Kolumne: Das Altpapier am 21. Januar 2025 Journalismus ist keine Behörde
Hauptinhalt
21. Januar 2025, 09:26 Uhr
Der RBB kritisiert sich zwar kaum selbst, doch viele andere tun es scharf. Die "Tagesschau" wird von einem Ex-Mitarbeiter kritisiert. Was Donald Trump mit Tiktok anstellt, bleibt schwer zu fassen. Abermillionen Trackingdaten aus aller Welt gibt's aber auch geschenkt. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Gelbhaar, Grüne, RBB
Gerade läuft die ARD-Aktionswoche "FaktenSicher für Demokratie". Zum bunten (oft schon ausgebuchten!) Programm gehört die Veranstaltung "Fakten statt Fiktion – Gemeinsam gegen Desinformation" am Freitag beim RBB. "Mit Expertinnen und Experten aus Politik, Medien und Wissenschaft diskutieren wir über Strategien zur Erkennung von Falschinformationen und erfahren, wie wir Desinformationen aktiv entgegenwirken können", wird da versprochen. Erstgenannter Gast ist, Überraschung, eine Grünen-Politikerin.
Na, wenn das nicht perfekt passt. Der aktuelle RBB-/Grünen-Skandal bietet exemplarisch naheliegendes Anschauungsmaterial. Das mobilisiert sicher viel mehr, als wenn die Expertinnen und Experten bloß weiteren Senf zu Elon Musk abgeben würden.
Falls Sie nicht im Stoff (Altpapier gestern) sind: Der RBB zog wesentliche Teile seiner Berichterstattung über Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen den Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar zurück. Dieser Vorwürfe wegen aber war Gelbhaar nicht wieder nominiert worden. Im rekordgroßen Bundestag fiel Gelbhaar nicht besonders auf, doch hatte er 2021 zu den bereits damals nicht ungeheuer vielen Grünen gehört, die ihren Wahlkreis direkt gewonnen hatten. Schon weil zu diesem Wahlkreis der Prenzlauer Berg gehört, weiterhin der deutsche Inbegrifff für Wokeness, wäre eine Wiederholung nicht ausgeschlossen gewesen. "Fake News beim RBB" schrieb die "Süddeutsche", für meinen Geschmack zurecht. Der RBB hatte sich eine weithin falsche Nachricht offenbar telefonisch aufschwatzen lassen.
Nun zieht die Sache ihre Kreise und scheint beiden Seiten, Grünen wie Öffentlich-Rechtlichen, zu schaden. Da und dort wollen sich Gremien befassen, beim RBB am Mittwoch der Programmausschuss des Rundfunkrats ("Tagesspiegel"). Die Begriffsschöpfung "Grünen-Gate" (Sarah Wagenknecht laut "Welt") muss niemand übernehmen; sowohl die "Washington Post" als auch die USA verlieren ja auch radikal Nimbus. Aber es hagelt scharfe Kommentare
"Um Hybris ist der Pleitensender nicht verlegen. Der RBB schaufelt sich das eigene Grab. Sehr emsig",
schäumt Michael Hanfeld, nachdem zuvor das "FAZ"-Politikressort (Abo) dem RBB schon "Missachtung elementarer Sorgfaltspflichten ... in einer Weise ..., die geeignet ist, jedes Vorurteil gegen die Öffentlich-Rechtlichen zu bestärken", vorgeworfen hatte. Der "Fall Gelbhaar ... kann das ganze Gerüst des Wahlkampfs bundesweit erschüttern", kommentiert Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff im "Tagesspiegel". Und auf der "SZ"-Meinungsseite (Abo) synchronisiert Meredith Haaf die Chose mit dem Grünen-Kanzler-Wahlspruch "Ein Mensch, ein Wort":
"Offenbar genügte es zu lange zu vielen, dass es Menschen gab, die irgendwelche Worte sagten. Der RBB akzeptierte die eidesstattliche Erklärung eines Phantoms, um die heftige Geschichte über sexuelle Belästigung zu unterfüttern."
"Der RBB hat nichts gelernt, will nichts und wird nichts lernen", leitet die "Berliner Zeitung" (Abo) daraus ab, wie der RBB in seinen Fernsehnachrichten ("Zunächst kommt die Grüne Woche ... Das war auch mal anders. Als man Gelbhaar Fehlverhalten unterstellte, machte die Sendung mit dem Thema als Erstes auf ... ") und überhaupt über seine Fehler berichtet ("so, als spräche man über ein anderes Medium. Es scheint auch von den zahlreichen und hochbezahlten Verantwortlichen niemand Verantwortung übernehmen zu wollen"). Im Interview ebd. sagt der Medienanwalt Carsten Brennecke (der als einer der Anwälte der einst noch viel höher bezahlten Ex-Verantwortlichen Schlesinger gegen den RBB von heute streitet) zum Fauxpas, dass der RBB eine "eidesstattliche Erklärung" annahm:
"... Journalisten sind aber keine Behörde. In einer eidesstattlichen Versicherung gegenüber der Presse kann man also straflos lügen, dass sich die Balken biegen!"
Da liegt eins der größeren Probleme: dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sowohl von seinen vielen Gegnern als eine Art Behörde im negativen Sinne stilisiert wird als auch sich selbst gern für eine hält, wenn es ihm in den Kram passt.
Das "Inside Tagesschau"-Buch
Die "Tagesschau" ist weiterhin für viele Menschen ein Inbegriff der Seriosiät und wird daher oft auch angegriffen. Jetzt muss sie sich mit dem Buch "Inside Tagesschau" ihres ehemaligen Redakteurs Alexander Teske auseinander setzen. Zuvor hatte Teske auch beim MDR gearbeitet.
"Beim MDR gehen viele regelmäßig raus aus der Redaktion und wissen, wie die Leute ticken. Bei der 'Tagesschau' fährt man mit dem Auto auf den Parkplatz, geht in die Redaktion, fährt wieder nach Hause. Alles, was draußen passiert, erfährt man über die Medien. Die Wahrscheinlichkeit, mit jemandem befreundet zu sein, dem es schlecht geht, ist relativ gering. Das ist natürlich ein generelles Journalistenphänomen. Vor allem in Hamburg",
zitiert Heiko Hilker im dimbb.de-Blog aus einem "Berliner Zeitung"-Interview. Bislang sind es vor allem schärfer ÖRR-kritische Redaktionen, die sich aufs Buch stürzen. Dass es sich "keineswegs um ein plumpes Rachebuch handelt", schreibt die "Welt" (Abo). Teske interviewt hat die "Neue Zürcher Zeitung":
"Es erstaunt mich nicht, wenn viele Gebührenzahler im Osten den Eindruck haben, es werde auf sie herabgeschaut, sofern man sie überhaupt zur Kenntnis nehme. Ich sehe das bei meinem Vater. Er hatte irgendwann den Eindruck, die 'Tagesschau' blende bestimmte Sachen aus und berichte meist auf Regierungslinie. Ihn erinnert das an die Propaganda, die er aus DDR-Zeiten kennt. Ich finde diesen Vergleich übertrieben, auch wenn ich vieles kritisiere",
sagt der eleoquente Autor da unter anderem. Und "Telepolis" befragte ihn gleich auch zum "Fall Gelbhaar", der in der Sonntags-Hauptausgabe vorm "Tatort" nicht vorkam.
Wobei, gestern in die 20.00 Uhr-Ausgabe schaffte es das Thema trotz jeder Menge Trump-Stoff dann doch, inklusive eines angefassten Habeck-Statements. Jetzt aber in die große Geopolitik!
Die Trump-Tiktok-Frage
Was Donald Trump gerade tut und will ist, außer vielleicht als Liveticker, kaum zu fassen. Das gilt auch für die Tiktok-Thematik, mit der er sich unter sehr sehr vielem anderen befasst. Schon weil die einen, älteren die App eher nicht kennen und sie für die anderen "die erste medienweltbeherrschende KI-Plattform überhaupt" (gute Sascha-Lobo-Kolumne bei spiegel.de vorige Woche) ist. Ob Trump mit der mutmaßlichen Rettung der App nun ein Tor schießt oder ein Eigentor, rätselt die "FAZ" (Abo).
Unter der Überschrift "Das TikTok-Theater macht Trump noch stärker" kommentiert Markus Reuter bei netzpolitik.org, dass ihm, Trump, diese Bühne und dieser Auftritt allerdings von seinem Vorgänger Biden zugeschustert wurden. Das spezielle Gesetz, aufgrund dessen Trump nun nicht nur handeln kann, sondern handeln muss,
"öffnet ... Tür und Tor zu einem zersplitterten Internet, das weniger frei ist. Ein Internet, in dem Länder nach Gutsherrenart ihnen politisch nicht genehme Apps oder Konkurrenten heimischer Produkte angreifen können. ... Die Demokraten sind sehenden Auges in dieses Szenario hereingelaufen, dass die Frist für TikTok genau zur Amtsübergabe ausläuft. Anstatt frühzeitig nach Lösungen zu suchen, übergibt man die heiße Kartoffel an Trump, damit der daraus politisches Kapital schlägt. Was für ein Fail!"
Schon frappierend, wie wenig in Deutschland und Europa frappiert, für wie wichtig sowohl die vorige US-amerikanische Regierung als auch die neue (was immer man von ihr hält) ein Thema halten, das hier nie eines war. In Europa war man eben von Anfang daran gewöhnt, dass sämtliche Daten auf andere Kontinente abfließen. In den USA ist man nicht daran gewöhnt. Wobei nicht dran gewöhnt zu sein nicht bedeutet, dass etwas nicht geschieht. "China braucht Tiktok gar nicht, um Profile Hunderter Millionen Amerikaner zu sammeln. Die lassen sich legal bei US-Datenhändlern einkaufen", notierte Simon Hurtz eher am Rande eines "SZ"-Kommentars (Abo).
Stimmt. In welchem Ausmaß präzise, wenn nicht personalisierte, dann leicht personalisierbare Daten aller Art zirkulieren, wird zwar immer mal wieder berichtet, läuft aber weitestgehend unter dem Radar sämtlicher Seiten.
Die neue Databroker-Recherche
Sebastian Meineck und Ingo Dachwitz haben für netzpolitik.org mit internationalen Partnern ihre "Databroker Files"-Recherche (vgl. das Altpapier "Moms Who Shop Like Crazy" aus dem Juni 2023) weitergeführt. In den langen Text steigen sie szenisch ein, Anfang Juli 2024:
"Gut 300 Kilometer südlich, in der hessischen Stadt Bensheim, lässt sich jemand auf seinem Huawei-Handy mit 'Hornet' orten, einer App für queere Sex-Dates. Er befindet sich dabei mitten auf dem Gelände einer Firma, die unter anderem elektronische Systeme für Kriegsschiffe und Kampfjets fertigt."
Nur eines von rund 380 Millionen über rund 40.000 Apps aus 137 Ländern geflossenen Standortdaten, die die netzpolitik.org-Leute wieder geschenkt bekamen. Der Datensatz sollte "Lust auf ein Monatsabo mit tagesaktuellen Daten machen".
Die Anbieter der einzelnen Apps, zum Beispiel einer beliebten deutschen Wetter-App oder einer zypriotischen Ausmal-App (in der man sogar Original-Disney-Figuren ausmalen kann), reagierten entweder nicht auf Anfragen. Oder können sich selber nicht erklären, wie von ihrer App gesogene Daten in den internationalen Datenhandel (der wie gesagt oft gar kein Handel ist...) einfließen konnten. Es erscheint durchaus glaubhaft, dass App-Anbieter von so etwas weder wissen noch profitieren, lautet ein Eregbnis der Recherche:
"Vieles spricht dafür, dass der uns vorliegende Datensatz größtenteils aus dem sogenannten Real Time Bidding ... stammt. RTB entscheidet darüber, welches Unternehmen uns Online-Werbung vor die Nase setzt. Alles geschieht automatisiert innerhalb von Millisekunden ... durch eine Auktion. Damit diese Auktion stattfinden kann, funkt eine App ein Info-Paket an eine oder mehrere Plattformen. Von dort fließt das Paket an hunderte oder tausende Firmen. Es enthält die sogenannten Bidstream-Daten, darunter die Werbe-ID und unsere IP-Adresse. Per IP-Adresse lässt sich auf die Region schließen, in der wir uns aufhalten. Als würde ein Marktschreier rufen: 'Werbeplatz in Dating-App aus Leipzig zu vergeben'. ... Dann bieten die Unternehmen Mikro-Centbeträge, um unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Der Meistbietende darf seine Werbung ausspielen – aber unsere Daten haben alle bekommen. In der Masse der Beteiligten reicht es, wenn nur ein Unternehmen diese Daten abzwackt, um daraus Pakete für Databroker zu schnüren."
Am Ende erfolgt das gewohnte und gewiss engagierte, aber, pardon: Bullshit-Bingo des Verbraucherzentralen-Verbands und föderalistischer deutscher Datenschützer. "Der Ball liegt bei der EU", und "Es ist längst überfällig, dass die Europäische Kommission die Verbraucher*innen wirksam schützt und ...".
Dafür dass die EU, selbst wenn wesentliche Mitglieder sich einig wären, in der Lage wäre, den Treibern dieses Echtzeit-Geschäfts auch nur eine einzige Grenze zu setzen, gibt es bislang kein einziges Beispiel.
Altpapierkorb (BDZV/MVFP/BZP, "SZ"-Streik, Attacke auf Bluesky, "Shitbürgertum", "Mini-Maischbergers")
+++ Es gibt zwar immer noch zwei Interessenverbände für gedruckte Presse, den BDZV und den MVFP (Ex-VDZ), auch wenn die Idee, dass sie fusionieren sollten, weil der alte Unterschied zwischen Zeitungen und Zeitschriften digital nicht ungeheuer einleuchtet, immer mal wieder aufkommt (Altpapier). Aber nun bilden beide "eine koordinierte medienpolitische Plattform, die unter einer gemeinsamen Marke auftritt" ("epd medien"): das Bündnis Zukunft Presse. BZP?
+++ Wegen "festgefahrenen Tarifverhandlungen" mit dem BDZV wird bei der "Süddeutschen" gerade gestreikt, meldet dwdl.de. +++
+++ "Die X-Alternative Bluesky gilt als sicher, weil sie ein offenes Protokoll verwendet", stand neulich hier. Jetzt braucht es den Beweis, denn nun kommen "gleich zwei russische Fake-News-Operationen" mit "mehreren Tausend Accounts", berichtet die "FAZ". +++
+++ "Mal eben sämtliche Anliegen des politischen Gegners als moralisierenden Abgrenzungszwang zu pathologisieren, ohne eine tiefere Analyse zu liefern, ist keine allzu elegante Polemik, aber darin immerhin zeitgemäß. Anders gesagt: Je länger man liest, umso mehr drängt sich der Verdacht auf, dass das empörte, 'revolutionäre' Bürgertum, das Poschardt als Korrektiv entwirft, dem 'Shitbürgertum' nicht so unähnlich ist. Es spricht, auch hier, ein moralisch empörter Diskursaufpasser", schrieb Philipp Bovermann im "SZ"-Feuilleton (Abo) über Ulf Poschardts schließlich im Selbstverlag erschienenes neues Buch "Shitbürgertum". +++
+++ "Dass authentische Entertainer:innen zu Mini-Maischbergers mutieren", beobachtete Peer Schader für dwdl.de, als Bundeskanzler Scholz im "World Wide Wohnzimmer" auf Youtube auftrat und Vizekanzler Habeck sich von HandofBlood, einem Star auf Amazons Streaming-Plattform Twitch, interviewen ließ. Hey, ARD, könnte man da nicht ein paar junge talentierte "Titel Thesen Temperamente"-Moderatoren anheuern? +++
Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.