Kolumne: Das Altpapier am 9. Dezember  2024: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels 3 min
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Kolumne: Das Altpapier am 9. Dezember von Christian Bartels Gespaltene Zungen

Kolumne: Das Altpapier am 9. Dezember – Gespaltene Zungen

Wird die ARD-Mediathek demnächst zu einem "sozialen Medium"? Der NDR hat sich mit einer abgebrochenen Recherche in eine doofe Position manövriert.

Mo 09.12.2024 13:37Uhr 03:11 min

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Kolumne: Das Altpapier am 9. Dezember 2024 Gespaltene Zungen

09. Dezember 2024, 10:35 Uhr

Wird die ARD-Mediathek demnächst zu einem "sozialen Medium"? Der NDR hat sich mit einer abgebrochenen Recherche in eine doofe Position manövriert. Und die sogenannte Künstliche Intelligenz Chat-GPT kann offenbar noch effektiver polarisieren als sog. soziale Medien. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Bald schon in der Mediathek: Nutzerkommentare?

"So positionieren wir uns gemeinsam gegenüber den kommerziellen Big-Tech-Playern als wertegebundener, transparenter und der deutschen Gesellschaft verpflichteter Streaming-Anbieter".

Mit derlei Ankündigungen geizen die Öffentlich-Rechtlichen-Chefs nicht, in diesem Fall der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke und ZDF-Intendant Norbert Himmler im Mai. Gerne formulieren sie den Anspruch, ein sympathisches, nichtkommerzielles Gegenmodell zu den polarisierenden Plattformen zu entwickeln, wenn es rhetorisch passt. Wobei es meist darum geht, weitergehenden Forderungen aus der Medienpolitik entgegenzutreten.

Nun aber steht wohl tatsächlich etwas bevor, das zwar großen Teilen der deutschsprachigen Menschheit zunächst als nicht sehr großes Ding erscheinen mag, doch für die Öffentlich-Rechtlichen ein beträchtlicher Schritt wäre:

"Die ARD will in ihrer Mediathek künftig Nutzerkommentare ermöglichen. Die entsprechende Grundsatzentscheidung sei getroffen worden, teilte die ARD-Programmdirektion in München auf epd-Anfrage mit. Aktuell werde geprüft, wie eine konzeptionelle und technische Umsetzung der Kommentarfunktion aussehen könne. Diese solle für Inhalte zum Einsatz kommen, bei denen sie einen 'Mehrwert' biete. Ab wann sie verfügbar sein wird, steht den Angaben zufolge noch nicht fest",

berichtet Volker Nünning bei "epd medien". Irgendwie, irgendwo, irgendwann wird also die von weiterdenkenden Experten wie dem ZDF-Verwaltungsrat Leonhard Dobusch und dem Medienwissenschaftler Hermann Rotermund seit Jahren (vgl. z.B. dieses Altpapier von 2022) erhobene Forderung verwirklicht werden, dass ARD und ZDF ihr Publikum nicht mehr "für die Interaktion auf eine kommerzielle Plattform" schicken sollten. Bislang werten die öffentlich-rechtlichen Anstalten Googles Youtube ja nicht allein durchs Raufladen von jeder Menge Inhalte auf, sondern auch noch dadurch, dass es das Monopol aufs Kommentieren besitzt. Und gerade diese Interaktion ist es ja, die viele Menschen fasziniert (bzw. triggert) und der eigenwerblichen Gattungsbezeichnung "soziale Medien" gewisse Berechtigung verleiht.

Wenn die ARD und idealerweise auch das ZDF (die nach Ansicht aller anderen außer ihnen selbst ja sowieso eine gemeinsame Plattform betreiben sollten) konsequent vorgehen, dürfte sich das als ziemlich großer Schritt für öffentlich-rechtliche Medien erweisen.

Der NDR im internationalen Rampenlicht

Internationale Aufmerksamkeit für den deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk generiert seit gut einer Woche der NDR. Bzw. wurde er da zum Gegenstand vieler "sehr ausführlicher Texte", die auf französisch bei mediapart.fr, auf italienisch und englisch erschienen (Altpapier), und inzwischen immer mehr, ebenfalls äußerst ausführliche deutsche Texte nach sich ziehen. Bei uebermedien.de (Abo) schrieben Ex-Altpapier-Autorin Annika Schneider und Alexander Graf. Und heute füllt "SZ"-Veteran Hans-Jürgen Jakobs, von der (in Papiermedien wichtigen!) Rätselspalte abgesehen, die ganze "SZ"-Medienseite (auch Abo).

Die Materie ist komplex. Klar ist, dass das Inves­tigativreporter-Netzwerk OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project), das sein Chef Drew Sullivan als "die wichtigste investigative Reporterorganisation, von der man noch nie gehört hat", bezeichnet und das bei sehr vielen, oft Aufsehen erregenden Recherchen dabei war, in erheblichem Ausmaß von US-amerikanischen Regierungsstellen finanziert worden ist. Ob das intern bekannt war und alle, die sich in zugängliche Dokumente vertieften, wissen konnten, ist umstritten.

Diese an Bedingungen wie die, bei bestimmten Recherchen US-amerikanische Bezüge auszusparen, geknüpften OCCRP-Finanzierungen galten ab Anfang 2023 selber Recherchen, die vom NDR ausgingen, und zwar von dessen Investigativreporter John Goetz. Der seit langem in Deutschland tätige US-Amerikaner geht investigativ oft in Grauzonen, in denen Schwarz und Weiß sich nicht schnell oder auch gar nicht zeigen. Für diese Recherchen holte der NDR auch Partner ins Boot – welches er selber dann verließ, um seine Recherchen lieber nicht zu veröffentlichen.

"Im harmlosesten Fall zeigt das Beispiel, wie planlos und unkoordiniert ein öffentlich-rechtlicher Sender Ressourcen vergibt und Inhalte plant: Nach vielen Monaten aufwendiger Recherche, einer extra vereinbarten Kooperation mit Medienpartnern und einem großen Teil der Schnittarbeit versandet ein fast fertiger Beitrag irgendwo zwischen Zuständigkeiten und Programmschemata – ohne dass der Sender eine inhaltliche Begründung geliefert hat, warum das Thema nicht ausgestrahlt wurde",

heißt es bei uebermedien.de zu diesem Aspekt. Der andere, größere Aspekt wird ebd. so beschrieben:

"Die weltweit größte und einflussreichste Recherche-NGO bekommt seit Gründung einen Großteil ihrer finanziellen Mittel von der US-Regierung. Und selbst wenn sich das OCCRP nach eigenen Angaben von dieser Finanzierung nicht beeinflussen lässt, stellen sich allein aufgrund dieser Konstellation unweigerlich medienethische Fragen."

Jakobs zieht in der "SZ" noch weitere Perspektiven auf und beginnt anno 2015, als im OCCRP intern schon ähnlich diskutiert worden sei. Zudem legt er dar, dass die nun wieder viel zitierte "Panama Papers"-Recherche von der "Süddeutschen" initiiert wurde, der ein Whistleblower Daten übermittelt hatte, und daran dann "hunderte Journalisten weltweit" arbeiteten, darunter bloß "einige des OCCRP". Und dass das OCCRP sich durchaus an Recherchen mit kritischen US-amerikanischen Bezügen beteiligte, etwa was "Steuerpraktiken von ... Apple und Nike" oder "Russland-Geschäfte des späteren US-Handelsministers Wilbur Ross" aus der ersten Trump-Präsidentschaft betraf. Nicht nur einmal erfreut Jakobs sich am Großes-Kino-Charakter der Chose:

"Die eingebaute Spannung zwischen ethischen Puristen und demokratiebewussten Pragmatikern erklärt auch die Nervosität der Akteure. Mitte 2023 schrieb Drew Sullivan, zunehmend erbost über die seit Jahresanfang laufenden Recherchen des NDR, eine E-Mail an die Chefredaktion in Hamburg. Er habe darin gebeten, einen hohen Standard für Factchecking und Genauigkeit einzuhalten, ließ er intern bei OCCRP seine Belegschaft wissen. Und warnte vor 'Propaganda gegen unser Netzwerk'; besser, man rede nicht mit dem NDR ..."

Ungefähr dieser Meinung schloss sich am Samstag zumindest die "FAZ" ("Den Nachweis, dass das OCCRP ... korrumpiert sei, kann Mediapart in der Tat nicht ansatzweise führen") an, die zuvor schon berichtet hatte. Womöglich bewegten also solche Vorwürfe die NDR-Spitze, womöglich auch die unweigerlichen Anschlussfragen, die Jakobs so formuliert:

"In Autokratien wie Russland, Kirgisistan oder Georgien könnte die neue Publizität von OCCRP ganz andere Folgen haben. Wird der Vorwurf laut, heimische Journalistinnen und Journalisten arbeiteten für eine Organisation, die US-Interessen mit publizistischen Mitteln verfolge, finden diese sich oft als 'feindliche Agenten' wieder."

"Zapp, also das NDR-Medienmedienformat, das am 4. Dezember einen auch nicht kurzen, bereits im Altpapier tags drauf verlinkten Text veröffentlichte, bemüht dafür (und wohl auch, um zu betonen, dass es selber mit nichts zu tun hatte) Leonard Novy vom einst von Lutz Hachmeister gegründeten Institut für Medienpolitik:

"Das Ausmaß der personellen und finanziellen Verflechtung von OCCRP mit der US-Regierung, so wie es 'Mediapart' und DSN darstellen, laufe 'jeglichen Prinzipien journalistischer Ethik' zuwider, so Novy. Es lasse den Verdacht zu, dass Journalisten für politische Zwecke eingespannt oder instrumentalisiert werden könnten".

Und dass ein prominent platzierter Verdacht immer mehr Reichweite bekommt als eventuelle spätere Entkräftungen, ist ein alter Hut. All die eben zitierten Einschätzungen dürften viele, nicht nur Journalisten teilen – und lassen es umso seltsamer erscheinen, warum der NDR proaktiv in die Defensive gegangen ist und die, nüchtern formuliert: unglückliche Position bezogen hat, kein bisschen von den Ergebnissen seiner Recherchen veröffentlichen zu wollen. Dabei stellt der NDR doch sehr viele unterschiedliche lineare und nichtlineare Sendungen und Formate für völlig unterschiedliche Zielgruppen her. Wie spektakulär man Berichte präsentiert und wie differenziert man in die Details geht, hat ja in der Hand, wer sie veröffentlicht. Erst wer aufs Veröffentlichen verzichtet bzw. es anderen überlässt, hat es nicht mehr in der eigenen Hand.

ChatGPTs Sprachbias

Aufmerksamkeit verdient dann noch eine "Medienmitteilung der Universität Zürich" und der Schweiz-nahen deutschen Universität Konstanz, die zunächst beim Portal infosperber.ch erschien. "Millionen von Menschen kommunizieren täglich mit Chat-GPT und anderen Large-Language-Models, etwa um Informationen zu erhalten", lautet die Prämisse. Heißt, dass Fragen, die man früher, formal etwas komplizierter, in Suchmaschinen eingab, inzwischen umso einfacher an sog. Künstliche Intelligenz wie Chat-GPT gerichtet werden. "Macht es einen Unterschied, ob man dieselbe Frage auf Englisch oder Deutsch, Arabisch oder Hebräisch stellt?", lautet die Ausgangsfrage der Forscher Christoph Steinert und Daniel Kazenwadel. Die Antwort lautet: Ja, und zwar mit, leider, hoher tagespolitischer Brisanz. Die beiden

"haben Chat-GPT in einem automatisierten Verfahren wiederholt die gleichen Fragen in unterschiedlichen Sprachen gestellt. So haben die Wissenschaftler sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch wiederholt gefragt, wie viele Opfer es bei 50 zufallsbasiert ausgewählten Luftangriffen – etwa dem israelischen Luftangriff auf das Nuseirat-Flüchtlingscamp am 21. August 2014 – gegeben habe. 'Wir haben herausgefunden, dass Chat-GPT systematisch höhere Opferzahlen angibt, wenn es auf Arabisch gefragt wird im Vergleich zu Hebräisch. Im Schnitt sind es 34 Prozent mehr'."

Vor allem "getötete Kinder" würden auf arabisch umso häufiger erwähnt. Zu einem weiteren, ähnlich endlosen Konfliktfeld im Nahen Osten kamen die beiden zum selben Resultat: "Das gleiche Muster fanden die Forscher auch, wenn sie nach Luftangriffen der türkischen Regierung auf kurdische Gebiete fragten und diese Fragen sowohl auf Türkisch als auch auf Kurdisch stellten." Der Fachbegriff heißt "Sprachbiases". "ChatGPT mit gespaltener Zunge" überschrieb die "FAZ" (Abo) ihre gedruckte Meldung.

Leicht abstrahiert, tut die sogenannte KI damit nichts anderes als sog. soziale Medien sowieso tun. Zu deren Erfolgsrezepten gehört ja auch, alle Filterblasen in ihren jeweiligen Ansichten bestätigen – nicht zuletzt durch weitgehendes Ausblenden anderer Ansichten. Womöglich tut es KI aber effektvoller, schon wegen des "Intelligenz" im wiederum ursprünglich eigenwerblichen Gattungsnamen dieser Technologie.


Altpapierkorb (Content-Moderation, Böhmermann vs. Reichelt, Merkel-Bestseller, Filmförderung, Vorratsdatenspeicherung)

+++ Auf den Plattformen Facebook und Instagram in Deutschland aktive Content-Moderatoren fühlen sich sowohl vom Datenkraken-Konzern Meta, der bei Moderation auf Subunternehmen und "unzumutbare Bedingungen" setzt, als auch von der Gewerkschaft Verdi "schlicht und ergreifend im Stich gelassen". Das zeigt ein bei netzpolitik.org veröffentlichter Brief ans Europäische Parlament. +++

+++ Am Montagmorgen 6.445 Kommentare auf Googles Youtube hat die jüngste Böhmermann-Show des ZDF zum Thema "Nius: Wo rechte Hetze eine Bühne bekommt". +++ Von Julian Reichelts "Gegenoffensive" berichtete in Echtzeit der "Standard", auch wegen größerer Österreich-Bezüge der Show. So hält der "Nius"-Eigentümer Vius inzwischen eine 50-prozentige Beteiligung am Portal exxpress.at. +++ Dass für die Medizinsoftware-Firma, dessen Gründer und Haupteigner wiederum Vius gründete, ein Finanzinvestor ein milliardenschweres Übernahmenangebot abgab, berichtet das "Handelsblatt". +++

+++ Wie toll verkauft sich Angela Merkels Buch "Freiheit" (Altpapier) denn nun? Es sei "das bislang erfolgreichste Buch des Jahres. In der ersten Verkaufswoche wurden die Memoiren der früheren Kanzlerin mehr als 200.000 Mal verkauft", meldet die dpa (zeit.de). +++

+++ Weiter für Spannung sorgt, was die aktuelle Bundesregierung noch hinkriegt. "Wesentliche Bausteine" der über viele Jahre bundeszentral-föderalistisch gewälzten Filmfördergesetze-Reformen "werden nun aber voraussichtlich nicht mehr umgesetzt. Der Niedergang des Filmstandorts Deutschland wird damit anhalten", schreibt die "Welt" und: "Dass nun 'europarechtliche Vorgaben' als Grund für das Scheitern dieses Teils der Reform genannt werden, ist interessant. Denn es gibt solche Modelle ja bereits in der EU ...". +++ Aber "für eine allgemeine anlasslose Vorratsdatenspeicherung" zeichne sich noch eine schwarz-rote Mehrheit ab, schwant netzpolitik.org. +++

Das nächste Altpapier folgt am Dienstag auch von Christian Bartels.

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