Kolumne: Das Altpapier am 4. Dezember 2024 Der deutsche X-odus
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04. Dezember 2024, 10:56 Uhr
Über 60 Vertreter aus Medien, Politik und Gesellschaft haben einen offenen Abschiedsbrief an X/Twitter veröffentlicht. Damit könnte die bisher größte deutsche Twitter-Quitter-Welle ins Rollen kommen. Ob Gehen der richtige Weg ist und ob die Alternative Bluesky wirklich besser ist: heute im Altpapier. Außerdem heute Thema: ein spannendes Interview zum Ostdeutschland-Bild in den Medien. Heute kommentiert Ben Kutz die aktuelle Berichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Twitter-Bye-bye
Dutzende Autoren und Journalisten verlassen öffentlichkeitswirksam das sinkende Twitter/X-Schiff. (In Österreich gab es eine ähnliche Aktion schon vor gut zwei Wochen, Altpapier.) Unter dem Namen “eXit” haben sie eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, warum sie keine Lust mehr auf die Musk-Plattform haben.
Kress.de schreibt:
“Anders als früher sei der Kurznachrichtendienst heute 'toxisch', heißt es in einem offenen Abschiedsbrief mit mehr als 60 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern aus Deutschland, darunter die Fernsehmoderatoren Dunja Hayali und Jo Schück.”
Zahlreiche weitere Medien berichten über den “eXit”, unter anderem das “RND” und der RBB. Und auch die dpa. Ich habe mich kurz gefragt, ob es wirklich eine Nachricht von dpa-Wert ist, dass ein paar Mediennasen eine Medienbubble-Plattform verlassen. Ich habe die Frage schließlich mit “ja” beantwortet, wenn man bedenkt, wie wichtig die Plattform mal für unsere Branche, für Recherche, für politische Kommunikation war (und in Teilen sicher noch ist). Auch, weil man davon ausgehen kann, dass der Trend noch weitergeht.
“Seit der US-Präsidentenwahl rollt die bislang größte Exodus-Welle”, schreibt netzpolitik.org. Das Portal liefert auch den kompletten “Offenen Abschiedsbrief” im Wortlaut. Unter anderem heißt es:
“Seit der Übernahme durch Elon Musk ist Twitter kein Ort mehr für freie und faire Meinungsäußerung und einen offenen Austausch. Schlimmer noch, Twitter ist ein Ort der Zensur, des Rassismus, Antisemitismus und des rechten Agendasettings geworden. Die Abschaffung von Moderationsmechanismen und die gezielte Verstärkung extremistischer Inhalte untergraben die Grundprinzipien einer deliberativen Plattform und machen X zu einem Werkzeug der Polarisierung, der Manipulation und der Menschenfeindlichkeit.”
Unterzeichnet haben den Brief über 60 Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker sowie diverse Museen und Gedenkstätten. Und sie haben natürlich Recht. Twitter macht keinen Spaß mehr und ist überproportional von rechten bis rassistischen Diskursen geprägt. Die Grundfrage in diesen Tagen lautet aber auch immer wieder: Ist unserer Gesellschaft geholfen, wenn man die Plattform komplett den Demokratiedelegitimierern überlässt?
Mit dieser Frage haben sich gestern auch die Journalisten Markus Feldenkirchen und Yasmine M’Barek im Nachrichtenpodcast “Apokalypse und Filterkaffee” beschäftigt. Klar habe sich Twitter zum Negativen entwickelt, sagen sie. Feldenkirchen sagt, sein “Bauchgrummeln” hätte in den letzten Monaten zugenommen:
“Ich spüre, dass immer mehr russische Bots und sesselfurzende AfD-Influencer in den Kommentaren auftauchen, die auch Beleidigendes von sich geben, was mir – sag ich auch offen – immer mehr zusetzt.”
Trotzdem wolle er “vorerst bleiben”, um “diesen Russen-Bots und AfD-Influencern” nicht das Feld zu überlassen. Ähnlich argumentiert auch seine Podcastkollegin M’Barek:
“Ich würde gerne dableiben, weil ich auch glaube, dass in der deutschen Debatte es gut ist, wenn es weiterhin Meinungspluralismus gibt oder Menschen, die sich streiten können. Und eben nicht alle, die einen migrantischen Background haben, weg sind.”
Feldenkirchen ergänzt, dass es “gelegentlich auch noch interessante Debatten auf X” gebe. Und es sei ja nicht so, sagt er weiter, “dass da jetzt nur noch rechte Musk-Fans wären”. Stimmt. Schließlich hält auch das Altpapier hier noch die Stange.
Ist Bluesky das bessere Twitter?
Aber natürlich sind wir auch bei Bluesky. (Welch galante Eigenwerbungs-Überleitung, oder?) Laut dem schon oben zitierten netzpolitik.org-Artikel profitiere Bluesky momentan am meisten vom X-odus:
“Der Kurznachrichtendienst hatte zuletzt täglich eine Million neue Nutzer:innen gewonnen, er wächst damit gerade ähnlich schnell wie Threads vom Meta-Konzern. Insgesamt hat die Twitter-Alternative mit Stand heute knapp 24 Millionen registrierte Accounts, von denen zwischen 1,2 und 1,5 Millionen täglich auf der Plattform posten.”
24 Millionen Accounts sind trotzdem deutlich, deutlich weniger als das Volumen von X/Twitter. Die Musk-Plattform habe nach wie vor etwa 400 bis 600 Millionen Accounts, schreibt der Journalist und Social-Media-Experte Björn Staschen in seinem Blog “The New Social”. Und das bessere Twitter sei Bluesky für ihn auch nicht, schreibt er unter der Überschrift “Ein blauer Himmel voller Wolken”. Staschen habe habe nach wie vor seine Zweifel, “dass Bluesky eine “gute” Plattform sein kann, die Demokratie stärkt.” Und weiter:
“Bluesky wäre aus meiner Sicht dann eine gute Alternative, wenn es sich grundlegend von Twitter unterscheiden würde, kurzgesagt:
- wenn Nutzende souverän über ihre Daten entscheiden
- wenn Nutzende Server wechseln können
- wenn ausgeschlossen wäre, dass ein Eigentümer plötzlich die Regeln ändert oder Moderation vernachlässigt, sodass Hass und Hetze gedeihen
- wenn die Plattform Demokratie eher stärkt als schwächt.”
All das würde Bluesky laut Staschen nicht bieten. Er empfiehlt stattdessen Mastodon (keine Sorge: da sind wir auch! ;-)). Das Problem: Vielen ist die Plattform zu kompliziert, die Idee einer dezentralen Infrastruktur zündet noch nicht so richtig bei den Usern (Altpapier). Das erregt Staschens Unmut: “Können wir bitte endlich lernen aus dem Niedergang von Twitter?”
Fänd ich ja auch schön. Aber für einen Umstieg muss man es den tendenziell faulen Internetusern (Anwesende eingeschlossen) so leicht wie möglich machen. Und da hat Mastodon halt noch Aufholbedarf.
"Der Osten ist kein Zoo"
So, harter Themenwechsel. Marieke Reimann ist Zweite Chefredakteurin beim SWR. “Und damit die einzige ostdeutsche Chefredakteurin bei einem westdeutschen Sender”, schreibt das Magazin “Journalist” vom DJV. Zum Jahresende hört sie dort auf und hat dem Magazin zum Abschied ein sehr lesenswertes Interview gegeben. Über weite Teile geht es um Reimanns ostdeutsche Herkunft und das Bild Ostdeutschlands in den Medien. Das sei in den letzten Jahren zwar diverser geworden, sagt sie, aber:
“Es reicht einfach nicht, wenn westdeutsche Reporter*innen vor den Wahlen „mal kurz rüberschauen“, indem sie vielleicht einen Roadtrip durch den Osten machen. Der Osten ist kein Zoo und auch kein Kriegsgebiet.”
Für Reimann ist die deutsche Medienlandschaft noch viel zu sehr westdeutsch geprägt:
“Dem Elitenmonitor der Universitäten Leipzig und Jena sowie der Hochschule Zittau/Görlitz aus dem vergangenen Jahr zufolge sind nur acht Prozent der Führungspositionen deutscher Medien durch Menschen mit ostdeutscher Biografie besetzt – ein Armutszeugnis nach 35 Jahren Mauerfall. In den wichtigsten überregionalen Medien gibt es nur einen ostdeutschen Chefredakteur. [...] Auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk sieht es mager aus: Beim ZDF gibt es keine Führungsperson mit ostdeutschem Hintergrund in der Geschäftsleitung. In der ARD ist ein Intendant ostdeutsch.”
Reimann hört nun auf, weil sie wieder mehr journalistisch und weniger verwalterisch-strukturell tätig sein möchte. “In einer Zeit, in der Rechtsextremist*innen weltweit zu Taktgebern (medien-)politischer Agenden werden, möchte ich meinen Grips und meine Gesundheit so einsetzen, dass ich eng mit unseren Redakteur*innen und Formaten arbeite” sagt sie. Aber im Januar wolle sie “erstmal ausschlafen” und ihre “Blumen umtopfen”. Viel Erfolg dabei!
Altpapierkorb (Bockiges ChatGPT, KI in Verlagen, Jugendliche stoßen auf mehr Fake News, Mehrheit der Deutschen für U16-Social-Media-Verbot, Öffentlich-rechtliche PC-Games)
+++ Dass ChatGPT ganz schön maulfaul sein kann, wenn es um Selbstkritik geht, berichtet unter anderem golem.de. Fragt man die KI beispielsweise nach dem US-amerikanischen Rechtsprofessor Jonathan Turley, dem ChatGPT einen Missbrauchsskandal andichtete, macht die KI dicht. “Der Chat stürzt anschließend ab und wir können keine Fragen mehr stellen”, schreibt “Golem”.
+++ In der Verlagsbranche kommt KI trotzdem immer mehr an, schreibt “epd Medien”. “Drei Viertel der deutschen Zeitschriftenverlagen beschäftigen sich zurzeit mit Künstlicher Intelligenz oder nutzen sie bereits”, heißt es dort. Genutzt werde KI vor allem bei der Unterstützung der Recherche sowie beim Erstellen von Texten, schreibt “epd Medien”.
+++ Über die neue “JIM”-Studie, die seit 1998 das Mediennutzungsverhalten Jugendlicher untersucht, berichten unter anderem die “FAZ” und “Meedia”. Teenager sind pro Tag im Schnitt 201 Minuten online, “was im Vergleich zum Vorjahr erstaunlicherweise einen Rückgang um 23 Minuten bedeutet”, schreibt die “FAZ”. 83 Prozent interessieren sich für das Weltgeschehen, als wichtigstes Thema nennt fast die Hälfte den Ukraine-Krieg. “Meedia” schreibt, dass 2024 deutlich mehr Jugendliche als noch im Vorjahr angaben, auf Social Media auf Fake News gestoßen zu sein. In diesem Zusammenhang zitieren die Kollegen Jan Eumann, Direktor der Medienanstalt Rheinland-Pfalz, der den großen Plattformen vorwirft, ihrer Verantwortung nicht gerecht zu werden: „Viel zu oft sind dort jugendgefährdende und demokratiefeindliche Inhalte zu sehen.“
+++ Einen sehr drastischen Weg, dieses Problem zu bekämpfen, geht ja Australien, das Soziale Medien für Unter-16-Jährige kürzlich verboten hat (Altpapier). Eine deutliche Mehrheit von 77 Prozent würde ein solches Verbot laut einer Umfrage auch für Deutschland befürworten, meldet der “Spiegel”. (Die “Verbotspartei” Die Grünen lehnt das übrigens ab.) “Warum ein Social-Media-Verbot für Jugendliche nur eingeschränkt hilft”, erklärt der Medienpädagoge Guido Bröckling im RBB-Interview.
+++ Mit öffentlich-rechtlichen PC-Games beschäftigt sich heute die “SZ”-Medienseite. Überschrift: “Arte will spielen”. Drei bis vier Spiele jährlich würden unter Mitwirkung des Kultursenders erscheinen, schreibt die “Süddeutsche”. Autorin Marie Gundlach findet dieses Engagement “wichtig, denn [die Spiele] fungieren auch als Sprachrohr in die andere Richtung: Videospiele, das muss nicht stumpfes Geballer oder Candy Crush sein, da gibt es auch Raum für Kunst, Kultur, Anspruch”. Trotzdem muss man die Spiele dann kaufen. “Das scheint verwirrend”, schreibt die Autorin, schließlich habe man als Bürger mit dem Rundfunkbeitrag ja schon dafür bezahlt. “Deshalb gibt es in der Arte-Mediathek leicht abgespeckte, kostenlose Versionen der Spiele – für einen bestimmten Zeitraum. Vergleichbar mit Filmen, die im Programm laufen und auch für einige Zeit in der Mediathek abrufbar sind”, schreibt die “SZ”. Ein spannendes Angebot, das mir neu war. Ich klick die Tage auf alle Fälle mal rein.
Das nächste Altpapier schreibt am Donnerstag René Martens.