Kolumne: Das Altpapier am 2. Januar 2025: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 5 min
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War Elon Musks AfD-Bejubelung in der "Welt am Sonntag" eine Überraschung? Ist die Veröffentlichung ein "Dammbruch"?

Do 02.01.2025 15:27Uhr 05:21 min

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Kolumne: Das Altpapier am 2. Januar 2025 Springer gegen Deutschland

02. Januar 2025, 14:10 Uhr

War Elon Musks AfD-Bejubelung in der "Welt am Sonntag" eine Überraschung? Ist die Veröffentlichung ein "Dammbruch"? Außerdem: Mehr als 100 Kulturschaffende und Journalisten fordern die ARD auf, von der Verpflichtung Thilo Mischkes als Moderator von "ttt" Abstand zu nehmen. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Pseudoliberalismus, der letztlich auf Totalitarismus hinausläuft"

Die Erkenntnis, dass es kein "Sommerloch" mehr gibt, hat sich bereits seit einigen Jahren durchgesetzt. In den vergangenen Tagen konnte man nun den Eindruck gewinnen, dass es auch kein Jahresendloch mehr gibt. An den Tagen, an denen unsere sechs Jahresrückblicke erschienen sind (der letzte kam am Mittwoch), hätte man jedenfalls jeweils locker eine aktuelle Kolumne füllen können. Was vor allem an den Herren Musk und Mischke lag (Gleichsetzung nicht beabsichtigt!).

"Welche Rolle wird Musk im deutschen Wahlkampf spielen?" lautete eine der Fragen im letzten regulären Altpapier des alten Jahres. Eine zwischenzeitliche Antwort kann nun lauten: eine noch größere, als ich kurz vor Weihnachten ahnte. Das liegt an der "Welt am Sonntag", die einen AfD-Wahlwerbe-Artikel Musks veröffentlich hat, kombiniert mit einer Art "Contra"-Beitrag des neuen starken "Welt"-Manns Jan Philipp Burgard, der schreibt, dass Musks "Diagnose" zutreffend sei, aber nicht sein "Therapieansatz".

Vor fünf Jahren ermordete ein rechtsextremistischer Terrorist in Halle zwei Menschen, und danach dauerte es nur einen Tag, ehe in der "Welt" ein Text erschien, in dem AfD-Positionen Verbreitung fanden.

"Nach Neonazi-Anschlag: Springer-Chef schreibt der AfD aus der Seele",

schlagzeilte "Übermedien" seinerzeit anlässlich eines länglichen, günstigstenfalls erratischen Kommentars des Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner (siehe auch Altpapier).

Nach dem rechtsextremistischen Terroranschlag von Magdeburg dauerte es nun ein paar Tage länger mit der Verbreitung von AfD-Inhalten in einem Medium der Welt-Gruppe. Vermutlich, weil Elon Musk gerade seinen Christbaum schmückte, als die Anfrage kam.

Aber von wem kam die Anfrage überhaupt? Dazu gab es in den vergangenen Tagen folgende Interpretationen und Versionen:

"Eingefädelt hat den Gastbeitrag offenbar Mathias Döpfner" ("Spiegel", 28.12.) - "Dem Verlag ist es wichtig zu betonen, dass er nicht über Mathias Döpfner kam" ("Tagesspiegel", 29.12.) - "Laut Ulf Poschardt fragte eine Redakteurin der Welt-Gruppe, die nicht genannt werden will, daraufhin bei Musk an, ob er das nicht näher erläutern wolle" ("Süddeutsche", 30.12.) - "Dass die Empfängnis der laut 'Welt' von Musk einfach so 'zur Verfügung gestellten' Predigt gänzlich unbefleckt und ohne Kenntnis Döpfners vonstatten ging, glauben nicht mal die Heiligen Drei Könige" (Steffen Grimberg in seiner taz-Kolumne, 1.1.) - "Unsere Gastautoren haben grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die Genese ihres Beitrags der Vertraulichkeit unterliegt" ("Welt"-Chef Jan Philipp Burgard im Interview mit der FAZ, 1.1.).

Die neueste, kurz vor Redaktionsschluss dieser Kolumne noch reingekommene Version lautet nun, dass ein Mitglied des Springer-Aufsichtsrats (!) nach "careful consideration" mit Jennifer Wilton, der Chefredakteurin der Zeitung "Die Welt", den Text in Auftrag gegeben habe. Das hat dieser Aufsichtsrat selbst öffentlich gemacht (worauf "Spiegel"-Medienredakteur Anton Rainer mit einem Screenshot hinweist). Aufsichtsräte erteilen ja normalerweise keine Aufträge an Autoren, aber wir wollen hier nun nicht mit irgendwelchen altmodischen Kinkerlitzchen langweilen.

Wie ist der Text des Mannes, der mit einem neuen X-Profilbild gerade "seine Entwicklung zum rechtsextremen Troll vollendet hat" ("The New Republic"), nun im Detail zu bewerten?

Marina Kormbaki schreibt in einem "Spiegel"-Kommentar:

"Musk agitiert nicht mehr nur auf seiner zum Safe Space für Rassisten, Sexisten und Antisemiten mutierten Plattform X. Nein, mit freundlicher Unterstützung der 'Welt am Sonntag' darf er auch dort seine als Gastbeitrag getarnte Wahlwerbung für die AfD verbreiten. Eine renommierte Zeitung gibt sich für Propagandazwecke her."

Das sei ein "Tabubruch". Für ZDF-Redakteurin Nicole Diekmann wiederum ist es ein "Dammbruch" (gepostet etwa bei Threads). Teresa Stiens spricht im "Handelsblatt" von "verfassungsfeindlicher Agitation" (so lautet jedenfalls die Zusammenfassung ihrer Position im Vorspann ihres Kommentars).

"Wer vorgibt, so jemandem wegen Meinungsvielfalt Raum zu geben, macht es sich in einem Pseudoliberalismus bequem, der letztlich auf Totalitarismus hinausläuft. Hinzu kommt, dass Musk ein notorischer Fake-News-Verbreiter ist und allein wegen mangelnder Seriosität als Gastautor nicht infrage kommen dürfte."

Dass der Artikel und der redaktionelle Umgang damit "im krassen Widerspruch zu den Essentials von Axel Springer" stünden, meint der "Welt"-Redaktionsausschuss (siehe "Medieninsider" und "Tagesspiegel"). Gemeint sind diese "Essentials".

Im bereits erwähnten Gespräch mit der FAZ begründet Jan Philipp Burgard die Veröffentlichung des Musk-Textes unter anderem so:

"Der Umgang mit der AfD ist seit Jahren eine große Herausforderung für alle Journalisten. Nach meiner Auffassung hat die Strategie des Totschweigens, Tabuisierens, Ignorierens, Nichtbeachtens und der Pauschalkritik nachweislich nicht funktioniert."

Dass Burgard beim Thema "Umgang mit der AfD" die Schlagworte "Totschweigen" und "Nichtbeachten" einfallen, lässt nur folgenden Schluss zu: Der gute Mann hat sich im vergangenem Jahrfünft offenbar für eine ultraasketische Medienrezeption entschieden. Aber man muss das verstehen, der hatte als US-Korrespondent der ARD und Chefredakteur von Welt TV den lieben langen Tag ja auch bessere Dinge zu tun, als zu verfolgen, was andere Journalisten so machen.

Weitere Fragen, die sich stellen: Ist die Veröffentlichung dieses Musk-Textes nun überraschend? Was bedeutet er für die Rolle der "Welt"-Medien und von Springer im - räusper, räusper - bundesrepublikanischen Diskurs? Die Journalistin Gilda Sahebi postet dazu:

"Henryk M. Broder, Rainer Meyer (alias Don Alphonso), Ulf Poschardt und Anna Schneider schreiben für die WELT. Ist ernsthaft jemand überrascht (und empört), dass sie Elon Musks AfD-Aufruf veröffentlicht? WELT ruft schon lang dazu auf, AfD zu wählen, nur eben bisher nicht mit offenem Visier."

Man könne auch empört sein, ohne überrascht zu sein, antwortet daraufhin Deutschlandfunk-Redakteurin Ann-Kathrin Büüsker.

"Axel Springer ist der publizistische Arm des Rechtsextremismus, des Rassismus und des Antisemitismus in Deutschland",

schreibt Stephan Anpalagan, Theologe und Buchautor, zur Veröffentlichung von Musks AfD-Wahlwerbebeitrag.

Und "Spiegel"-Kolumnist Christian Stöcker schreibt bei Bluesky:

"Die entscheidende Frage für Leute, die bei Springer arbeiten (und alle, die sich aus den Erzeugnissen dieser Gruppe informieren) ist diese: Ist Mathias Döpfner die Demokratie wichtiger -  oder die Staatsverachtung? Die Demokratie - oder die 'Freiheit' anderer Milliardäre?"

Für den Soziologen Oliver Nachtwey ist die Sache längst klar:

"Die Springerleute wollen die BRD-Demokratie (…) gerade einfach brennen sehen."

Das ist vielleicht der entscheidende Unterschied zu den Zeiten, als die visionäre Forderung "Enteignet Springer!" noch auf relativ viel Unterstützung in der Gesellschaft stieß. Wann Springers konservative Phase endete und die anti-bundesrepublikanische begann - das wäre dann eine Frage, der sich Medienwissenschaftler (oder vielleicht auch eher Politikwissenschaftler) bald mal widmen sollten.

Das generelle Dilemma der Musk-Berichterstattung

Zu diskutieren wäre natürlich unter anderem noch darüber, ob das in dieser Kolumne allenfalls ansatzweise dokumentierte Ausmaß der Reaktionen auf Musks WamS-Gastbeitrag nicht kontraproduktiv ist. Michael Hanfeld (FAZ) hat viel "billiges Aufregungsgetöse" wahrgenommen. Er schreibt:

"Skandalös ist nicht Musks Meinungsbeitrag in einer Zeitung; skandalös sind die heimlichen Manipulationen im Netz; sind die Algorithmen, die Fake News und Propaganda nach vorne schieben; ist der von Musk und Trump geplante Demokratieabbau und die digitale Kriegsführung Russlands gegen den Westen."

Es wird aber eher umgekehrt ein Schuh draus: Weil all das, was Hanfeld als "skandalös" bezeichnet, genau das ist, ist auch die Publikation des Gastbeitrags ein Skandal. Der Wams-Text ist ja - auch - Teil der russischen Destabilisierungs-Strategie (mit dem Unterschied, dass dieses Mal analoge Verbreitung eine Rolle spielt). Musks "Engagement für die AfD" (das steht wirklich so in der WamS, auf Seite 10) ist jedenfalls eher ein Mittel zum Zweck.

Andrian Kreye schreibt für die SZ zum Thema Aufmerksamkeitsökonomie:

"Fast alle Medien (inklusive dieses Textes) ließen sich auf Betrachtung, Analyse und Debatte ein. Das Dilemma: Der Nachrichtenwert solch radikaler Meinungsäußerungen des reichsten Unternehmers und eines der mächtigsten Männer der Welt ist zu groß, um sie zu ignorieren. Das hat einen Verstärkereffekt, der in der Aufmerksamkeitsökonomie den rhetorischen Kurswert Elon Musks immer weiter nach oben treibt."

Die Headline lautet "Zum Ignorieren zu mächtig", und in dem Sinne ist es dann fast konsequent, dass Kreye zum Thema noch einen zweiten Beitrag für die SZ geschrieben hat:

"Was offenbleibt, ist die Frage der Verhältnismäßigkeit. Gastbeiträge geben oft keineswegs die Meinung der oder Teile der Redaktion wieder. Das ist die Grundlage für Meinungsfreiheit und Debatte. Es ist allerdings ein Unterschied, ob so ein Beitrag von einer Intellektuellen kommt oder von einem der mächtigsten Männer der Welt (…) Elon Musks AfD-Bejubelung ist mit Sicherheit der prominenteste Gastbeitrag, seit George Clooney Joe Biden mit einem Op-Ed in der New York Times mutmaßlich dazu brachte, aus dem Wahlkampf auszusteigen."

Für den "Spiegel" schreibt Stefan Schultz im Rahmen einer "Selbstanklage":

"Wie soll das Mediensystem populismusfest werden, wenn es so stark vom Populismus profitiert? (…) Journalistinnen und Journalisten müssten ihre Rolle viel grundsätzlicher hinterfragen. Sie müssten sich stärker damit auseinandersetzen, wie sie die beschriebenen Mechanismen selbst mit aufrechterhalten. Nur dann entwickeln sie sich persönlich weiter – und mit ihnen die Systeme."

Musks Gastbeitrag im Gesamtkontext rechtsextremer Strategien ordnen zwei Zeit-Online-Beiträge ein. Nils Markwardt schreibt:

"Es steht in einer rechtsextremen Tradition, dass Elon Musks Einstieg in die Politik offenbar den eigenen Finanz- und Geschäftsinteressen dienen soll. Der Immobilien- und Medientycoon Silvio Berlusconi wechselte 1994 auch deshalb abrupt in die Politik, weil er seine finanziell angeschlagenen Unternehmen retten wollte (…) Noch krasser zeigt sich die Kleptokratie, die Herrschaft der Korruption, in Russland. Obschon Putin einst mit dem Versprechen antrat, den Oligarchen den Kampf anzusagen, ist das höchstens zur Hälfte passiert. Diese vermeiden es heute zwar, den Kreml politisch offen herauszufordern – aber letztlich nur deshalb, weil Putin ihnen weitestgehend freie Hand dabei lässt, das Land wirtschaftlich auszuplündern."

Zum Russland-Aspekt sind auch Äußerungen des Historikers Timothy Snyder erhellend (siehe das Ende dieses "Guardian"-Textes).

Markwardt weiter:

"Natürlich sind Rechtsextreme nicht die Einzigen, die private Wirtschaftsinteressen verfolgen, sich persönliche Vorteile beschaffen und korrupt sind (…) Die Besonderheit an der extremen Rechten ist aber: Sie stellen den Ausverkauf der Politik mitunter ganz offen zur Schau. Das aktuell prominenteste Beispiel ist einmal mehr Elon Musk (…)"

Der andere erwähnte Zeit-Online-Test stammt von Georg Diez, er schreibt:

"(Musks) Intervention in Deutschland nun zeigt, wie sich für ihn künftige Politik nach Gutsherrenart darstellt: Es geht, wie in seiner medialen Performance, um Druck, Dominanz, Demütigung. Musks Politik folgt keinen eigentlichen Prinzipien, außer dem eigenen Vorteil. Musk versteckt diesen Egoismus auch nicht (…) Früher waren es, manchmal verborgen, manchmal offen, Staaten oder Konzerne, die so in andere Staaten hineinregierten, die Regierungen stürzten, die ihnen im Weg waren, und Regierungen unterstützten, die ihnen genehm waren – heute tut das eine einzelne Person, und das ist ein kategorischer Unterschied. Musk agiert nicht wie ein Konzernchef, er agiert wie ein Fürst. Das Neue an Musk ist das alte Gesicht des Feudalismus."

"Was für eine Zeit, in der wir Medienrevolutionen durchleben!"

Was durch Musks Beitrag in einer eine Woche lang am Kiosk liegenden Sonntagszeitung, der der Autor damit "zumindest für ein paar Tage zu Weltruhm verholfen" hat (wie der bereits erwähnte Adrian Kreye schreibt), in den Hintergrund geraten ist: seine an Heiligabend gepostete Aufforderung, nicht an Wikipedia bzw. "Wokepedia" zu spenden (siehe u.a. diesen taz-Kommentar).

Musks Aufruf, nicht zu spenden, hat zwar offenbar genau das Gegenteil von dem bewirkt, was er bewirken sollte, wie "Der Standard" rekapituliert:

"Zwischen 21. und 24. Dezember erhielt die Stiftung (…) hinter der Wikipedia täglich zwischen 804.000 und 929.000 Dollar. Am 25. stieg das Aufkommen knapp über die Millionengrenze. Es folgten Tage mit 1,6 Millionen, 1,7 Millionen sowie 1,5 Millionen Dollar. Am letzten vollen Tag nach aktuellem Stand (29. Dezember) waren es 1,4 Millionen. Das ist nicht nur ein unüblich hoher Anstieg, sondern mit Ausnahme des 29. Dezembers auch erheblich mehr, als man an den gleichen Tagen des Vorjahrs bekam."

Man muss Musks erneuten Angriff auf Wikipedia aber als Teil eines Kulturkampfs gegen Wissen und Expertise im allgemeinen sehen (siehe auch Altpapier-Jahresrückblick), und es ist absehbar, dass Musk (oder seine Jünger) sich demnächst die Encywokepedia Britannica und das Wrokehaus vorknöpfen werden.

"Was für eine Zeit, in der wir Medienrevolutionen durchleben!", schreibt daher Michael Blume in einem Kommentar zu seinem eigenen Beitrag über Musks Angriff im "Natur des Glaubens"-Blog bei "Spektrum der Wissenschaft".

Der Fall Mischke: Wo bleibt die strukturelle Kritik?

Ein weiteres Thema, das jenseits von irgendwas mit Musk die Diskussionen unter Medienleuten prägte (zumindest in meinen Timelines): der Protest von Kulturschaffenden und Journalisten gegen die Entscheidung der ARD, den immer wieder mit sexistischen Positionen aufgefallenen Thilo Mischke zum Moderator des Kulturmagazins "ttt" zu machen. Am 23. Dezember veröffentlichte Simon Sahner bei "54 books" einen Text, der eine für Debattenneueinsteiger hilfreiche Zusammenfassung enthält:

"Seit mehreren Tagen wird diese Personalentscheidung für Mischke von vielen Menschen aus dem Kulturbetrieb kritisiert. Autor*innen wie Berit Glanz (Redaktionsmitglied bei 54books), Mareike Fallwickl, Nicole Seifert, Mareice Kaiser, Alena Schröder und Till Raether; Journalist*innen wie Andrea Diener, Isabella Caldart und Ann-Kathrin Büüsker; und viele weitere Menschen aus dem Kultur- und Literaturbetrieb wie Magda Birkmann, Dax Werner, Moritz Hürtgen und Joris Wiese äußerten in den Sozialen Medien Kritik und untermauerten sie mit Zitaten aus den Büchern und Podcasts des angehenden Moderators. Annika Brockschmidt und Rebekka Endler ordneten diese Kritik und analysierten und sammelten die Quellen in ihrem Podcast Feminist Shelf Control im Gespräch mit Anja Rützel und Isabella Caldart. Die Kritik ist umfassend und deutlich. Sie wirft Thilo Mischke vor allem vor, mit seinen Texten und Aussagen in Podcasts sexistische und misogyne Stereotype zu unterstützen und damit zu einer Vergewaltigungskultur / Rape Culture beizutragen."

Die erwähnten Quellen findet man in einem 14-seitigen Google-Docs-Dokument, die besagte Podcast-Ausgabe dauert mehr als zwei Stunden. Und die erwähnte Autorin und Podcasterin Rebekka Endler schreibt bei "Übermedien", das "vielleicht Schlimmste, das den ARD-Leuten entgangen zu sein scheint, sind Mischkes pseudowissenschafliche Hot Takes, die er 2019 in einem Podcast zu der Natur des Mannes formulierte". Gemeint ist die "These" (O-Ton TM), dass "die männliche Sexualität vielleicht auf Vergewaltigung" basiere.

Die SZ berichtet:

"In einem Statement, das die ARD an Heiligabend verschickte, ist von einem Castingprozess die Rede, zu dem Mischke eingeladen worden war und dort 'einer von zwei Gewinnern' wurde. Zudem sei er dann in einem 'Nutzertesting mit über 100 Teilnehmern’ Sieger geworden."

Auf "die interessante Frage, wer Mischke zu dem Casting eingeladen hat, wer es leitete und die Sieger auswählte", habe die ARD aber nicht geantwortet. Transparenz-Weltmeister wird die ARD wohl nicht mehr.

Auf einen bemerkenswerten Twist in der Debatte weist die gerade zitierte Rebekka Endler in einem Bluesky-Post hin. Es geht dabei um folgenden Vorspann/Social-Media-Teaser für einen bzw. zu einem FAZ-Artikel von Michael Hanfeld:

"Die ARD steht zu ihrem Kulturmoderator Thilo Mischke, der das Magazin 'ttt' übernimmt, und verteidigt ihn gegen die Kritik von Feministinnen. Der Senderverbund kann sein Festhalten an dem Journalisten begründen."

Auffällig daran: Mischke firmiert hier als Journalist, aber dass die Kritikerinnen entweder hauptberuflich Journalistinnen sind oder zumindest auch durch journalistische Arbeiten bekannt sind, bleibt außen vor. Und die männlichen Kritiker finden gar keine Erwähnung.

Seit heute liegt auch ein Offener Brief von mehr als 100 Kulturschaffenden und Journalisten vor, den der "Tagesspiegel" publiziert hat. Darin heißt es:

"Die ARD hat 2022 die Erklärung "Gemeinsam gegen Sexismus und sexuelle Belästigung" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterzeichnet. Darin steht: "Sexismus hat Folgen: Er kann zu ungleicher Chancenverteilung und zu sexueller Belästigung bis hin zu Gewalt führen. Der Übergang von Sexismus zu sexueller Belästigung ist fließend – und ist damit auch ein Nährboden für Gewalt." Mit der Unterzeichnung dieser Erklärung hat sich die ARD verpflichtet, aktiv gegen Sexismus einzutreten. Wir sind der Meinung, dass die ARD sich dieser Verpflichtung auch in der Personalpolitik stellen muss."

So gesehen, gibt es also doch zumindest eine Art Link zwischen den "Fällen" Musk und Mischke. Springer verstößt, nicht zuletzt laut Auffassung eigener Redakteure, mit der AfD-Wahlwerbung gegen seine Unternehmensgrundsätze und die ARD mit der Verpflichtung Mischkes gegen eine von ihr unterzeichnete Erklärung. Die Autorinnen und Autoren, die den Offen Brief unterzeichnet haben, schreiben weiter:

"Wir wünschen uns für das Kulturfernsehen enthusiastische und an Kultur interessierte Moderator*innen, die sensibel und empathisch in der Lage sind, auf Gegenwartsdiskurse zu antworten und der Komplexität aktueller Kulturdebatten gerecht zu werden. Eine Zusammenarbeit mit Thilo Mischke als Moderator der Kultursendung 'ttt – titel thesen temperamente’ schließen wir deshalb für uns aus."

Gilda Sahebi (hello again!) hat kürzlich bei Instagram allerdings betont, dass die bisherigen Reaktionen in Sachen Mischke zu kurz greifen. Nach den Recherchen von etwa Feminist Shelf Control

"wissen nun alle, dass Thilo Mischke ungefähr alle sexistischen und frauenfeindlichen Denkmuster in sich vereint, die es überhaupt gibt. Es muss nicht immer und immer wieder bewiesen werden, dass das frauenfeindlich ist. Darüber braucht man echt nicht diskutieren. Mit niemandem. Ich glaube, dass man sich auch schnell vom Mischke-Bashing verabschieden sollte. Typen wie ihn gibt es wie Sand am Meer".

Sahebi fordert:

"Man muss wirklich über die Strukturen sprechen. Bei moralischer Empörung stehenzubleiben oder sogar steckenzubleiben, hilft nichts. Feminismus hat keine Chance, wenn er sich über einzelne aufregt, ohne strukturell zu denken. Ich will echt nichts mehr über diesen Typen hören. Ich will lieber über patriarchale Strukturen in den Institutionen sprechen."


Altpapierkorb (Antifa muss Journalisten schützen, Cecilia Sala in iranischer Geiselhaft, Texte anlässlich von Buhrows Pensionierung, Ende der "Tegernseer Stimme", "Kulturbruch" in Stuttgart)

+++ Unter der Überschrift "Allein gelassen mit Neonazis: Wie die Polizei in Magdeburg Journalisten grob gefährdete", beschreibt Sebastian Leber im "Tagesspiegel" die Situation von Journalisten während einer dortigen Demonstration von Rechtsextremisten. "Dass ich selbst an diesem Abend nicht attackiert wurde, habe ich (…) nicht der Polizei zu verdanken, sondern einer kleinen Gruppe Magdeburger AntifaschistInnen, die vor Ort war, um gegen den Aufmarsch der Rechtsextremen zu protestieren. In meiner Notlage ging ich direkt auf diese Menschen zu, erläuterte ihnen das Verhalten der Polizei sowie unsere Lage und fragte, ob sie bereit seien, mich und mehrere andere Vertreter bürgerlicher Medien zu beschützen. Sie waren es. Somit konnten wir uns in ihre Mitte stellen und von dort weiter unserer Arbeit nachgehen. Man muss sich das klarmachen: Die Aufgabe der Polizei, freie Berichterstattung zu ermöglichen, wurde in Magdeburg an diesem Abend nicht vom Staat geleistet, sondern von zumeist jungen Frauen und Männern, die sich antifaschistisch engagieren."

+++ Warum die Inhaftierung der italienischen Journalistin Cecilia Sala im Iran als Geiselnahme einzustufen ist, beschreiben die taz und die FAZ.

+++ Tom Buhrows Abschied als WDR-Intendant bzw. in den Ruhestand sind Texte in der FAZ und in der SZ gewidmet.

+++ Die SZ hat außerdem Martin Calsow getroffen, den Herausgeber der Online-Zeitung "Tegernseer Stimme", die zwar 2024 so erfolgreich war wie nie, aber wegen gescheiterter Versuche, neue Redakteure zu rekrutieren, im neuen Jahr nicht mehr erscheinen wird (siehe Altpapier).

+++ Was uns 2025 wohl erhalten bleibt: das Entsetzen der Belegschaft von "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" über die Hierarchen in Redaktion und Verlag (Altpapier, Altpapier). Warum "Langgediente" eine kurz vor Weihnachten von Geschäftsführung und Chefredaktion verschickte Mail "wechselweise einen Kultur- oder Tabubruch oder eine Kriegserklärung nennen", beschreibt ausführlich Josef-Otto Freudenreich für "Kontext".

Das Altpapier am Freitag schreibt Ralf Heimann. Ein frohes und gesundes neues Jahr wünscht Ihnen die Altpapier-Redaktion!

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