Kolumne: Das Altpapier am 18. Februar 2025 Ich bin kein Spekulant, aber…
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18. Februar 2025, 09:43 Uhr
Seit dem Terroranschlag in München fragen diverse Medien: Sind die Taten etwa fingiert, um die Wahl zu beeinflussen? Einen besonders kreativen Spekulations-Experten hat Phoenix im Studio. Nur: Die Faktenlage lässt solche Schlüsse aktuell nicht zu. Heute kommentiert Ben Kutz die aktuelle Berichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Keinerlei Beweise, aber knallige Headlines
- Quelle: Bauchgefühl
- Teske-Nachschlag
- "Inside-Tagesschau"-Buch: Das sagt die ARD
- Altpapierkorb (BSW darf nicht in Wahlarena | Scholz bei "TV Total" | Mehr Desinformation bei ChatGPT? | Euronews schreibt schwarze Zahlen | "taz": nächster Schritt zur "Seitenwende" | MDR-Programmdirektorin: Hintergründe zur Ablehnung | Medienpolitik in Wahlprogrammen)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Keinerlei Beweise, aber knallige Headlines
Nichts hat die gesellschaftliche Debatte so geprägt wie die Anschläge und tödlichen Attacken der vergangenen Wochen. Jedes einzelne Ereignis: eine Tragödie. Besonders nach dem Anschlag letzte Woche in München (Altpapier) wird nun allerdings auffällig häufig gemunkelt. Ganz ohne vorgehaltene Hand, sprich: in den Medien. Beim Funke-Boulevard-Portal "Der Westen" zum Beispiel:
"Hat Putin was mit den Anschlägen zu tun?" titelt das Portal gestern. Und fragt weiter: "Es klingt wie eine Verschwörungstheorie. Aber könnte trotzdem was dran sein?"
Die Frage "Aber könnte trotzdem was dran sein?" direkt nach dem Wort Verschwörungstheorie zu platzieren, wirkt nach meiner Erfahrung der vergangenen Jahre mindestens, nun ja, kontraintuitiv.
Ungeachtet dessen greift auch merkur.de zu einer sehr ähnlichen Formulierung:
"Jetzt nimmt ein Verdacht Gestalt an, den man vor ein paar Jahren noch als Verschwörungstheorie abgetan hätte: Russische Akteure könnten mit den Anschlägen etwas zu tun haben."
Das wirft die Frage auf: Was genau muss denn passieren, damit ein Verdacht Gestalt annimmt? Im Fall vom "Merkur": Dass genau ein im Artikel zitierter Experte das für "durchaus möglich" hält.
Gefolgt vom verhängnisvollen wie richtigen Satz: "Beweisen lasse sich das derzeit allerdings nicht, so der Terrorismus-Experte und Nahost-Kenner."
Man wird ja wohl noch ein bisschen rumspekulieren dürfen. Das passiert übrigens nicht nur bei einschlägigen Online-Portalen, deren Geschäftsmodell es ist, Klicks einzuheimsen wie jegliche Art von Experten Aufmerksamkeit. Schon am Tag des Anschlags in München hat der öffentlich-rechtliche Informationssender Phoenix ein Studiointerview mit dem Sicherheitsexperten Jörg Trauboth geführt. Ungelogen sein erster Satz:
"Das könnte Spekulation sein, aber…"
Nix aber! Natürlich lechzen Zuschauerinnen und Zuschauer nach einer so verstörenden Tat wie in München nach Informationen. Völlig klar, völlig verständlich. Aber haben die vergangenen Jahre nicht gezeigt, dass es nie eine gute Idee ist, diese Informationslücke mit Spekulatius zu füllen? "Das rechtsextreme Attentat am Olympia-Einkaufszentrum hat vor neun Jahren deutlich gezeigt, wie schnell die Gerüchteküche im Internet brodelt und wie unkontrollierbar sie ist", schreibt die "Abendzeitung München" in einem Artikel, in dem sie mit anderen Spekulationen und "unstimmigen Mutmaßungen" zum aktuellen Anschlag aufräumt.
Quelle: Bauchgefühl
Der Satz von Sicherheitsexperte Trauboth bei Phoenix geht dann so weiter:
"Interessanterweise habe ich vor der Sendung einen Anruf bekommen von meinem Sohn aus Berlin, der in der Sicherheitsbranche arbeitet. Und der sagte nur zwei Worte: Cui bono. Wem nützt das?"
Und schließlich ist es altes Experten-Gesetz, dass die Aussage eines Experten-Sohns nur noch durch die Ausführungen der Cousine dritten Grades des Schwippschwagers der Nachbarin getoppt werden kann. Die hat nur eben vor der Sendung nicht angerufen.
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass das wirklich ein Einzeltäter ist, der da mit seinem Mini einfach so langfährt", spricht Trauboth weiter. "Ich glaube, dahinter könnte etwas ganz anderes stecken." Wer oder was genau dahinter stecken könnte, das kann die Moderatorin auch durch ihre bemerkenswert einordnungsfreie Nachfrage nicht aus Trauboth herauskitzeln. Also außer: "Irgendwas sagt mir: Der Wahlausgang soll beeinflusst werden."
Boaaaaah, ernsthaft?! Na vielen Dank, Herr Experte!
Auch das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" berichtet dankenswerterweise über das Phoenix-Interview:
"Belege für seine Spekulationen blieb Trauboth in der Phoenix-Sendung schuldig, auch die Moderatorin forderte sie nicht ein."
Überschrift des Artikels: "Behörden sehen keine Hinweise [...]: Theorien über gesteuerte Taten nur Spekulation". Darin zitiert Autor Felix Huesmann auch X- bzw. Bluesky-Postings der WDR-Journalistin Isabel Schayani und der "ZDF heute journal"-Moderatorin Marietta Slomka, die etwas vorsichtiger spekulieren. Aber eben doch spekulieren.
Ein Tweet ist was anderes als ein Experteninterview oder ein Artikel. Und es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass sich die Theorie eines Tages tatsächlich erhärten könnte. Das russische Regime hat oft genug unter Beweis gestellt, wozu es fähig ist. "Vorstellbar wäre eine Involvierung russischer Geheimdienste etwa in die gezielte Radikalisierung oder Anstiftung potenzieller islamistischer Attentäter in Deutschland [...] grundsätzlich", schreibt auch das "RND".
Aber Stand jetzt gibt es eben keine konkreten Anhaltspunkte. Damit bleiben auch die Tweets der Kolleginnen – genau – Spekulation. Spekulationen sind per se nichts Verbotenes. Aber man kann zumindest darüber diskutieren, ob man sich als Journalistin in einer ohnehin unübersichtlichen Situation daran beteiligen sollte.
Diverse rechte bis rechtsextreme hier nicht verlinkfähige Onlinemedien nehmen den Faden jedenfalls gern auf und dröhnen, dass ÖRR-Journalisten Verschwörungstheorien verbreiten würden. Ein Framing, das ich in dieser Härte selbstverständlich nicht unterschreibe. Auch der hier in der Regel schon noch verlinkbare "Cicero" schlägt in die gleiche Kerbe. Aber nach dem Satz…
"Die Reaktionen auf den brutalen Terroranschlag in München offenbaren bei vielen durch Zwangsgebühren finanzierten Journalisten und anderen Akteuren aus dem vermeintlich progressiven Spektrum der deutschen Politik erschreckende Ähnlichkeiten zur Romanfigur Alice [im Wunderland]."
…hatte ich leider überhaupt keine Lust mehr, weiter zu lesen.
Teske-Nachschlag
Um das Buch von Ex-Tagesschau-Redakteur Alexander Teske (Titel: "Inside Tagesschau: Zwischen Nachrichten und Meinungsmache") ging es an dieser Stelle schon öfters. Unter anderem hier. Eigentlich alles gesagt, sollte man meinen.
Doch am Wochenende ist nochmal ein bemerkenswertes Interview mit Teske hinterhergerutscht. In Jörg Wagners RBB-Medienmagazin (ab 20:36). Dass wir vom Altpapier ÖRR- und ARD-interne Kritik mögen, muss wohl kaum erwähnt werden. Zum absoluten Alltag gehört sie trotzdem nicht.
Wagner räumt Teske viel Zeit ein, das Interview geht über 40 Minuten. Teske darf seine Punkte machen ("Der Blick auf den Osten [bei der Tagesschau] ist ein Fremdblick, ein arroganter Blick.", "Die Tagesschau hat ein Milieu, [...] das tendenziell eher der SPD oder den Grünen zuneigt.").
Als Teske sich aber von den wirklich zahlreichen Rezensionen distanzieren will, die sein Buch liebend gern – und erwartbar – als Aufhänger für fundamentale ÖRR-Schelten nutzen ("Ich fremdel oder schlucke immer noch ein bisschen, wenn ich so Schlagzeilen lese wie [...] 'Enthüllungsbuch' oder 'Alexander Teske packt aus'.), lässt Wagner ihm das nicht durchgehen. Schließlich steht auf dem Cover nunmal der geframte Untertitel "Zwischen Nachrichten und Meinungsmache".
Wagner trennt durch seine gezielte Nachfragen die teils überzogene Buch-Promo-Provokation von den inhaltlichen Punkten, die Teske ja durchaus hat (Altpapier). Dass jahrzehntelang eingefahrene Redaktionsabläufe tatsächlich dazu führen können, dass manche Themen runterfallen, zum Beispiel. Oder dass es natürlich bestimmte Verflechtungen zwischen Politik und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt, die problematisch sind.
Die zum Teil gravierende handwerkliche Kritik am Buch (Altpapier) kommt dagegen zumindest während des Gesprächs mit Teske zu kurz. Wagner betont zwar durch mehrere Nachfragen, dass Teske das Redaktionsgeheimnis verletzt habe, indem er über interne Abläufe geplaudert hat. Gerne hätte ich aber auch gehört, was der Autor zum Vorwurf sagt, dass das Buch nach ARD-Aktuell-Darstellung "vielfach falsche Angaben" enthalte (siehe unten). Und warum Teske der ARD keine Möglichkeit der Stellungnahme eingeräumt hat, wie es der gängigen journalistischen Praxis entsprochen hätte (siehe ebenfalls unten).
Aber trotzdem: Wer sich über die bereits verlinkten Rezensionen hinaus ein ausführlicheres Bild über das Buch machen will (ohne es gleich zu lesen), dem sei das Gespräch empfohlen.
"Inside-Tagesschau"-Buch: Das sagt die ARD
Trotz der handwerklichen Kritik am Buch ist der Umgang der ARD-Aktuell-Redaktion mit dem Fall, nun ja, bemerkenswert. Denn auch für den ARD-Kollegen Wagner konnte die Redaktion beim besten Willen kein Interview einrichten. Warum nicht? Stattdessen hat die Redaktion dem RBB-Medienmagazin eine ausführliche Stellungnahme geschickt, in dem sie die Teske-Kritik recht fundamental zurückweist (ab 1:00:21):
"Die im Buch erhobenen Vorwürfe gegenüber ARD Aktuell und der ARD sind einseitig und beruhen auf den subjektiven Erinnerungen eines einzelnen, ehemaligen Mitarbeiters. Alexander Teske schildert im Buch seine persönliche Sichtweise und gibt persönliche Bewertungen wieder. Er hält sich dabei nicht an die von ihm selbst eingeforderten journalistischen Standards. Seine Angaben zur Berichterstattung der Tagesschau sind vielfach falsch und irreführend. [...] Die Positionen der ARD, von ARD Aktuell und den im Buch dargestellten Mitarbeitenden zu seinen Schilderungen wurden vom Autor nicht angefragt und sind entsprechend nicht abgebildet. [...]"
Diese handwerkliche Kritik nimmt dem Buch einigen Wind aus den Segeln. Auf der anderen Seite: Das als Freibrief zu sehen, über jegliche inhaltliche Punkte hinwegzusehen und konsequent nicht darauf einzugehen, ist auch nicht gerade der souveränste Umgang mit Kritik. Und quasi-hauseigenen Kollegen ein Interview zu verweigern, auch nicht.
Findet wohl auch Jörg Wagner. Von ARD-Chef Florian Hager konnte er doch noch ein Interview-Statement zur Causa ergattern (ab 1:02:06). Wagners erste Frage: Ob es in dem Buch nicht auch konstruktive Hinweise gebe, die man zur Optimierung der Arbeit bei ARD Aktuell nutzen könne.
"Man kann da eine relativ einfache Antwort sagen: ja", sagt Hager. Bei aller Kritik am Buch, bei der er bleibe, sei ihm wichtig, dass die kritischen Punkte trotzdem angesprochen werden. "Solche Themen werden natürlich auch mit aufgenommen, das kann ich Ihnen versichern." Das klingt doch gleich souveräner. Wenn auf die Versicherung auch wirklich etwas folgt.
Altpapierkorb (BSW darf nicht in Wahlarena | Scholz bei "TV Total" | Mehr Desinformation bei ChatGPT? | Euronews schreibt schwarze Zahlen | "taz": nächster Schritt zur "Seitenwende" | MDR-Programmdirektorin: Hintergründe zur Ablehnung | Medienpolitik in Wahlprogrammen)
+++ Der Debattenmarathon vor der Bundestagswahl (AP gestern) geht munter weiter. Gestern Abend haben sich Merz, Scholz, Habeck und Weidel in der ARD den Fragen der Bürgerinnen und Bürger gestellt. (Der nicht wahnsinnig überraschende "Spiegel"-Meldungs-Titel dazu: "Scholz und Merz wollen nicht gemeinsam in ein Kabinett".) Bis zum Schluss hatten Sahra Wagenknecht und ihr BSW gehofft, auch dabei sein zu dürfen. Diese Hoffnungen hat das Bundesverfassungsgericht gestern endgültig zerstört. "Das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe nahm eine Verfassungsbeschwerde der Partei nicht zur Entscheidung an", meldet neben vielen anderen "Horizont". Davor war die Partei bereits in zwei anderen Instanzen gescheitert. Das Gebot der abgestuften Chancengleichheit sei nicht verletzt, da das BSW in Umfragen deutlich unter den eingeladenen Parteien liege.
+++ Dass der Kanzler in der Endphase des Wahlkampfes jegliche Schmerzgrenzen hinter sich gelassen hat, beweist er erneut heute Abend. Um 20.15 Uhr stattet er als erster deutscher Regierungschef "TV Total" einen Besuch ab. "Wir haben es geschafft, wir haben Lord Valium von Schnarchistan endlich wachgerüttelt", lässt sich Gastgeber Sebastian Pufpaff in der Pressemitteilung zitieren. Haha, lustig. Potentiell interessanter klingt da das Anschlussprogramm auf ProSieben. Katrin Bauerfeind hat den Kanzler für die Doku "Olaf Scholz. Countdown im Kanzleramt" begleitet. Die läuft ab 21.25 Uhr.
+++ Über neue Richtlinien bei ChatGPT schreibt t3n.de. Der Chatbot soll künftig bei weniger Themen blocken und so nach Darstellung der Entwicklungsfirma mehr Perspektiven darstellen. Aber: "Kritiker:innen äußern die Sorge, dass das nicht für mehr Neutralität, sondern mehr Desinformation sorgen könnte."
+++ Der europäische Nachrichtensender Euronews schreibt erstmals seit zehn Jahren wieder schwarze Zahlen, meldet "DWDL". Erst Anfang des Monats hatte der Redaktionsleiter und CEO (Ex-Springer-Mann Claus Strunz (Altpapier)) angekündigt, Euronews in Deutschland "spürbar" auszubauen (ebenfalls "DWDL").
+++ Finanzielle Erfolge feiert auch die "taz". Vor wenigen Tagen hat die Zeitung ihren selbst gesteckten Meilenstein von 40.000 zahlenden Unterstützern für ihr freiwilliges Online-Bezahlmodell "taz zahl ich" erreicht. Das meldet "Meedia". Das ist für die Zeitung besonders wichtig, weil ihr Projekt "Seitenwende" vor der Tür steht. Ab Oktober dieses Jahres soll die werktägliche gedruckte Ausgabe der "taz" eingestellt werden. Ab dann soll es nur noch samstags eine Printausgabe geben.
+++ Dass der MDR-Rundfunkrat Jana Brandt überraschend als neue Programmdirektorin abgelehnt hat, war letzte Woche schon Thema im Altpapier. Gestern hat Peter Stawowy vom Medienblog flurfunk-dresden.de bei "@mediasres" im Deutschlandfunk weitere Hintergründe geliefert. Die Aufgabe als "große Saniererin", die die neu zusammengelegten Programmdirektionen Halle und Leipzig vereinen soll, trauten ihr offensichtlich nicht alle im Rundfunkrat zu, sagt Stawowy. Im März, bei der nächsten Rundfunkratssitzung, schickt Intendant Ralf Ludwig seine Kandidatin Brandt voraussichtlich erneut in den Ring. "Jetzt sind anderthalb Monate Zeit, über die Personalie zu diskutieren", sagt Stawowy. "Und die Intendanz hat die Möglichkeit, weitere Argumente vorzulegen, warum sie die Richtige ist." Grundsätzlich stehe der Rundfunkrat aber weiter hinter dem Intendanten Ludwig, sagt Stawowy. Anders sieht es ein gewisser Alexander Teske. "Indendant Ludwig ist angezählt", titelt er bei telepolis.de.
+++ "Was die Parteien in der Medienpolitik versprechen", hat die "taz" aufgeschrieben und dafür einen Blick in die Wahlprogramme geworfen. Obwohl Rundfunk Ländersache sei, schreiben Johannes Drosdowski und Leon Holly, "haben die Parteien trotzdem starke Meinungen", unter anderem zu Reform und Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. "Die SPD spricht sich für eine 'auftragsgerechte' Finanzierung aus, was als Appell zum Zusammenkürzen gelesen werden kann." Die Unionsparteien wünschen sich neben Sparsamkeit mehr Meinungsvielfalt und Neutralität. Die Grünen fordern eine EU-weite öffentlich-rechtliche Streaming-Plattform.
Das Altpapier am Mittwoch schreibt Antonia Groß.