Kolumne: Das Altpapier am 5. Dezember 2024 Wacht die EU noch auf, oder will sie das gar nicht?
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05. Dezember 2024, 14:13 Uhr
In Rumänien sieht es gerade so aus, als schleiche sich ein Politiker vom rechten Rand mithilfe von Russland und TikTok an die Macht. Außerdem heute auf der Agenda: ein öffentlicher Trennungsstreit zwischen einem öffentlich-rechtlichen Sender und früheren Recherchepartnern. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Brüssel muss nachlegen
- Die Märchen bleiben bestehen
- Das ist Chirurgie, langweilig wird sie nie
- Eine Journalisten-Prognose von 1945
- Unter Ex-Partnern
- Altpapierkorb ("Rechtsruck" bei Jugendlichen wissenschaftlich nicht belegt, Fachkräftemangel bei der "Tegernseer Stimme", unlokaler Lokaljournalismus, Sportjournalismus 2025)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Brüssel muss nachlegen
Wir müssen heute unbedingt mal über Rumänien reden, aber - das sei gleich gesagt für jene, die jetzt weiter scrollen wollen - wir landen relativ schnell in Deutschland. Petra Pinzler schreibt in ihrer "Fünf vor acht"-Kolumne für Zeit Online:
"In Rumänien hat ein bis dato fast unbekannter rechtsradikaler und prorussischer Politiker die erste Runde zur Präsidentschaft gewonnen. Im Nachhinein wird immer wahrscheinlicher, dass Călin Georgescu auf den Internetplattformen TikTok und Facebook viel Hilfe von Bots bekam – aus Russland.
Was die Sache für die Demokratie dabei so gefährlich macht, ist die verdeckte Macht der Algorithmen (…)"
Eine Macht, an deren konkreter Beschreibung "zum Beispiel Vertreter von Tiktok am vergangenen Mittwoch im EU-Parlament" wenig Interesse zeigten, wie Pinzler bemerkt. Sie schreibt weiter:
"Ein Rechtsradikaler schleicht sich mithilfe von Russland und TikTok einfach so an die Macht? (…) Und bei uns? Was, wenn vor der Bundestagswahl massenhaft falsche Informationen über die Spitzenkandidaten der Parteien verbreitet werden? Wenn über deren Politik oder Persönlichkeit gelogen wird, vielleicht gesteuert durch russische Bots, vielleicht auch nur durch die sehr kompetenten Fake-News-Abteilungen der deutschen Populisten?"
Da es mittlerweile ja so viele populistische Parteien gibt wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik: Es könnte, sarkastisch gesagt, ein interessanter Wett- bzw. Wahlkampf werden in der Halböffentlichkeit des Microtargeting. Pinzler meint:
"Können die Plattformbetreiber (…) nicht überzeugend schnell darlegen, dass sie ihre Algorithmen nicht immer mehr in Richtung Hetze verändern, sollte auch die EU sie weiter einhegen. Die hat das zwar mit dem sogenannten Digital Services Act aus dem Jahr 2022 schon einmal versucht. Doch der wirkt offensichtlich nicht schnell genug – wie Rumänien gerade gezeigt hat. Deswegen sollte auch Brüssel bald nachlegen (…)"
An dieser Stelle bietet es sich an, auf zwei im Altpapier von Montag zitierte Interviews zu verweisen, in denen unter anderem die EU-Internet-Regulierung ein Thema war. Was X angeht, hat sich die Situation dadurch, dass es bald ein Regierungsorgan im weiteren Sinne sein wird, ja noch einmal verändert.
Wie auch immer:
"Noch besteht in der EU vielleicht noch eine kleine Chance, die Demokratie auch im Digitalen zu schützen. Leichter wird die Sache in Zukunft sicher nicht",
schreibt Pinzler.
Die Märchen bleiben bestehen
Es wird übrigens ein recht "Zeit"-lastiges Altpapier heute, aber Kolumnisten sind nun mal keine Ausgewogenheitsbeauftragten. Für die neue Druck-Ausgabe der "Zeit" rekapituliert Robert Pausch, mit welchem Fantasiereichtum das BCL (Bündnis Christian Lindner, aka FDP) auf die "D-Day"-Pläne der Partei, die er, Pausch, sowie die SZ öffentlich gemacht hatten, reagiert haben (siehe auch Altpapier von Montag):
"Der Fraktionschef der FDP im Landtag von Baden-Württemberg, Ulrich Rülke, behauptete, es habe 'keine Papiere' gegeben; Begriffe wie 'D-Day' seien nie verwendet worden. Er forderte die 'Zeit’ und die Süddeutsche Zeitung auf, Beweise vorzulegen (…) Der Vizepräsident des Bundestags, Wolfgang Kubicki, sprach von 'Lügen' und 'Märchen' der Journalisten. 'Ich kann definitiv ausschließen, dass die Information stimmt, es hätte ein Drehbuch gegeben': Als Kubicki diese Sätze aussprach, lag der Zeit’ bereits ein Dokument mit dem Titel 'D-Day Ablaufszenarien und Maßnahmen' vor, das aus der FDP-Parteizentrale stammen sollte. Drehbuchartig wird in diesem Dokument der Ausstieg aus der Koalition vorbereitet."
Pauschs Einordnung dazu:
"Bis heute hat übrigens kein FDP-Politiker eine der Falschbehauptungen zurückgenommen."
Recherchen kommen und gehen, doch Märchen bleiben bestehen. Genauer gesagt: Die Märchen, die die BCL-Leute über die vermeintlichen "Märchen" der Journalisten erzählt haben, bleiben bestehen. Falschbehauptungen, Falschdarstellungen, das Erwecken falscher Eindrücke - nach meinem Eindruck kommt es nicht mehr allzu häufig war, dass Politiker so etwas korrigieren.
Das ist Chirurgie, langweilig wird sie nie
Rabea Weihser geht bei Zeit Online darauf ein, dass die Personen, die Donald Trump für sein Regierungsteam auserkoren hat, eine Vorliebe für dieselben Face-Design-Methoden zu haben scheinen.
Sie benutzt dafür den offenbar vom Magazin "The Hollywood Reporter" geprägten Begriff "Mar-a-Lago-Face". Weihser schreibt:
"Sollte das Mar-a-Lago-Face ab Januar über alle Bildschirme flimmern und das Idealgesicht der USA nachhaltig verändern, sei das kaum verwunderlich, schreibt das Magazin The Daily Beast. Schließlich bestehe fast die Hälfte des Trump-Kabinetts aus kameratauglichen Fernsehmoderatoren von Fox News oder Leuten, die sich auf dem Behandlungsstuhl sehr wohlfühlen. Der nächste Schritt erscheint logisch: Wenn ein MAGA-Makeover Voraussetzung dafür ist, Trump nah sein zu dürfen, könnte es bald auch zum Erkennungsmerkmal seiner Fans werden. Ersetze Basecap durch Botox und Fähnchen durch Filler."
Weiser weiter:
"Schon durch die Auswahl seines Kabinetts betritt (Trump) das Feld einer ästhetischen, körperpolitischen Standardisierung, von der nur er als Patriarch ausgenommen ist. Weil er selbst schon mächtig genug ist. Seine Verwandten und Angestellten sollen optisch miteinander verschmelzen. Sie sollen dieselben Merkmale teilen, so wie sie in jedem mächtigen Clan auf natürliche Weise vererbt werden. Donald Trump, der so gern König der Welt wäre, erzwingt sich damit eine pseudo-biologische, quasi-dynastische Legitimation: eine Herrschaftstruppe, die man bereits am Gesicht erkennt."
Instruktive Ergänzungen zum Text liefert der Bild- und Medienwissenschaftler Roland Meyer bei Bluesky:
"Was diese Gesichter auch zeigen: Wie sehr der MAGA-Faschismus als ästhetisches Programm verstanden werden muss. Es ist eine Ästhetik der Vereindeutigung, in der alles und jede:r permanent auf maximale Lesbarkeit und Übereinstimmung mit einem klassifizierenden Label hin optimiert wird. Und genau das, würde ich sagen, ist #Plattformästhetik, ist die Ästhetik der Mustererkennung wie der generativen KI, die nicht zufällig von Leuten wie Trump und Musk begeistert genutzt wird: Weil diese Tools eine Welt sichtbar machen, die vollkommen ihrem vorgefassten Klischee entspricht."
Eine Journalisten-Prognose von 1945
Eine Gruppe von Journalisten um den späteren demokratischen US-Senator Alan Cranston hat 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, für das damalige amerikanische Kriegsministerium eine Informationsbroschüre verfasst, die in der jüngeren Vergangenheit immer mal wieder neu entdeckt wurde. "Fascism!" lautet der Titel dieser in der Reihe "Army Talk" erschienenen Broschüre. Heather Cox Richardson, eine der wichtigsten Intellektuellen in den USA, machte zuletzt mehrmals auf dieses "Orientation Fact Sheet" aufmerksam, und riffreporter.de hat es nun ins Deutsche übersetzt. Einigermaßen prophetisch heißt es in der Broschüre:
"Sollten jemals Faschisten versuchen, in Amerika an die Macht zu kommen, würden sie nicht einfach das Vorgehen von Hitler kopieren. Sie würden unter dem Deckmantel eines 'Superpatriotismus' und 'Superamerikanismus' handeln (…) Huey Long soll einmal gesagt haben, dass der Faschismus, sollte er jemals nach Amerika kommen, sich mit dem Label des "Amerikanismus" schmücken würde."
Was die Autoren vor fast genau 80 Jahren fürs Ministerium formulierten, klingt keineswegs nur mit Blick auf amerikanische Verhältnisse aktuell:
"Durch falsche Versprechungen von Arbeitsplätzen und Sicherheit versucht der Faschismus (…), die Menschen für sein Programm zu gewinnen, als Ausweg aus der Verunsicherung (…) Der Faschismus gedeiht auf Gleichgültigkeit und Unwissenheit. Er gewinnt an Boden, wenn die Menschen ihrer Regierung gegenüber apathisch oder zynisch sind (…)"
Unter Ex-Partnern
Achtung, jetzt wird’s vielleicht ein bisschen unübersichtlich: Der ruhmreiche Norddeutsche Rundfunk kooperierte einst, wie andere hiesige Medienhäuser auch, mit dem Investigativ-Netzwerk "Organized Crime and Corruption Reporting Project" (OCCRP), trennte sich aber von diesem Partner, um Anfang 2023 damit zu beginnen, über diesen nunmehrigen Ex-Partner zu recherchieren. Dafür tat man sich dann in diesem Jahr mit neuen Partnern zusammen, doch, ach, diese Kooperation scheiterte bald - und zwar auf für den NDR schmachvolle Weise. Das ist jedenfalls eine von zwei dieser Ex- Partner - mediapart.fr und dropsitenews.com - ausführlich dargelegte und vom NDR heftigst bestrittene Sichtweise.
Der Kern der Recherchen über das OCCRP betrifft übrigens deren überwiegende Finanzierung durch verschiedene US-Regierungsbehörden. Sowohl darauf als auch auf die gegen den NDR vorgebrachten Vorwürfe gehen nun unter anderem das NDR-Magazin "Zapp" in halbeigener Sache und auch Michael Hanfeld in der FAZ ein. Letzterer schreibt:
"Dass ein Großteil der Zuwendungen von der US-Regierung kommt, weist OCCRP in seinem Jahresbericht aus. Für das Jahr 2023 werden 11,7 Millionen Dollar, an weiteren Spenden von privaten Stiftungen oder anderen Regierungen 19,5 Millionen Dollar genannt. Die in der Bilanz genannte Gesamtsumme der Spenden liegt bei 31,7 Millionen Dollar und übersteigt damit das operative Jahresbudget."
Investigativjournalisten streiten nun darum, ob die üppige Finanzierung durch Staatsknete bekannt war, wie Frederik Obermaier betont. Oder ob sie in dem jetzt von mediapart.fr und dropsitenews.com beschriebenen Ausmaß ganz und gar nicht bekannt war. Letztere Position vertritt zum Beispiel Hans-Martin Tillack ("Die Welt").
Es lohnt sich allemal, die ausführlichen Artikel zu lesen, aus denen "Zapp" und die FAZ zitieren. Bei mediapart.fr findet sich folgende recht drollige Passage:
"In einer E-Mail vom 12. November 2024 baten die gemeinsamen Chefredakteure des NDR-Fernsehens, Andreas Cichowicz und Adrian Feuerbacher, sowie die stellvertretende Programmchefin des Senders, Juliane von Schwerin, darum, die Antworten auf unsere Fragen nicht zu veröffentlichen. 'Wir möchten Sie bitten, diese Aussagen nicht zu zitieren oder zu verwenden', schrieben sie. 'Wenn Sie dies wünschen, wenden Sie sich bitte an die Pressestelle des NDR."
Erstens: So kommuniziert man nicht mit Leuten, mit denen bis vor kurzem noch redaktionell kooperiert hat. Zweitens: Als Chefredakteur oder stellvertretende Programmdirektorin sollte man schon selber wissen, was man nach schreiben und sagen will und kann.
Altpapierkorb ("Rechtsruck" bei Jugendlichen wissenschaftlich nicht belegt, Fachkräftemangel bei der "Tegernseer Stimme", unlokaler Lokaljournalismus, Sportjournalismus 2025)
+++ Dass der von Medien gern konstatierte "Rechtsruck" bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch wissenschaftliche Studien nicht gedeckt sei, führt der "Volksverpetzer" aus.
+++ Erfolg ist auch nicht immer eine Lösung. Das bekommt nun die "Tegernseer Stimme" zu spüren. Die muss ihren "Betrieb auf Eis legen", berichtet kress.de. Nicht aus den im Lokaljournalismus branchenüblichen Gründen - sondern weil sie "seit fast zwei Jahren vergeblich nach neuen Redakteuren sucht". Martin Calsow, Herausgeber der "Tegernseer Stimme", schreibt ebd.: "Bei unseren vielen Gesprächen in den letzten Jahren zeigten sich die meisten besorgt, dass sie sich die Mieten und sonstigen Lebenshaltungskosten in einer der teuersten Regionen Deutschlands nicht leisten können."
+++ Bleiben wir beim Lokaljournalismus: In "Kurz und KNAckig", der Kolumne des KNA-Mediendienstes bei turi2.de, schreibt Steffen Grimberg: "Viele sogenannte Lokalteile von Regionalzeitungen werden immer größer. Nicht etwa, was ihren Umfang und schon gar nicht das redaktionelle Personal angeht. Sondern rein flächenmäßig. Was da heute alles als lokal daherkommt, ist oft ganz im Wortsinn meilenweit voneinander entfernt. Das Publikum findet seine wirkliche lokale Umgebung, den eigenen Ort, nur noch höchst selten wieder."
+++ Beim "Nieman Lab" ist, wie immer ab Anfang Dezember, Prognosezeit. Brian Moritz, Associate Professor für Sportjournalismus und digitalen Journalismus an der St. Bonaventure University im Bundesstaat New York, widmet sich dem Thema Sportjournalismus: "2025 wird das Jahr sein, in dem Sportjournalisten wirklich damit rechnen müssen, dass Teams und Spieler sie nicht mehr brauchen. Das war schon immer ein Thema im Zeitalter der digitalen und sozialen Medien, aber die Stimmung rund um dieses Thema beginnt sich merklich zu verändern. In diesem Herbst (...) kündigte die NFL Players Association an, dass sie alle Medieninterviews aus den Umkleideräumen der Teams verbannen wolle (...) Es geht hier nicht darum, die Bedeutung des Zugangs von Sportjournalisten zu Spielern und Trainern zu diskutieren. Es geht darum, dass für die Teams und die Spieler die Notwendigkeit nicht mehr gegeben ist."
Das Altpapier am Freitag schreibt Ralf Heimann.