Kolumne: Das Altpapier am 3. Dezember 2024 Von der Aufmerksamkeits- zur Aufregungsökonomie?
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03. Dezember 2024, 10:45 Uhr
Angela Merkel bleibt ein Medienstar, ob als Bestsellerautorin oder Krimiheldin. Die ÖRR-Reformpläne haben zwei Medaillenseiten. "Journalismus hält Abstand, der Medienbetrieb will sich anbiedern", sagt Zukunftsrat Roger de Weck. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Merkel auf vielen Kanälen
Das Memoiren-Buch der Altkanzlerin und erfolgreichen Machtpolitikerin Angela Merkel bekommt weiterhin (Altpapier) viel Aufmerksamkeit. "Schleppender Start", meldete Springers "Welt" ob "nur 35.000" am ersten Tag verkaufter Exemplare. Das jüngste Sebastian-Fitzek-Thriller-Buch verkaufte sich mehr als doppelt so oft. Der "Spiegel" rückt zurecht, dass "durch den hohen Verkaufspreis" von 42 Euro "die Umsätze dennoch hoch" seien. Der Fitzek kostet knapp die Hälfte ...
Für die "Spiegel"-Bestsellerliste sollten 35.000 Exemplare aber ausreichen. Dass "Freiheit" dort noch nicht einstieg, hat sicher andere Gründe. (Und wer in die ausdifferenzierten Listen schaut, die etwa auf bestsellerliste.de einsehbar sind, kann entdecken, dass Merkel diese Woche zumindest in den "Bestseller Paperback Belletristik"-Charts vertreten ist – als ideelle Protagonistin von "Miss Merkel: Mord in der Therapie", dem vierten Teil von David Safiers Krimi-Buch-Reihe. Bei der Gelegenheit zu erwähnen, dass RTL just die dritte Verfilmung ankündigte und ausgiebig betont, dass die Dreharbeiten zu "Miss Merkel – Ein Kreuzfahrt-Krimi" auf einem echten Kreuzfahrtschiff des Reisekonzerns TUI stattfinden, würde sicher zu weit führen. Dass RTL überdies den "Überraschungserfolg" seiner beiden ersten "Miss Merkel"-Krimis "auch in den USA und Italien" betont, wohl auch. Höchstens, dass die NDR-Enkeltochter- oder Urenkeltochter Letterbox, eine Studio Hamburg-Tochter, als Produktionsfirma im Boot ist, passte hier dann wieder ...)
Schön heiter besprach die "SZ"-Medienseite (Abo) Merkels große Buchvorstellung im ZDF. Merkel "erklärt bei Maybrit Illner ... ein weiteres Mal 'exklusiv', dass sie nichts zu bereuen hat. Endlich mal wieder eine gute TV-Komödie!", überschreibt Werner Bartens sein Feuilleton, und darin u.a.:
"Illner müht sich redlich, die großen Themen anzusprechen, in denen es um Versäumnisse, Schuld und blinde Flecken nicht nur, aber eben auch von Merkel gehen könnte. Der Umgang mit Putins Russland spätestens seit Besetzung der Krim 2014. Die irreguläre Migration spätestens seit 2015. Der Ausstieg aus der Atomenergie angesichts der Abhängigkeit von Gas und Öl. Merkel bietet leicht genervt an, 'alles einzeln der Reihe nach' durchzugehen, wie einem Schüler, der trotz bester Unterrichtsmaterialien – read my book! – nichts kapiert hat. Man müsse sich in die Zeit zurückversetzen, belehrt sie und führt komplexe Konstellationen, fehlende Mehrheiten und andere Gründe für die Entscheidungen an. Im Detail erklärt sie das übrigens in ihrem Buch ..."
Was dann Boris Rosenkranz von uebermedien.de zu einem Zusammenschnitt eines Videos, das über die Polit-Talkshows im öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen viel aussagt, inspirierte.
In den zahlreichen Besprechungen des Buches selbst (die oft sicher auf Presseexemplaren basieren, die womöglich nicht auf die Verkaufszahlen einzahlen ...) kristallisiert sich mehr als nur heraus, dass viele Merkels Memoiren für recht schlecht befinden. Besonders scharf urteilt Magnus Brechtken vom Münchener Institut für Zeitgeschichte. Er befasst sich im "Handelsblatt" mit dem vom Buch vermittelten Putin-Bild:
"Sie analysiert auch heute kaum den testenden Aggressor mit seinen kalkulierten Projektionen eines autoritär-kriegerischen Expansionisten im Verhältnis zu ihrem eigenen Regierungshandeln. Sie beschreibt dies in einem Stil, als ähnele Putins Russland dem Verhalten eines heimischen Parteikonkurrenten, den man irgendwie aussitzen kann. Merkels zeitgenössische Wirkungen sind von vielen Menschen in Wahlerfolgen gewürdigt worden. Vier Bundestagswahlen zu gewinnen, ist eine historische Leistung. Für die Außenpolitik ihrer Einflusszeit liefert Merkel nun allerdings selbst den Stoff einer historischen Dekonstruktion, die, je länger der Rückblick, desto sichtbarer werden dürfte."
Klingt, als hätte Merkel ihrem Bild in den Geschichtsbüchern keinen Gefallen getan. Wahrscheinlich wäre auch nicht schlecht gewesen, wenn ein bisschen von der Distanz zu Merkel, die sich in der Medienlandschaft nun zeigt, schon während ihrer Regierungsjahre aufgeblitzt wäre. Das hätte der Medienlandschaft, dem Land und vielleicht sogar Angela Merkel gut getan. Aber eine erfolgreiche Machtpolitikerin war sie halt, solange sie regieren wollte.
Kleine medienpolitische Bilanz
Vorige Woche ging es im Altpapier auch um die "Wüstenradar"-Studie von Hamburger Forschern zur Zeitungslandschaft. Auf ihrer gut gemachten Webseite wuestenradar.de bieten sie unter anderem auch eine gute interaktive Landkarte ("Wirtschaftlich eigenständige, lokale Tageszeitungen nach Landkreisen"). Bloß dass die Einzeitungskreise rosig aussehen, führt womöglich zunächst intuitiv auf eine falsche Spur.
In der "FAZ" bilanziert Michael Hanfeld, der ja auch immer viel über viele Medienthemen schreibt, medienpolitisch dazu:
"Ohne eine fundierte journalistische Berichterstattung vor Ort breche eine wichtige Säule der Demokratie weg, sagte der Hamburger Mediensenator Carsten Brosda (SPD) bei der Vorstellung der Studie ... Das sei eine dringende Warnung an die Medienpolitik und ein Auftrag, die Bedingungen des Journalismus vor Ort zu verbessern, zitiert ihn der Evangelische Pressedienst. Wollen wir doch einmal sehen, ob daraus irgendetwas folgt. Die Ampelregierung hat sich einer fairen, allgemeinen Presseförderung versagt und lässt stattdessen ihr politisch zugeneigten Outlets ein paar Millionen zukommen. Die Länder beklagen das Versagen des Bundes und leisten weiter nichts."
Dem wäre, auch als Bilanz zum Ende der ersten Nach-Merkel-Regierung, fast nichts hinzuzufügen. Außer, apropos "politisch zugeneigte Outlets", dass Springers "Welt" (Abo) gerade unter der Überschrift "Wenn Medien Deals mit der Politik machen" das recht alte Fass "Staatsauftrag für 'FAZ'-Tochterfirma" aufmachte (bzw. damit einen tichyseinblick.de-Artikel aufnimmt). Da geht's um den älteren Hut, dass das der deutschen Außendarstellung gewidmete Portal deutschland.de, ehemals auch eine Zeitschrift, im Auftrag des Außenministeriums von einer "FAZ"-Tochter erstellt wird.
"Das eigentliche Problem liegt ... darin, dass allein die Annahme eines Auftrags eines Ministeriums von der Tochterfirma eines großen Zeitungsverlags die publizistische Integrität einer unabhängigen Zeitungsmarke beschädigen kann",
argumentiert Christian Meier. Na ja, wenn die Presseverlage sich auch wieder gegenseitig scharf auf die Finger schauen ... nicht schlecht.
Größere ÖRR-Fragen
Was geht an der Öffentlich-Rechtlichen-Front? Da verschärft wiederum die "FAZ" (Abo) die Tonart und nimmt eine der nach der jüngsten Intendantensitzung veröffentlichten ARD-Pressemitteilungen, "Popwellen und Landeswellen arbeiten ab Januar 2025 noch enger zusammen", zum Anlass, zu beklagen:
"Die Expansion der ARD geht jetzt erst richtig los/ Beim Hörfunk arbeiten die Sender stärker zusammen; nicht um zu sparen, sondern um online massiv zuzulegen"
Um den "Ausbau der senderunabhängigen Audioangebote" geht es. Helmut Hartung schaut dafür exemplarisch auf das (vom MDR gestaltete) Internetangebot ARDkultur.de, das einen sehr weiten Kultur-Begriff pflegt und auch mit Podcasts à la "Fuck you very, very much! Die größten Beefs im Musikbiz" erfreuen möchte, sowie auf eine Menge Zahlen:
"Mehr als 200 Podcasts des Bayerischen Rundfunks finden sich auf der ARD-Audio-Plattform. Die Audiothek listet mehr als 100.000 Beiträge, sogenannte Episoden, auf. Das sind sowohl Inhalte aus den regionalen Hörfunkangeboten als auch speziell produzierte Sendungen, die nicht über UKW laufen. Die entsprechende App wurde bereits 4,5 Millionen Mal heruntergeladen."
Na ja, das ist die andere Medaillenseite der lange besprochenen Reformen: dass eben nicht am Programm gespart werden soll, sondern an den Ausspielwegen, der bisher umständlichen linearen Verbreitung. Wenn es weniger lineare Schon-auch-Kultur-Sender gibt, die dafür z.B. (im Fernsehen) keine Krimis mehr wiederholen müssen, könnten solche Angebote linear wie nonlinear überzeugender auftreten als bisher oft.
Mehr Beachtung als bisher verdient freilich die Frage, ob die Öffentlich-Rechtlichen Hochkultur zugunsten von diffuser Popkultur wegkürzen. Darauf setzt etwa das Ex-"Kulturradio" des RBB, inzwischen Radio 3.
Einen schön gelassenen "Es wird sich weisen"-Blick auf die Chose demonstriert Zukunftsrats-Mitglied Roger de Weck im sehr großen "epd medien"-Interview. "Ausschlaggebend ist in Zukunft das Onlineangebot, nicht die Zahl der Kanäle", sagt er etwa und hantiert mit Fußball-Metaphern. Wenn "ARD, ZDF und Deutschlandfunk mit dem Ball, der ihnen zugespielt wurde", keine "Tore schießen", dann werde "die Politik – oder auch das Bundesverfassungsgericht – unweigerlich in drei bis fünf Jahren wesentlich größere Reformschritte fordern".
Zum Streit mit den Presseverlagen sagt er – sie allerdings mit dem Privatfernsehen in einen Topf werfend, in dem die Verlage sich noch überhaupt nicht sehen:
"Auch bei Privaten wächst die Einsicht, dass es sich nicht lohnt, unter den Blicken globaler Riesen einen Kampf der nationalen Zwerge zu führen."
Ums Medium Radio, für das de Weck und Interviewerin Diemut Roether Faibles haben, geht es dann auch. Wenn das Gespräch schließlich – aber nicht so wie Altkanzlerin Merkel in der Illner-Show! – auf das aktuelle Buch des Interviewten kommt, wird es grundsätzlich spannend:
"Ich lege dar, wie die Gesetze des Journalismus und die des Medienbetriebs auseinanderlaufen. Journalismus ist an sich nüchtern, der Medienbetrieb zusehends emotional. Journalismus hält Abstand, der Medienbetrieb will sich anbiedern. Journalismus denkt zunächst an das Angebot, der Medienbetrieb an die Nachfrage. Es ist das Privileg, aber auch die Pflicht der Öffentlich-Rechtlichen, dem Journalismus treu zu bleiben und Fehlentwicklungen des Medienbetriebs möglichst zu vermeiden. Zu tun, was der Medienbetrieb tut, bringt Quote und Klicks, aber keine Bindung."
Worauf noch Sätze wie "Wir erleben den Wechsel von der Aufmerksamkeitsökonomie zur Aufregungsökonomie" folgen. De Wecks "Journalismus hält Abstand, der Medienbetrieb will sich anbiedern" ist ein starker Satz. Allerdings, Journalismus ist selber ein Medieninhalt, inzwischen einer unter sehr vielen. Und so unverzichtbar, wie er sich selbst findet, ist er für viele Nutzer und erst recht für viele Algorithmen nicht. Für Plattformen ist Journalismus austauschbar bis verzichtbar. Insofern ist ein gewisses Anbiedern nötig. Die Gefahr, dass dieses Anbiedern im Wettbewerb um Aufmerksamkeit den Journalismus beschädigt, besteht aber. Das ist ein Spagat, den der Journalismus auf dem schmalen Grat zwischen anderen Medieninhalten, die die Algorithmen auch gern oder sogar lieber präsentieren, vollführen muss.
"Empörungsexpertise", "Entwertung" (Trump)
Noch im Bild der Aufmerksamkeitsökonomie bleibt Andrian Kreye heute auf der "SZ"-Medienseite (Abo). Da geht's um "Donald Trumps neuesten Nominierungsschachzug" (Altpapier gestern). Kreye schöpft aus den Tiefen seiner Popkultur-Kenntnisse:
"Die Methode kommt aus dem Horrorfilm. 'Jump Scare' nennt man dort die Szenen, in denen das Böse so unerwartet wie möglich im Bild auftaucht. Macht wach. Das ist schon mal die Grundvoraussetzung der Aufmerksamkeitsökonomie."
Er bleibt, zunächst, dennoch gelassen:
"Kein Wunder also, dass der Nachrichtenzyklus am Sonntag in Sekundenschnelle auf Donald Trumps Post auf seinem hauseigenen Kurznachrichtendienst Truth Social ansprang, in dem er die Besetzung ankündigte. Die großen Nachrichtenportale berichteten ausführlich, die Schnappatmungssender CNN und MSNBC schaufelten Empörungsexpertise vor die Kameras, die Intellektuellenmagazine gingen in Hochgeschwindigkeitsklausuren... Der Rest der weltweiten Medien zog mit. Was bleibt ihnen schon anderes übrig. Dem Nachrichtenzyklus kann sich niemand entziehen. Der bleibt das Kerngeschäft. Donald Trumps Wunschliste für die Kabinettsposten ist derzeit das Leitmotiv seiner globalmedialen Unterwerfungsspiele."
Wenn Kreye dann als Ziel dieser Spiele "die kontinuierliche Entwertung journalistischer Medien" nennt, dem Trump schon vor seinem zweiten Amtsantritt näherkommt, poppt die schwierige und sich aus der deutschen Distanz anders, aber auch stellende Frage, ob Aufregung angemessen ist oder gerade nicht, erneut auf.
Altpapierkorb (Gysi/Guttenberg, Merz, Habeck, Einsicht beim RBB, AfD-Security, Habeck/Merz)
+++ Wie sich oben schon zeigte, ist die "SZ" beim Beglossieren medialer Politiker-Auftritte schon in guter Wahlkampf-Form. "Wie um zu beweisen, dass es auf die Themen und Gesprächspartner nicht so genau ankommt, wenn das Plaudern zum Selbstzweck und die öffentliche Aufmerksamkeit zum Egoverstärker geworden sind, bespielt er seit einiger Zeit neben Theaterbühnen auch ein Podcast-Format mit seinen Lebensweisheiten", schreibt z.B. (Abo) Peter Laudenbach über Gregor Gysi bzw. das Buch zum Podcast "Gysi gegen Guttenberg". +++ Das Feuilleton "Modern Talking mit Friedrich Merz" erfrischte u.a. dadurch, dass es "Habeck, Söder, Scholz und Co." auch nicht für besser hielt. +++
+++ Aktuell eher unterm überregionalen Radar läuft die Hauptstadtanstalt RBB (bevor sie 2025 mit dem Schlesinger-Prozess wieder ins Scheinwerferlicht rücken wird). Auf ein Berliner Verwaltungsgerichts-Urteil aus dem Oktober machte "epd medien" gerade aufmerksam: "Der RBB muss dem freien Journalisten Jürgen Bischoff Einsicht in Akten gewähren, in denen die bis zum 5. August 2022 geführte Korrespondenz des Senders mit der Senatskanzlei Berlin und der Staatskanzlei Brandenburg zur Novellierung des RBB-Staatsvertrag enthalten ist". "Die öffentlich-rechtlichen Sender nähmen - ungeachtet ihrer Staatsferne und ihrer Programmfreiheit - Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahr", heißt es darin unter anderem. Der RBB überlegt wohl noch, in Revision zu gehen. Bischoff kam früher auch öfters im Altpapier vor, hier beim MDR aber wohl nur einmal. +++
+++ Nun nicht mehr beim RBB beschäftigt, sondern wieder auf dem Markt: Medienjournalistin Ulrike Simon, die 2021 bei der Anstalt angeheuert hatte. +++
+++ "Selbst für AfD-Verhältnisse war es ein neuer Tiefpunkt: Zwei stämmige Securitys begleiteten den Reporter Johannes Reichart vom Bayerischen Rundfunk beim Parteitag der AfD Bayern in Greding Ende November auf Schritt und Tritt. Sogar beim Toilettengang und beim Kauf von Getränken ...", berichtet die "taz" nicht aus dem deutschen Osten, sondern Süden. +++
+++ Und über den Satz "Die Inkongruenz der öffentlichen Meinung zur veröffentlichten Meinung ist ein bekannter Topos" räsonieren kann dann noch, wer eine "Welt"-Zusammenfassung eines "NZZ"-Artikels unter der heiter-rhetorischen Frage "Kann es sein, dass der Grünen-Politiker Robert Habeck bei Journalisten deutscher Leitmedien besser wegkommt als CDU-Chef Friedrich Merz?" durchliest. +++
Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch Ben Kutz.