Kolumne: Das Altpapier am 14. Februar 2025: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 5 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 14. Februar 2025 Ladendieb oder Ladendetektiv, Hauptsache Bin Laden

14. Februar 2025, 14:23 Uhr

Der bayerische Innenminister weckt Erinnerungen an Andy Möller. Die "Oberhessische Presse" hat Firmengeschäftsführer aufgetan, die "wegen Bürokratie auf DOGE in Deutschland hoffen". Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Joachim Herrmanns Falschinformationen

Für die Opfer des Auto-Attentats von München und für die Angehörigen und Freunde der Opfer ist es derzeit völlig irrelevant, was der bayerische Innenminister über den mutmaßlichen Täter von sich gab und gibt. Für die Öffentlichkeit jenseits dieser Personengruppen ist es allerdings sehr relevant. Insbesondere für Journalisten, die bisher der Ansicht waren, dass Minister in emotional aufgeladenen Extremsituationen professionell zu reagieren in der Lage sind und man ihre im Zusammenhang mit so einer Tat verbreiteten Informationen für bare Münze nehmen kann. Der bayerische Innenminister dürfte an dieser Haltung vielleicht etwas geändert haben. Um im nüchternen Agentursound fortzufahren:

"Bis zum Abend hat es gedauert, bis Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) seine Äußerungen über den Tatverdächtigen zurückruderte. Er stellte klar, dass der 24-jährige Afghane einen gültigen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis hatte (…) 'Er war (…) als Ladendetektiv für zwei Sicherheitsfirmen tätig', berichtete der Innenminister. Damit korrigierte er seine Äußerungen vom Mittag. Der junge Mann sei Ladendetektiv gewesen und nicht wegen Ladendiebstählen auffällig geworden. In Polizeiakten erschien er als Zeuge, nicht als Krimineller: Der Afghane hatte bei Ermittlungsverfahren in seiner Rolle als Ladendetektiv Zeugenaussagen zu einem Diebstahl gemacht."

So stand es zum Beispiel in der "Rheinischen Post". Innerhalb weniger Stunden war aus einem Ladendieb also ein Ladendetektiv geworden. Das klingt, in Anlehnung an Andy Möller, alles ein bisschen nach "Ladendetektiv oder Ladendieb, Hauptsache Bin Laden". Dass die FAZ "20 Minuten nach der Klarstellung" einen Kommentar veröffentlichte, der die Klarstellung nicht zur Kenntnis nahm - das ist Holger Klein aufgefallen.

Und "Spiegel"-Redakteur Anton Rainer fragt bei Bluesky sehr zu Recht:

"Der bayerische Innenminister als oberster Verbreiter von Falschnachrichten. Wie kann das bitte passieren? Wieso kann man nicht einfach abwarten, ist die Lage nicht schlimm genug?"

"Das Wort 'geil' ist hier oft zu hören"

Dass eine Politikerin der Partei Die Linke "eine Wutrede gehalten (hat), die inzwischen mutmaßlich 30 Millionen Mal angeklickt wurde" ("Spiegel") und dass Die Linke "auf Tiktok (…) die AfD derweil inzwischen überrundet hat, was 'Likes' betrifft" (Jana Frielinghaus, ND) - das sind Nachrichten, die man sich vor wenigen Wochen noch nicht vorstellen konnte.

Auf diese Entwicklung rund um die Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek gehen aktuell neben den zitierten Medien u.a. "Der Freitag" (auf seiner Seite 3) und die "Hamburger Morgenpost" ein. In letzterem Text geht es um eine örtliche Veranstaltung mit dem Titel "Techno und Tischtennis mit Heidi und Jan", in dem "Freitag"-Artikel kommt der Event auch vor.

"2.000 junge Menschen drängen sich beim Linken-Happening (…) in Hamburg. Das Wort 'geil' ist hier oft zu hören",

lautet ebd. die Bildunterschrift. Die "Morgenpost" spricht von einem "Hype um TikTok-Star Heidi Reichinnek in Hamburg".

Welche weiteren Zahlen sind wichtig in diesem Zusammenhang?

"Mittlerweile hat Reichinnek auf TikTok neunmal so viele Follower wie Merz und doppelt so viele Likes wie Alice Weidel oder Sahra Wagenknecht."

Dies stand ebenfalls im "Spiegel", die Zahlenangabe ist aber schon eine Woche alt. Auch bereits vor einer Woche zitierte der "Tagesspiegel" den Vertreter einer konkurrierenden Partei:

"'Heidi Reichinnek hat gerade mehr Reichweite als alle anderen Parteien zusammen’, sagt ein Grüner anerkennend."

Und:

"Nach Angaben von Bundesgeschäftsführer Janis Ehling hat Die Linke die Ausgaben für Social Media im Wahlkampf (…) gegenüber 2021 auf 600 000 Euro verzehnfacht."

Das wiederum schriebt das bereits zitierte ND.

Die Linke hat also umgesetzt, was die Sozialwissenschaftler Daniel Kubiak und Özgür Özvatan im November in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" gefordert haben: Dass die demokratischen Parteien ihre Online-Strategie fundamental ändern müssen. Auf den Beitrag sind wir bereits in diesem Altpapier ausführlich eingegangen.

Ein völlig neues Phänomen ist Reichinneks Erfolg in den sozialen Medien allerdings nicht. Dazu noch einmal "Der Freitag":

"Schon die ganze Legislaturperiode über ist sie eine der wenigen, die der AfD oder Sahra Wagenknecht auf den Online-Plattformen das Wasser reichen kann".

Wie berichtet man über einen Bankräuber?

Hier stellt sich nun wieder mal die Frage: "Können Medien wirklich nichts machen?", schrieb Ralf Heimann hier am Donnerstag zum Umgang mit dem Putsch in den USA. Ergänzende Antwort heute: Erst einmal müssen viele Medien (und nicht nur sie) ihr Wahrnehmungsdefizit erkennen. Nicholas Grossman, Professor für internationale Beziehungen an den Universität Illinois, konstatiert:

"Wie kann man die Medien, die Öffentlichkeit und den Großteil der Demokraten dazu bringen, sich der Realität zu stellen? In dem Maße, in dem sie über die Krise sprechen, behandeln sie Dinge, die bereits geschehen sind, als zukünftige Eventualitäten. Als ob es Mai 2020 wäre und sie sagen würden: 'Wenn diese COVID-Sache tödlich wird, sollte jemand etwas tun'."

Sollten sie das Wahrnehmungsdefizit erkannt haben, stehen sie allerdings vor einem Gewichtungsproblem. Der frühere Rechtsanwalt Robert Hubbell, der nun den Polit- und Justiz-Newsletter "Today's Edition" betreibt, schreibt:

"Die Berichterstattung über den laufenden Staatsstreich wurde von wichtigen Themen überlagert: Trumps öffentlicher Verrat an der Ukraine durch den Versuch, sie zur Kapitulation zu zwingen, (und) ein Anstieg der Inflation (…) Jedes dieser Ereignisse ist von großer Bedeutung und verdient unsere volle Aufmerksamkeit, insbesondere Trumps Verrat an der Ukraine. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass diese Geschichten einen laufenden Putsch in 'Hintergrundrauschen’ verwandeln."

Und eng verbunden mit dem Gewichtungs-Problem ist ein Verarbeitungs- und Arbeitskapazitätsproblem. Die Publizistin Katharina Nocun sagt:

"Es ist vollkommen nachvollziehbar, wenn ihr Euch angesichts der News aus den USA überfordert fühlt. Das ist Teil der Strategie der extremen Rechten. Nach der Desinformations-Flut im Wahlkampf werden nun im Akkord Maßnahmen angekündigt & verabschiedet. Die Gegenseite soll sich machtlos fühlen."

Hilfreich ist es auf jeden Fall, wenn jemand prägnante kompakte Bilder in Sachen Elon Musk liefert, aktuell tut es die demokratische Senatorin Elizabeth Warren:

"This is like a bank robber getting to fire the cops and disable the alarms just before he strolls into the bank lobby."

Konkret bezieht sich das auf diesen "New York Times"-Artikel.

Die Hoffnung, dass in Deutschland die Parole "mehr Musk wagen" (C. Lindner) derzeit nicht en vogue ist, weil kaum jemand in Verdacht geraten möchte, ein Staatsstreich-Fan zu sein, kann man sich übrigens abschminken.

Die "Oberhessische Presse" aus Marburg hat zwei Firmengeschäftsführer aus dem Verbreitungsgebiet der Zeitung aufgetan, deren Forderungen sie folgendermaßen zusammenfasst:

"Weniger Staat, mehr privat: Heimische Firmenchefs fordern Ende deutscher Regulierungswut" (Headline online), "Firmenchefs hoffen wegen Bürokratie auf DOGE in Deutschland" (Oberüberschrift online) und "Firmenchefs fordern Staatsabbau" (Überschrift in der Druckausgabe).

Der Geschäftsführer einer Autofirma wird u.a. so zitiert:

"Statt des 'absolut falschen Trends' zu mehr Staat brauche es grundsätzlich eher einen Ansatz wie von Elon Musk in den USA für mehr auch unternehmerische Freiheit (…) 'Man muss uns einfach mal wieder machen lassen.'"

Was die Medien also auch tun könnten, wenn sie über den Staatsstreich berichten? Nicht den Eindruck erwecken, als wäre das alles nur ein amerikanisches Problem.

Über Weidel-freundliche Medien

Der Historiker Volker Weiß hat gerade das Buch "Das Deutsche Demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört" veröffentlicht, und in einem Artikel, den er für das Magazin "Republik" geschrieben hat, geht er unter anderem darauf ein, welche Rolle die Medien beim "Aufstieg" der "Kanzlerkandidatin" der extrem Rechten spielen:

"Wirklich unter Druck geraten ist (Alice) Weidel bislang nur durch eine Spenden­affäre. Nachdem in verschleierten und somit illegalen Spenden mehr als 130’000 Euro über die Konten zweier Schweizer Pharmaunternehmen geflossen waren, wurde die AfD schliesslich 2023 zu einer Straf­zahlung verurteilt. Aktuell hat Weidel wieder ausländische Zuwendungen erhalten, diesmal korrekt deklariert aus Österreich. Der ehemalige Vorarlberger FPÖ-Landesgeschäftsführer Gerhard Dingler finanziert Wahl­plakate im Wert von über 2,3 Millionen Euro, angesichts der Vorbildfunktion der öster­reichischen Rechtspartei für die AfD eine passende Geste. Doch letztlich hat ihr auch das bisher nicht geschadet, vielmehr weht inzwischen aus dem Springer-Verlag ein günstiger Wind für sie.

Weiß weiter:

"Nachdem Konzern­chef Mathias Döpfner bereits Elon Musk die Möglichkeit gegeben hatte, warme Worte über die AfD zu publizieren, wird auch Weidel von den Springer-Medien zunehmend in einem wohlwollenden Licht betrachtet. Hier gilt sie nach wie vor als Exponentin des 'bürgerlichen' Teils der AfD. Die Hilfe von Figuren wie Musk und Döpfner wird in der AfD gerne angenommen, obwohl die Partei in der Vergangenheit auch gegen Milliardäre als verkappte 'Sozialisten' agitierte. Allerdings galt der Vorwurf nur den liberalen Vertreterinnen dieser Gruppe, Oligarchen des eigenen Lagers sind stets willkommen."

In einer Rezension des Weiß-Buchs für die neue Ausgabe des "Freitag", die wir oben bereits erwähnt haben, fasst Lennart Laberenz zusammen:

"Die Verbindungen von autoritären und nationalistischen Gruppen, die Weiß nach Russland verfolgt, den ideologischen Rückhalte den sie von Regierungen in Ungarn, den USA bekommen, zeigt, wer an den Lautstärkereglern dreht. Dazu dröhnen soziale Medien, Springer, Servus TV, NZZ."

Apropos Springer: Die These, dass sich das Haus nach Fertigstellung von Weiß’ Buch weiter radikalisiert hat, liegt nicht fern.

"Die Kirchen in Deutschland haben sich vom christlichen Glauben verabschiedet",

diagnostiziert aktuell der Spitzentheologe Ulf Poschardt. Um im verschwörungsgläubigen Duktus fortzufahren:

"Die Kirchen sind Teil eines 'tiefen Staates’ in der Bundesrepublik geworden, der längst, wie Andreas Rosenfelder dies so klug beschrieb, die notwendige Trennung zwischen Staat und Gesellschaft untergräbt."

Mittlerweile muss man ja wirklich befürchten, dass in der Endphase des Bundestagswahlkampf noch ein deutsches "Pizzagate" erfunden wird.

Vom aktuellen "Welt"-Herausgeber Poschardt noch kurz zu seinem Vorgänger Stefan Aust: Zu meinen Perversionen gehört es, am Bahnhofskiosk regelmäßig - und natürlich möglichst unbemerkt, weil man dabei von niemandem beobachtet werden möchte, den man kennt - in den Hamburg-Teil der "Welt am Sonntag" reinzuschauen, und analog durch die bizarre, entfernt interview-ähnliche Rubrik zu scrollen, die uns ein leitender Angestellter und Aust dort regelmäßig präsentieren. In der noch aktuellen WamS-Ausgabe lautet eine der Fragen an Aust:

"Laut aktuellen Umfragen hat sich ein Drittel der Wähler noch nicht entschieden, eine Sonderauswertung zeigt, dass gerade Unternehmer und Selbstständige sich schwertun. Ihnen sei, so heißt es, die CDU zu unentschieden, die FDP zu schwach, die AfD zu rechts und die Kanzlerpartei auserzählt. Können Sie das nachvollziehen?"

Aust antwortet:

"Natürlich, für Wähler, die nicht den rot-grünen Traumvorstellungen anhängen, ist es sehr schwer, sich zu entscheiden. Obwohl zum Beispiel in dem Parteiprogramm der AfD auch vernünftige Dinge stehen, spielt das aber für die berechtigten Erwartungen nicht die entscheidende Rolle."

Ich wiederhole es, äh, gern: Stefan Aust, die lebende Legende des Wasauchimmer, findet, dass "in dem Parteiprogramm der AfD auch vernünftige Dinge stehen". Es ist zwar nicht überraschend, dass er das findet. Aber: Dass Aust nun noch einen weiteren Schritt gemacht hat, nachdem er 2021 bereits die "Wenn Herr Gauland sagt, es regnet, dann scheint deswegen noch lange nicht die Sonne"-Phase erreicht hatte (Altpapier) - das ist durchaus eine Erwähnung wert.


Altpapierkorb (Golf von Mexiko, weniger Wissenschaftsjournalismus im Schweizer Hörfunk, Vorausblick aufs "Quadrell" von RTL)

+++ Dass die US-Regierung die Nachrichtenagentur AP in ihrer mit Arbeit behindert, weil die Journalisten für den Golf von Mexiko nicht den von Donald Trump gewünschten Phantasienamen verwenden wollen (Altpapier von Donnerstag), ist weiterhin Berichterstattungsthema. Joshua Benton hat fürs "Nieman Lab" verschiedene Medienhäuser nach ihrer Formulierungspraxis gefragt.

+++ Die Einstellung eines Formats im Schweizer Kulturradio wäre normalerweise wohl kein Thema im Altpapier, aber da die Entscheidung von SRF 2, sich Ende dieses Jahres von der wöchentlichen Sendung "Wissenschaftsmagazin" zu verabschieden, sich auf sehr ungute Weise in den Zeitgeist einfügt, bietet sich eine Erwähnung an dieser Stelle an. riffreporter.de berichtet: "Die Ankündigung des Senders stößt vor allem in der Schweizer Wissenschaft auf erhebliche Kritik. In einer von namhaften Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – darunter die Klimaforscher Reto Knutti und Sonia Seneviratne von der ETH Zürich – initiierten Petition heißt es, Wissenschaftsjournalismus sei 'wichtiger denn je’, eine 'Kernaufgabe' des Service Public, also der öffentlich finanzierten Sender, und zudem 'essenziell für eine funktionierende Demokratie'."

+++ "Letztlich treten da vier Matadore in die Arena, die viel zu gewinnen und viel zu verlieren haben. Sie werden alles daransetzen, sich gut darzustellen", sagt Günther Jauch, einer der Moderatoren des am Sonntag bevorstehenden RTL-"Quadrells" in einem FAZ-Interview. Die FAZ fand die Formulierung "Matadore" so töfte, dass sie sie gleich mal in die Überschrift packte. Ich frage mich ja eher nach dem Sinn von Jauchs Metapher: Wenn Merz, Scholz, Habeck und Weidel die "Matadore" sind - wer ist in dieser "Arena" dann der Stier? Oder gibt es - da mehrere "Matadore" zugegen sind - mehr als einen Stier?

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Wir wünschen ein schönes Wochenende!

Mehr vom Altpapier

Kontakt