Kolumne: Das Altpapier am 3. Januar 2025: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann 5 min
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Kolumne: Das Altpapier am 3. Januar 2025 von Ralf Heimann Die Ruhe nach dem Sturm

Kolumne: Das Altpapier am 3. Januar 2025 – Die Ruhe nach dem Sturm

Im Fall Thilo Mischke wird der Druck immer größer. Jetzt könnte das passieren, was in solchen Fällen immer wieder passiert.

Fr 03.01.2025 13:55Uhr 04:42 min

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Kolumne: Das Altpapier am 3. Januar 2025 Die Ruhe nach dem Sturm

03. Januar 2025, 11:08 Uhr

Im Fall Thilo Mischke wird der Druck immer größer. Jetzt könnte das passieren, was in solchen Fällen immer wieder passiert. Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Jetzt also Ghosting?

Vor anderthalb Wochen schrieb das "Titel Thesen Temperamente"-Social-Media-Team in einem Instagram-Posting:

"Wir bitten euch an dieser Stelle um eines: Zeit. Wir wollen das Thema gründlich aufarbeiten und uns mit den geäußerten Sorgen auseinandersetzen. Wir sitzen das nicht aus."

Seitdem könnte man den Eindruck gewinnen, die "Titel Thesen Temperamente"-Redaktion sitze die Sache mit Thilo Mischke aus.

Vor einer Woche teilte die ARD mit, sie halte an Mischke als Moderator der Kultursendung fest. Gestern kommentierte die Deutschlandfunk-Redakteurin Ann-Kathrin Büüsker unter dem Beitrag:

"Passiert hier noch was oder ghostet ihr eure ach so wichtige Community jetzt einfach?"

Es könnte sein, dass man darauf spekuliert hat, dass die ganze Aufregung sich schon wieder legen wird, wenn man etwas abwartet. Und das hätte auch schnell passieren können, wenn ein neues Thema, im besten Fall ein Skandal, die Debatte überlagert hätte.

Nun könnte allerdings etwas anderes passieren, denn oft führt in solchen Fällen nicht der Vorwurf selbst in eine Sackgasse, sondern der Umgang mit ihm. Man möchte das Ganze gern klein halten, doch die Intransparenz führt zu immer neuen kritischen Fragen. Der Druck wird größer, damit auch der absehbare Schaden. Und um zu verhindern, dass die ganze Sache noch größere Kreise zieht und im schlimmsten Fall noch andere mit in den Strudel reißt, reguliert man den Druck, indem man die ursprüngliche Entscheidung möglichst gesichtswahrend revidiert.

Thilo Mischke könnte zum Beispiel selbst sagen: Ich will nicht mehr.

Zu solchen Situationen kommt es oft, weil in der Absicht, Dinge herunterzuspielen, Fehler passieren, die das Gegenteil bewirken.

Die alte Linie ist nicht mehr haltbar

In diesem Fall haben der Sender und Mischke selbst solche Fehler gemacht. Deutschlandfunk-Moderator Stefan Fries sagte gestern im Medienmagazin "@mediasres" im Gespräch mit Simon Sahner, Mitherausgeber des Online-Magazins "54books", Mischke habe ihm auf eine Anfrage nach Weihnachten mitgeteilt, die Vorwürfe hätten nichts mit sachlicher Kritik zu tun, sondern seien im besten Fall einseitig, "weil sie mein gesamtes journalistisches Wirken der letzten zehn Jahre schlicht ausblenden".

Im überwiegenden Fall seien die Vorwürfe diffamierend und versuchter Rufmord. Er sei weder Sexist, Rassist noch homophob oder behindertenfeindlich. Er habe sich von den Buchveröffentlichungen schon seit vielen Jahren öffentlich distanziert und eine Neuauflage verhindert.

Sahner sagt:

"(…) diese Kritik als vorrangig diffamierend und als Rufmord zu bezeichnen, (…) finde ich schwierig, weil sie zu 99 Prozent auf Zitaten aus seinem Werk aus den letzten 15 Jahren beruht. Und das sind ja keine unbelegten Vorwürfe, sondern das lässt sich an Zitaten handfest festmachen".

Zur Distanzierung fehle ihm bisher ein konkretes Beispiel, in dem das tatsächlich glaubhaft geschehen sei. Noch im vergangenen Jahr habe Mischke das Buch als "Vorstufe seiner Auslandsreportagen" bezeichnet.

Er habe gesagt, das Buch selbst sei kein Fehler, der Titel sei ein Fehler, das sei ihm ganz wichtig. Das sei für ihn keine Distanzierung, sagt Sahner.

Mischke behauptet also, wie auch die ARD in ihrem Statement vor einer Woche, eine öffentliche Distanzierung habe stattgefunden. Doch dafür fehlen die Belege. Und die Behauptung der ARD, bei Mischkes Buch handle es sich um einen "fiktionalen Titel", nichts davon habe "tatsächlich stattgefunden – außer einer Recherchereise, in der er (Mischke) die Orte, die er in dem Roman beschreibt, bereist hat", ist ebenfalls fraglich. Sie steht unter anderem im Widerspruch zu einer Aussage von Mischke in einem Interview mit "Focus Online". Dort wird er mit dem Satz zitiert, seine Reisegeschichten seien zu 95 Prozent wahr.

Der "Spiegel"-Journalist Marco Fuchs schrieb am Donnerstagnachmittag bei Bluesky:

"Die ttt-Redaktion bat um eines: Zeit. Seitdem sind neun Tage vergangen. Die Fakten liegen auf dem Tisch, die beiden ttt-Linien ('War ja nur fiktional' und 'TM hat sich entschuldigt') sind nicht mehr haltbar. Mittlerweile dürften dann auch alle Entscheidungsträger aus dem Urlaub zurück sein. Also."

Das sind die Fehler, die bei dem Versuch passiert sind, die Dinge herunterzuspielen. Und damit stellen sich mittlerweile neue Fragen. Zum Beispiel: Wer hat diese Krisenkommunikation zu verantworten? Hat Mischke dem Sender gegenüber selbst falsche Angaben gemacht? Wer hat die Entscheidung getroffen, dass das mit Mischkes Engagement trotz der Vorwürfe alles so glattgeht?

Das, was der "@ProSieben"-Account bei X "eine wilde Jagd" auf Thilo Mischke nennt – man könnte auch einfach sagen: die Aufarbeitung der Vorwürfe – kommt vor allem zustande, weil bislang weder der Sender noch Mischke das gemacht haben, was das "TTT"-Social-Media-Team bei Instagram angekündigt hat – nämlich sich gründlich mit dem Thema zu beschäftigen – beziehungsweise, vielleicht hat man sich gründlich damit beschäftigt, aber dann fehlt noch der entscheidende Schritt: das transparent zu machen.

Stereotype, immer wieder

Weil Mischke und der Sender sich dem Eindruck nach bislang fürs Aussitzen entschieden haben, machen das jetzt andere. Der Wissenschaftsjournalist Markus Pössel zum Beispiel in einem längeren Blogbeitrag auf "SciLogs":

Pössel kritisiert vor allem, was Mischke im Jahr 2019 in einem Podcast-Gespräch mit der Autorin Carolin Rosales zur Sexualität und Vergewaltigung in urmenschlichen Gesellschaften gesagt hatte. Was genau das war, kann man in dem Blog nachlesen. Ich möchte es hier nicht wiederholen, denn es geht gerade darum, dass es problematisch ist, wenn Journalisten irgendwelche spekulativen Vermutungen verbreiten, ohne darauf hinzuweisen, dass das möglicherweise Quatsch ist.

Man könnte nun sagen: Gut, das kann mal passieren in einem Podcast, dass man einfach drauflos redet, und hinterher stellt sich heraus, das war wohl Unsinn. Aber einige Menschen schaffen es tatsächlich, sich regelmäßig öffentlich zu äußern, ohne zu sensiblen Themen unsensibles Zeugs zu verbreiten. Anderen dagegen passiert das immer wieder. In diese Kategorie gehört offenbar Thilo Mischke.

Daraus leiten die über hundert Kulturschaffenden, die einen offenen Brief an die Programmdirektion der ARD geschrieben haben, ab, dass Mischke für einen Job, in dem es immer wieder um sensible Themen geht, nicht der Richtige ist. Oder wie Simon Sahner es bei "@mediasres" formulierte:

"Wir werfen ihm (…) vor, dass er über die letzten 10, 15 Jahre, angefangen von seinem Buch von 2010 'In 80 Frauen um die Welt', das nicht nur einen sexistischen Titel hat, sondern auch einen sexistischen Inhalt, sich immer wieder über das Thema Sexualität oder sexualisierte Gewalt in einer Art und Weise geäußert hat, die zeigt, dass er offensichtlich nicht dazu in der Lage oder willens ist, in der Öffentlichkeit mit der entsprechenden Sensibilität und Verantwortung über diese sehr sensiblen Themen zu sprechen."

Und an dieser Stelle wird auch deutlich, warum Mischke mit seinem Hinweis, er sei kein Sexist oder Rassist, sogar einen Beleg dafür liefert, dass der Vorwurf, der ihm gemacht wird, stimmen könnte. Der lautet nämlich gar nicht, dass er ein Sexist oder Rassist sei, sondern – um seine eigene Formulierung aufzugreifen –, dass sein Verständnis von oder Bewusstsein für diese Dinge so unterkomplex ist, dass er, auch ohne es zu wollen, immer wieder Stereotype verbreitet.

Das nur als vorläufige Einschätzung. Im Laufe des Tages erfahren wir möglicherweise mehr. Laut Stefan Fries will die ARD sich heute zu der Sache äußern.


Altpapierkorb (Musk, Musk, Musk, Katrin Vernau, Cecilia Sala, Tagesschau)

+++ Zur Debatte über den Gastbeitrag von Elon Musk in der "Welt am Sonntag" schreibt Philipp Peyman Engel in der "Jüdischen Allgemeinen": "Natürlich sind auch hochumstrittene Standpunkte von der Meinungsfreiheit gedeckt. Genau deshalb ist sie so ein hohes Gut. Zur Pressefreiheit gehört aber eben auch, dass nicht jede Meinung zwingend publiziert werden muss. Diese Verantwortung gilt umso mehr, wenn Rechtsextremismus verharmlost wird."

+++ Der Journalistik-Professor Tanjev Schultz kritisiert im "@mediasres"-Interview den möglichen Interessenkonflikt, der sich dadurch ergibt, dass die Initiative zu dem Gastbeitrag nach eigener Darstellung von Springer-Aufsichtsratsmitglied Martin Varsavsky ausging. Die Frage sei ja auch, "ob nicht auch dieses besagte Aufsichtsratsmitglied, das sich ja als Freund dargestellt hat und eben auch als Investor aktiv ist auf dem amerikanischen Markt, auch eigene Interessen hat, diese Nähe zu Elon Musk immer wieder herzustellen und zu suchen". Der amerikanische Markt sei für Springer schließlich sehr bedeutsam.

+++ Peter Frey sagt in seiner "@mediasres"-Kolumne: "So wie wir uns gegen Putin militärisch absichern müssen, müssen wir den Kommunikationsraum Europa schützen gegen Trump, Musk und Co. Gegen populistische Allmachtsfantasien gibt es nur zwei Mittel. Ignorieren und regulieren."

+++ WDR-Intendantin Katrin Vernau sagt im "Spiegel"-Interview mit Anton Rainer und Christian Buß auf die Frage, ob sie sich ärgere, dass das Fernsehduell zwischen Björn Höcke und Mario Vogt vor der Landtagswahl in Thüringen bei Springer stattgefunden habe: "Ich hätte das Duell mit Höcke gerne bei uns gesehen." Und auf die Nachfrage, ob es kein Problem sei, dass AfD-Politiker Gespräche immer wieder mit Fehlinformationen sprengten: "(…) da halten wir mit journalistischer Kompetenz dagegen". Nadia Zaboura belegt bei Bluesky, dass das schon mehrfach nicht geklappt hat.

+++ Das italienische Außenministerium hat die sofortige Freilassung der italienischen Journalistin Cecilia Sala gefordert, die am 19. Dezember aus bislang unbekannten Gründen in Teheran festgenommen wurde und seitdem im Gefängnis sitzt (Altpapier), berichtet unter anderem der "Spiegel". Warum, ist unklar. Die iranische Nachrichtenagentur IRNA spricht laut "Spiegel" von einem "Verstoß gegen die Gesetze der Islamischen Republik". Möglicherweise stehe der Fall im Zusammenhang mit der Verhaftung eines iranischen Geschäftsmannes drei Tage vorher; möglicherweise aber auch, wie ARD-Korrespondent Uwe Lueb im Gespräch mit Stefan Fries für "@mediasres" vermutet, mit Berichten der Journalistin. Sala hatte laut Lueb unter anderem berichtet, die iranische Flugabwehr sei bei israelischen Angriffen zerstört worden.

+++ Die 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau” war auch 2024 mal wieder Deutschlands meistgesehene Nachrichtensendung – mit durchschnittlich 9,5 Millionen Zuschauern und einem Marktanteil von 40,5 Prozent, berichtet unter anderem "epd Medien". Dahinter folgten die ZDF-Sendung "Heute" um 19 Uhr mit 3,6 Millionen Zuschauern (19,1 Prozent) und "RTL aktuell” mit 2,6 Millionen (14,9 Prozent). Die Zahlen berücksichtigen allerdings nicht die Social-Media-Aufrufe und die in den Mediatheken.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Das Altpapier am Montag schreibt Christian Bartels.

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