborgenen bleiben soll. In diesem Falle: aufzeigen, wie Mitarbeitende von parlamentarischen Abgeordneten, Leute, die in der Herzkammer der Demokratie arbeiten, ticken, wenn keiner zuhört. Wir entschieden uns auch, den vollen Namen des Mitarbeiters zu nennen. Um andere Mitarbeitende nicht zu diskreditieren und weil nur konkrete Benennung auch trifft."
Die Artikel waren in gewisser Hinsicht ihrer Zeit voraus:
"Wie rechtsextrem zumindest das Umfeld der Partei schon damals war, zeigen die Facebook-Chats des Mitarbeiters. Chats mit mehr als 130 Chatpartner:innen, mit NPD-Funktionären, AfD-Funktionären, mit europäischen Rechtsradikalen, Burschenschaftlern, aber auch mit Familienmitgliedern, Freunden. Die zitierten Stellen offenbarten das Weltbild eines Neonazis. Doch der behauptete schon damals, die Chats seien an den zitierten Stellen manipuliert worden. Und er zerrte uns vor Gericht. Erst im Eil-, dann im Hauptsacheverfahren."
Im letzteren vorm OLG Frankfurt/Main nun also mit Erfolg. "Kontext" schreibt weiter:
"Es war schon in der mündlichen Verhandlung am 20. Februar 2025 irritierend, als die Pressekammer des OLG unsere Redakteurin Anna Hunger fragte, ob sie nicht doch einfach sagen wolle, von wem sie die Informationen bekommen habe? Die ausgedruckt 17.000 Seiten Chatprotokolle? Nein, selbstverständlich wollten wir nicht preisgeben, wer uns die Chats des Rechtsextremen zugespielt hat (…) Denn Informantenschutz ist ein zentrales Prinzip im investigativen Journalismus und hat in Deutschland quasi Verfassungsrang."
Katharina Viktoria Weiß, Pressereferentin von Reporter ohne Grenzen Deutschland, ordnet die Sache in einem weiteren "Kontext"-Beitrag, in dem neun Statement-Gebende zu Wort kommen, folgendermaßen ein:
"Mit diesem Urteil löst das Oberlandesgericht Frankfurt am Main eine Diskussion über die Grenzen der Pressefreiheit und unser aller Recht auf Information aus. Zwei Gerichte haben zuvor die Recherchen von Kontext für zulässig gehalten, unter anderem, weil sie darin einen wichtigen Beitrag zur die Öffentlichkeit beschäftigenden Diskussion um rechtsextreme Bestrebungen im Umfeld der AfD sahen. In der Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz hat nun das Oberlandesgericht die Grenzen der Pressefreiheit deutlich enger gezogen als die vorherigen Entscheidungen. Aus Sicht von Reporter ohne Grenzen (RSF) ist das jüngste Urteil bedenklich, denn es geht hier um die Frage, ob ein Medium seine Quellen offenlegen muss."
Ein unüberraschendes und unspektakuläres Urteil
Jochen Bittner, der "berechenbare Provo-Onkel von der 'Zeit'" (Altpapier im Sommer 2019), hat seit Montag seinen Berüchtigtheits-Status ausgebaut - dank einer Wortmeldung bei X. Die in Paris verhängte Freiheits- und Geldstrafe und der Entzug des passiven Wahlrechts für Marine Le Pen könnten einen "Demokratieschaden" nach sich ziehen, schwadronierte er. Jochen Bittner hat übrigens auch mal eine empfindliche Niederlage vor Gericht hinnehmen müssen (Altpapier, "Spiegel"), das zumindest hat er mit Le Pen gemeinsam.
Bittneresk äußerte sich dann auch Leo Klimm in einem "Spiegel"-Kommentar ("Der Richterspruch wird Le Pens Partei sogar nützen", "Frankreichs Rechte haben die perfekte Vorlage für die Selbstinszenierung als Polit-Märtyrer bekommen"). "Spiegel"-Redakteurin Ann-Katrin Müller kritisierte daraufhin den Kollegen aus dem eigenen Haus zwar nicht direkt, aber implizit:
"Es wäre schon echt toll, wenn Journalisten aufhören würden, sich Sorgen zu machen, welche Opfererzählung die extreme Rechte als Nächstes für sich nutzen könnte. Sie werden nämlich immer eine finden. Rechtsstaatlichkeit muss es trotzdem geben."
Der freie Autor Friedemann Karig sieht es ähnlich:
"(Die) Rechtsextremen (…) vor dem Rechtsstaat beschützen zu wollen, in Angst vor ihrer erwartbaren Opfer-Inszenierung, ist vorauseilender Gehorsam vor ihrem Narrativ. Wahr ist: Sie viktimisieren sich sowieso. Die Aufgabe einer wehrhaften Demokratie ist es, dass sie es so weit weg von Macht wie irgend möglich tun."
Bemerkenswert ist allemal, dass nicht nur die Heiopei-Fraktion das Strafmaß des Urteils kritisiert, sondern zum Beispiel auch ein Autor des linksradikalen Magazins "Jacobin" und der in der Regel klug argumentierende taz-Auslandsredakteur Dominic Johnson (siehe zum Beispiel dieses Altpapier). Die taz hat sich bei diesem Thema für das vermaledeite Pro-und-Contra-Format entschieden - was für Nadia Zaboura ein Anlass für ein paar grundsätzliche Worte ist. Johnson nimmt hier die Contra-Position ein.
Angesichts der wilden Einschätzungen des Urteils lohnt es sich, einen genauen Blick auf die Entscheidung zu werfen. Charlotte Schmitt-Leonardy tut es für verfassungsblog.de:
"Konkret sah es das Gericht in Paris als erwiesen an, dass parlamentarische Assistenten der rechtsextremen Partei für ihre vertraglich eingegangenen Pflichten im Europäischen Parlament entlohnt wurden, obgleich sie in Wirklichkeit ihre Arbeitszeit auf die Parteiarbeit in Paris verwandten und zum Teil den ihnen zugewiesenen Beamten in Brüssel noch nie begegnet waren. Die Anklageschrift betonte dabei nicht zuletzt den systemischen Charakter dieser Untreue und zeichnete minutiös die Architektur eines 'système organisé' der Veruntreuung nach, an dessen Spitze Marine Le Pen stand."
Instruktiv ist in Schmitt-Leonardys Text vor allem die Passage zu den juristischen Hintergründen:
"Die rechtliche Grundlage für den sofortigen Entzug von Marine Le Pens passivem Wahlrecht findet sich in der Loi Sapin II, einem Gesetz, das erst am 11. Dezember 2016 in Kraft trat (…) Nur weil das Europäische Parlament zum Ende ebendieses Dezembers die letzten verfahrensgegenständlichen Gehälter ausgezahlt hatte, konnte der gesamte Tatzeitraum von 2004 bis 2016 in das Strafverfahren einbezogen werden. Anlass für die gesetzgeberische Novelle aus 2016 war nicht zuletzt ein Steuerhinterziehungsskandal um einen linken Politiker – die sog. 'affaire Cahuzac'. In der Konsequenz wurde ein Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Politik zum Anlass genommen, legislativ zu mehr Transparenz beizutragen (…) Nichts davon stand im Zusammenhang mit Marine Le Pen – nichts davon hat sie damals als Abgeordnete zu einem Widerspruch herausgefordert."
Es spreche hier alles für eine nüchterne Anwendung des Strafrechts. Auf "das Narrativ eines politischen Strafprozesses" geht Schmitt-Leonardy natürlich auch ein:
"(Dieses) hat Marine Le Pen bereits nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft im November 2024 bemüht (…) Indikator dafür, dass der Rechtsstaat hier nicht zuletzt durch das Gleichheitsprinzip verteidigt wird (…), sind die Präzedenzfälle der letzten zehn Jahre. Auch führenden Politikern wie Alain Juppé oder François Fillon haben Gerichte das passive Wahlrecht entzogen."
Es handle sich um eine "in dieser Härte für viele überraschende (…) Entscheidung", hatte Carolyn Dylla am späten Montagnachmittag bei tagesschau.de geschrieben und Leo Klimm spricht von einem "spektakulären Urteil". Der Text des Verfassungsblogs zeigt dagegen auf sehr kompetente Weise auf, dass es ein unüberraschendes und unspektakuläres Urteil war.
Die neuen Faschisten brauchen keine Journalisten
Was sowohl zur Berichterstattung über die USA als auch zu der über Le Pen zu sagen ist, fasst Annika Brockschmidt in einem Thread zusammen:
"Höre gerade 'Februar 33 - Der Winter der Literatur' von Uwe Wittstock. Es ist die Chronik der angekündigten Katastrophe des Faschismus - und zeichnet das vielerorts präventive Einknicken von kulturellen Institutionen, Künstlern, Schriftstellern und Medien eindringlich nach. Große Universitäten ducken sich weg. Die Motive? Teils Angst um die Karriere, Teils Hoffnung auf Profit, dazuzugehören, nicht anecken zu wollen, in Ruhe gelassen werden wollen (…) Ähnliche Mechaniken können wir - auch wenn wir uns an einem anderen historischen Zeitpunkt befinden, auch heute beobachten (…) Medienhäuser versuchen, sich gut zu stellen mit Rechtsextremen, die sie ohnehin nicht dulden werden (…) Wie viele derer, die Essays zur Verteidigung von LePen, Trump, AfD und Co schreiben - mehr oder weniger offen - sind überzeugt, von dem, was sie schreiben? Sicher einige, wenn nicht gar die Mehrheit. Andere spekulieren vielleicht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, wenn sie den Ball flach halten."
Mir scheint es angemessen zu sein, an dieser Stelle auf eine Passage des 1989 erstmals erschienenen Standardwerks "Journalismus im Dritten Reich" von Norbert Frei und Johannes Schmitz zu verweisen. Wir hatten auf die Qualität dieses Buchs schon hin und wieder hingewiesen, etwa in diesem Altpapier. Im ersten Kapitel schreiben Frei/Schmitz über das Jahr 1933 (auf Seite 19 in der 5. Auflage):
"Die meisten Journalisten (…) verließen Deutschland nicht. Die Gewalt- und Racheakte der Nationalsozialisten richteten sich nicht gegen sie persönlich, und sie dachten nicht daran, zu emigrieren. Die große Mehrheit blieb im Journalismus. Die NS-Propagandisten hatten schon früh gemerkt, dass sie erfahrene Journalisten - auch 'Bürgerliche' und 'Nicht-Nationalsozialisten' - dringend benötigten, ebenso wie die 'bürgerliche' Presse."
Wer, um Brockschmidt zu zitieren, "vielleicht darauf spekuliert, in Ruhe gelassen zu werden" und seinen Job auch in faschistischen Zeiten noch machen zu können, dem sei gesagt: Die NS-Propagandisten waren noch angewiesen auf professionelle Journalisten, die Faschisten von heute und morgen sind es nicht mehr. Wenn - siehe USA - eine Administration mit atemberaubend inkompetenten Personen besetzt werden kann, dann geht das bei Medien erst recht.
Umfragen sind Ausdruck "politisch-medial hergestellter Vorstellung von Realität"
In Zeiten, in denen die Kritik einer französischen Rechtsextremistin an einem für sie unvorteilhaften Urteil der Aufmacher in der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" ist, bietet es sich an, mal wieder daran zu erinnern, was eigentlich das "relevanteste Thema unserer Zeit" (Altpapier) ist. Wir greifen zu diesem Zweck zurück auf einen Text, den Christian Stöcker für die April-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" geschrieben hat.
"Das irregeleitete Agendasetting von weiten Teilen der Parteien- und Medienlandschaft zeigt Wirkung: Bis Anfang 2023 lag die Anzahl der Menschen in Deutschland, die repräsentativen Befragungen zufolge den Themenkomplex 'Ausländer, Migration, Flüchtlinge' für das 'wichtigste Problem in Deutschland' hielten, zwischen neun und elf Prozent. Ende September 2024 waren es dann 42 Prozent. So ein Anstieg hat nichts mit realweltlichen Erfahrungen zu tun, sondern mit politisch-medial hergestellter Vorstellung von Realität. Der Themenkomplex 'Klima, Energie, Versorgung' stürzte im gleichen Zeitraum ab von 44 auf derzeit 17 Prozent."
Stöcker schreibt weiter:
"Sprechen Politik und Medien prioritär über die größte Krise in der Geschichte der Menschheit? Spätestens seit Anfang 2023 nicht mehr. Seitdem ist die Angst vor dem Fremden - ziemlich plötzlich - wieder Thema Nummer eins (…) Das lenkt von den wirklich drängenden Problemen ab."
Auf ein bizarres Beispiel dafür, wie Medien über "die größte Krise in der Geschichte der Menschheit" berichten, hat gerade die "Perspective Daily"-Gründerin Maren Urner hingewiesen: In einer Nachmittagssendung der "Tagesschau" bezeichnete der schwarze Großgeist Markus Preiß Klimaschutz neulich als "Herzensthema" der Grünen.
Altpapierkorb (Schweizer Fernsehen wandert mit Neonazis; heute vor 100 Jahren wurde Hans Rosenthal geboren; Correctiv-Chefredakteur lobt Dokumentarfilm über Correctiv-Recherchen)
+++ Inwiefern "SRF rec.", ein 20-minütiges Reportageformat des Schweizer Fernsehens, der Schweizer Neonazigruppe Junge Tat "Raum für ihre Selbstinszenierung" gibt, führt Basil Schöni für das Magazin "Republik" aus. Die Rechtsextremen hatten den SRF-Reporter Samuel Konrad zu einer Wanderung eingeladen. Schöni: "Während der Wanderung merkt man schnell, wie sehr sich das Fernsehen von den Rechtsextremen die Bedingungen vorgeben lässt. Der Reporter wird ständig überwacht (…) Eine ernsthafte Einordnung dessen, was die Junge Tat jenseits ihrer Selbstvermarktung ist, bieten nur ein paar Zwischensequenzen in der Reportage (…) Doch wenn die Einordnung von Rechtsextremen sich abwechselt mit der Propaganda der Rechtsextremen, dann verkommt der ganze Beitrag zu einer Both-sides-Übung: hier die Rechtsextremen, die behaupten, gar nicht rechtsextrem zu sein. Dort die Fachpersonen, die betonen, dass die Rechtsextremen rechtsextrem sind."
+++ Weil sich heute zum 100. Mal der Geburtstag des Holocaust-Überlebenden und ZDF-Moderators Hans Rosenthal jährt, ist auf der SZ-Medienseite ein ausführlicher Gastbeitrag der Historikerin Anne Giebel erschienen, die ihre Dissertation über Rosenthal schreibt. Es ließen sich, so Giebel, "an Rosenthals Geschichte sowohl der ambivalente, von Brüchen und Gegenbewegungen durchzogene Prozess der Demokratisierung der Bundesrepublik wie auch die Grundproblematik jüdischer Existenz im 'Land der Täter' ablesen. Letztere erscheint hier insofern als geradezu eklatant, weil Rosenthal die Öffentlichkeit nicht mied, sondern suchte, und weil er die Spannungen, die mit seinem Weg verbunden waren, in der Regel ohne öffentlichen Aufschrei aushielt (…) Damit polarisierte und irritierte er manch einen schon zu Lebzeiten." Und über das vom ZDF produzierte "erstaunlich senderkritische" Biopic "Rosenthal" schreibt Heike Hupertz in der FAZ.
+++ Volker Heises "Masterplan– Das Potsdamer Treffen und seine Folgen", seit der vergangenen Woche in der ARD-Mediathek zu sehen, ist ein gutes Beispiel dafür, dass es möglich ist, mit den Mitteln des Dokumentarfilms noch einmal einen neuen, Gewinn bringenden Blick auf ein Thema zu werfen, über das man alles Wesentliche zu wissen glaubt. KNA-Mediendienst-Chefredakteur Steffen Grimberg hat mit Correctiv-Chefredakteur Justus von Daniels über Heises Dokumentarfilm gesprochen, und unter anderem kress.de hat das Interview publiziert. Unmittelbarer Anlass des Gesprächs: ein heutiges Panel bei den Medientagen Mitteldeutschland unter dem leider nicht unbekloppten Titel "Potsdam & Pandemie: Berichterstattung auf dem Prüfstand". Von Daniels sagt: "Ich finde es sehr gut, dass der Film versucht hat, so viele Stimmen wie möglich mit reinzunehmen. Und ich fand es tatsächlich auch noch mal sehr eindrücklich, Martin Sellner im Film zu hören. Denn er beschreibt darin ausführlich seine völkische Ideologie, die er auch auf dem Treffen in Potsdam vorgestellt hat. Wer das Treffen mit diesem Wissen noch immer zu einer Art harmlosem Austausch herunterstuft, muss schon fast ignorant sein."
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.