Kolumne: Das Altpapier am 1. November 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 3 min
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Sollte Trump die Wahl gewinnen, unterläge nach Tiktok mit X wohl eine zweite globale Plattform dem Zugriff einer autoritären Regierung, schreibt ein Europapolitik-Experte in der FAZ.

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Kolumne: Das Altpapier am 1. November 2024 Ist Verdursten besser als Ertrinken?

01. November 2024, 12:38 Uhr

Sollte Trump die Wahl gewinnen, unterläge nach Tiktok mit X wohl eine zweite globale Plattform dem Zugriff einer autoritären Regierung, schreibt ein Europapolitik-Experte in der FAZ. Und zwei Sozialwissenschaftler der Humboldt-Uni kritisieren, dass die demokratischen Parteien bei ihrer Online-Kommunikation die Bedeutung der jungen Wählenden mit Migrationsgeschichte unterschätzen. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Bezos’ Rückfall in "eine Zeit, in der wir alle rückgratlose Kreaturen unter Wasser waren"

Was müssen wir noch wissen über die US-Wahl? Was müssen wir noch wissen, um das, was passieren könnte, besser einordnen zu können?

Empfehlen wir zu diesem Thema mal zwei Zeitschriften aus unterschiedlichen Genres - genauer: einen 18-seitigen Sonderteil im neuen "Stern" und einen zehn Druckseiten umfassenden Text, den Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, beide Professoren für Regierungslehre in Harvard, unter der Überschrift "Wie das US-Wahlsystem die Tyrannei der Minderheit ermöglicht" für die November-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" geschrieben haben.

Das PDF des Artikels kann man für einen Euro kaufen, und wer wissen will, ob es sich lohnt, könnte sich Levitskys Ausführungen in der bei Arte und im WDR ausgestrahlten 90-Minuten-Dokumentation "USA: Demokratie unter Beschuss" (Altpapier, Altpapier, "epd Medien") anhören.

Wegen des bereits erwähnten Umfangs von Levitskys und Ziblatts Text ist dieser nicht leicht zusammenzufassen. Versuchen wir es mal so: Ein wesentlicher Makel des US-amerikanischen Wahlsystems besteht darin, dass es strukturell die ländlichen - und das bedeutet zumindest in der jüngeren Vergangenheit: republikanischen - Bundesstaaten auf verzerrende Weise begünstigt. Die beiden Autoren sehen "die Gefahr (…), dass einige unserer wichtigsten Institutionen zu Pfeilern der Minderheitsherrschaft werden". Einer dieser Pfeiler sei das Wahlmännerkollegium. Inwiefern?

"Die meisten Bundesstaaten - außer Maine und Nebraska -  (vergeben) die Wahlmännerstimmen nach dem Prinzip 'Der Gewinner bekommt alles'. Das bedeutet, dass ein Kandidat, der eine enge Wahl mit 50,1 zu 49,9 Prozent der Stimmen gewinnt, hundert Prozent der Wahlmännerstimmen des Bundesstaats erhält."

Eine Folge dieser Unverhältnismäßigkeit, die die Autoren als Beispiel erwähnen: Hillary Clinton erhielt 2016 in den Bundesstaaten Wisconsin, Michigan, Pennsylvania und New York insgesamt 1,6 Millionen Stimmen mehr als Donald Trump, letzterer kam aber auf 46 Wahlmännerstimmen und Clinton nur auf 29. Der Grund: Er gewann in drei Bundesstaaten knapp, sie in New York haushoch. Heißt: Ein Kantersieg in einem Bundesstaat ist nicht das wert, was er wert zu sein scheint.

Teil des erwähnten "Stern"-Schwerpunkts ist ein Interview mit dem konservativen Intellektuellen Robert Kagan. Er geht unter anderem darauf ein, dass sich republikanisch regierte Bundesstaaten im Fall eines Wahlsiegs von Kamala Harris "von der Union lossagen" könnten:

"Diese Gefahr wird heute nicht ganz ernst genommen, aber vor dem Bürgerkrieg war das durchaus üblich. Es gab zahlreiche Krisen mit Sezessionsversuchen. Es würde mich nicht überraschen, wenn wir das im Jahr 2024 wieder erleben. Nein, es würde mich eher überraschen, wenn es nicht passieren sollte."

Mit Blick auf deutsche Verhältnisse ist der Einstieg des Interviews interessant:

"Mr Kagan, Donald Trump sei ein Faschist – das sagen sein früherer Stabschef und auch sein früherer Generalstabschef. Trotzdem könnte etwa die Hälfte des Landes für ihn stimmen. Wie ist das möglich?

Kagan sagt dazu:

"Einem beträchtlichen Kern der Trump-Anhänger ist die liberale Demokratie nicht nur egal – sie würden es sogar begrüßen, wenn sie abgeschafft würde."

Ob ein konservativer deutscher Intellektueller Ähnliches sagen würde, wenn es um AfD-Anhänger ginge?

Kagan, der frühere Berater der republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain und Mitt Romney, kam bisher zweimal im Altpapier vor (hier und hier) - zuletzt, weil er zu jenen Kolumnisten und Redakteuren der "Washington Post" gehörte, die ihre Mitarbeit beendeten oder ihren Job kündigten, nachdem Zeitungsbesitzer Jeff Bezos eine redaktionelle Wahlempfehlung für Kamala Harris verhindert hatte. Bei den Artikeln über die Folgen dieser Entscheidung fällt weiterhin unter anderem auf: Die "Post" berichtet in eigener Sache sehr viel selbstkritischer und transparenter, als es in vergleichbaren Fällen bei deutschen Medien vorstellbar ist (siehe Altpapier von Montag).

Nina Rehfeld erwähnt auf der heutigen FAZ-Medienseite zum Beispiel folgenden Beitrag:

"'Es ist mir überlassen, der Humor-Kolumnistin, Harris als Präsidentin zu empfehlen’, lautete die Überschrift des Stücks von Alexandra Petri am Tag nach der Entscheidung, zu den empfehlungsfreien 'Wurzeln’ des Blattes von 1970 zurückzukehren, wie der Herausgeber Will Lewis es formulierte (…) 'Wurzeln sind natürlich wichtig', schrieb Petri, und wenn man noch etwas weiter zurückginge, erreiche man eine Zeit, in der 'wir alle rückgratlose Kreaturen unter Wasser waren'."

Während die "Washington Post" aufgrund der Aktion mittlerweile mehr als 250.000 Abos eingebüßt hat (siehe zum Beispiel "Der Standard"), hat sie sich für andere mittelbar bezahlt gemacht - etwa die US-Ausgabe des britischen "Guardian", der sich durch Spenden finanziert. Zu verdanken ist der Erfolg einem Brief, den Betsy Reed, die Verantwortliche für den amerikanischen Guardian, an die Leser schrieb:

"Bei dieser Wahl könnte nicht mehr auf dem Spiel stehen (…) In einem Leitartikel des Guardian wurde Kamala Harris Anfang dieser Woche nachdrücklich als Präsidentschaftskandidatin unterstützt - und wir haben keine Angst vor den möglichen Konsequenzen. Wir müssen 2 Millionen Dollar auftreiben, um unseren Schwung im nächsten Jahr beizubehalten und die neue Regierung zur Rechenschaft zu ziehen - wer auch immer im Weißen Haus sitzt. Bitte helfen Sie mit, die wirklich freie Presse zu schützen, indem Sie heute an den Guardian spenden."

Über die Folgen berichtet das britische Medienbranchenblatt "Press Gazette"

"Nach Angaben der Guardian-Gruppe hat Reeds E-Mail bis Sonntag direkt 411.000 Dollar an Leserspenden eingebracht. Hinzu kam ein enormer Zustrom von Spenden, nachdem die Leser Reeds Nachricht online gesehen oder andere Berichte des Guardian über die LA Times und die Washington Post gelesen hatten, so dass bis Montag insgesamt 1,8 Mio. $ zusammenkamen. Am Freitag wurde ein erster Spendenrekord des Guardian in den USA von 485.000 Dollar aufgestellt, der am Samstag mit 619.000 Dollar und am Sonntag mit 365.000 Dollar noch übertroffen wurde."

"Europa hat die Chance, Technologien mit der Demokratie zu befreunden"

Unter anderem mit einer EU-politischen Brille auf die Wahl blickt Felix Kartte in der FAZ unter der Überschrift "Desinformation aus Russland und in den USA, was kann Europa tun?". Der Autor schreibt:

"Die Macht der Tech-Konzerne war schon vor Elon Musk ein Problem für die Demokratie. Aber indem er sie offen zur Schau trägt, zeigt uns Musk, welche Folgen diese unkontrollierte Macht für die Gesellschaft haben kann. Musk hat X (…) in ein globales Megafon für Demokratiefeinde umgebaut. Er holte nicht nur Donald Trump zurück auf die Plattform, sondern in Deutschland auch rechtsextreme Stimmen wie Martin Sellner oder die Identitäre Bewegung. Kurz nachdem er Twitter 2022 kaufte, hob er die Beschränkungen für russische Propaganda-Accounts auf – dafür dankte ihm die Chefin des Kremlsprachrohrs RT, Margarita Simonyan, eigens mit einem Tweet. Die Stimmen und Ideologien, die Musk mit seinen Kampagnen verstärkt, zielen auf das Fundament unserer Gesellschaft ab: Grundrechte, Friedensordnung, offene Märkte. Und während Trump und Musk "Free Speech" zum Schlachtruf im Wahlkampf machen, kommt die Plattform X weltweit deutlich häufiger Aufforderungen von Regierungen nach, Inhalte von der Plattform zu löschen. Das Muster, das sich auch hier zeigt: Autoritäre reklamieren demokratische Werte und Rechte für sich, um sie dann auszuhöhlen."

Die Befürchtung des Europapolitik-Experten Kartte:

"Sollte Trump die Wahl gewinnen, dürfte ihm Musk als Berater ins Weiße Haus folgen. In diesem Fall unterläge (nach Tiktok) mit X wohl eine zweite globale Plattform dem Zugriff einer autoritären Regierung."

Gänzlich dystopisch ist der Beitrag aber nicht:

"Zwischen Autokraten und Tech-Konzernen wird die EU es schwer haben, ihre 'technologische Souveränität' zu verteidigen."

Jedoch:

"Europa hat die Chance, Technologien mit der Demokratie zu befreunden. Nicht indem die EU etwa Inhalte zensiert, sondern indem sie die Marktmacht von "Big Tech" mit den Mitteln der Wettbewerbspolitik eindämmt (…) Um ihn abzuwehren, müssen wir autoritären Einfluss indes in seiner Gänze erkennen. Desinformation – das sind nicht einfach Falschmeldungen auf den Plattformen, nicht nur irreführende Kampagnen. Im Fall von X wird die Plattform selbst zur Kampagne."

Die mangelnde Transparenz der EU-Institutionen und deren "furchtbare Auswirkungen"

Bleiben wir bei der Europäischen Union. "Übermedien" hat in der vergangenen Woche kritisiert, dass sich deutsche Berichterstattung aus Brüssel allzu oft darauf beschränkt, "Empörung über die EU" zu schüren (siehe auch Altpapier). Mit welchen Schwierigkeiten man konfrontiert ist, wenn man substanziell über EU-Politik berichten will, macht ein Interview deutlich, das beim KNA-Mediendienst (nur für Abonnenten zugänglich) erschienen ist.

Geführt hat es Jana Ballweber mit Alexander Fanta von der Investivgativplattform "Follow the money". Gemeinsam mit einigen Mitstreitern hat Fanta, mit dem Ballweber früher in der Redaktion von netzpolitik.org zusammengearbeitet hat, "ein Netzwerk gegründet, in dem Journalistinnen und Journalisten sich gegenseitig bei Informationsfreiheitsanfragen unterstützen können und das öffentlichen Druck für mehr Transparenz in der EU ausüben will".

Fanta sagt, seine Mitstreiter und er sähen "systematisch ein Problem der Europäischen Kommission, ihren Transparenzauflagen zu entsprechen". Und bei den anderen EU-Institutionen sähe es auch nicht besser aus. Fanta dazu:

"Der Rat ist Co-Gesetzgeber und sollte eigentlich komplett transparent arbeiten, das ist im Lissabon-Vertrag so vorgesehen. Er wurde aber erst 2021 durch ein Urteil dazu gezwungen, seine Arbeitsdokumente offenzulegen (…) Auch beim Europäischen Parlament wurden Reisekosten eines griechischen Neonazis, der als Abgeordneter im EU-Parlament sitzt, erst nach einer Klage von Frag den Staat veröffentlicht. Das Gericht hat hier zum ersten Mal klargestellt, dass es ein überwiegendes öffentliches Interesse gibt, diese Dokumente einzusehen, damit Journalistinnen und Journalisten recherchieren können, ob da mit Steuergeldern irgendwelche korrupten, kriminellen Machenschaften von diesem griechischen Neonazi finanziert worden sind. Da fragt man sich schon, warum das Parlament hier Rechtsextreme schützt.

Ballweber fragt schließlich:

"Was macht die mangelnde Transparenz mit dem Journalismus, der aus Brüssel über die Arbeit der EU-Institutionen berichtet?"

Fanta dazu:

"Das hat furchtbare Auswirkungen auf den Journalismus. Das wichtigste Game für Journalistinnen und Journalisten in Brüssel ist es, Quellen zu kultivieren. Wenn man Zugang zu Dokumenten nur über Quellen erhält, bildet die Berichterstattung die Interessen dieser Quellen ab. Man schafft eine Kultur von Access journalism, im Gegensatz zu einer Kultur, in der Journalistinnen und Journalisten frei und ungebunden recherchieren können, weil sie ein Recht auf Zugang zu Dokumenten haben."

Ein denkwürdiger Auftritt des EU-Politikers Manfred Weber

Über die mangelnde Informationsbereitschaft der EU-Kommission können auch einige Kollegen der Deutschen Welle sowie von BR, NDR, Lighthouse Reports, "Spiegel", "Washington Post", "Le Monde" und "El País" viel erzählen.

Sie haben recherchiert, in welchem Umfang EU-Partner wie Tunesien, Mauretanien, Marokko seit Jahren tödliche Deportationen von Migranten in die Wüste betreiben. Deportationen, von denen die EU allemal weiß, wie verschiedene EU- und UN-Dokumente zeigen, die Philipp Grüll und Erik Häußler in der ARD-Dokumentation "Ausgesetzt in der Wüste - Europas tödliche Flüchtlingspolitik" präsentieren. Das Wissen hielt die EU aber nicht davon ab, mit Tunesien und Mauretanien "Abkommen" zu schließen, damit diese autoritären Staaten "uns" Migranten vom Hals halten.

Der Film steht seit heute in der ARD-Mediathek. Und der "Spiegel" hat einen Text veröffentlicht, in dessen Mittelpunkt das deutsche Innenministerium steht, das qua Finanzierung und Ausbildung der tunesischen Nationalgarde mittelbar mitverantwortlich ist für die Menschenrechtsverletzungen im Partnerland.

Dass es so einen Film in der ARD überhaupt gibt, ist allein schon aus einem Grund bemerkenswert: Das Thema Migration ist zwar hyperpräsent in der tages- und wochenaktuellen Berichterstattung. Dokumentarische Produktionen zu Hintergründen haben aber normalerweise keine Chance mehr - möglicherweise weil sich die Programmverantwortlichen von Hintergründen ihre migrationsfeindlichen Narrative nicht kaputt machen lassen wollen.

"Ausgesetzt in der Wüste" ist eine "Content-Warnung" vorangestellt:

"Für sensible Personen kann es hilfreich sein, diesen Film mit einer vertrauten Person anzusehen."

Das liegt an Szenen wie jener, in der ein libyscher Grenzbeamter ein Video mit zwei Todesopfern beschreibt, für die Tunesien verantwortlich ist:

"Das ist ein kleines Kind mit seiner Mutter. Sie haben vielleicht zwei oder drei Tage dort gelegen. Die Temperatur dort betrug 50 Grad. Die Flüssigkeit, die ihr seht, kommt von der Verwesung."

An anderer Stelle heißt es:

"Dass Migranten auch in Mauretanien deportiert und schutzlos in der Wüste ausgesetzt werden, weiß man in Brüssel  längst. Und trotzdem hat die EU dem Land in den vergangenen Jahren viele Millionen für die Grenzsicherung überwiesen."

Ursula von der Leyen (eine der vielen Politikerinnen und Politiker, die keine Zeit hatten für ein Interview) findet, das Migrationsabkommen mit Mauretanien sei eine Win-win-win-Situation. Wenn man die Betroffenen in die Rechnung miteinbezieht, ist es allerdings eine Win-win-win-die-Situation.

"Nicht von der Kommission, aber von Ursula von der Leyens Mehrheitsbeschaffer (…), der die Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre entscheidend mitgeprägt hat", bekommen die Autoren dann doch eine Interviewzusage. Auftritt Manfred Weber also, Chef der Konservativen im Europäischen Parlament. Es ist ein denkwürdiger Auftritt, so viel kann man sagen. Der Interviewer fragt:

"Völlig dehydrierte Menschen, apathische Menschen, manche schwer verletzt, verdurstete Frauen und Kinder, die tot im Sand liegen - kann denn eine Regierung, die dafür verantwortlich ist, ernsthaft Europas Partner sein?"

Die Antwort des CSU-Manns ist, wenn man einen positiven Aspekt benennen möchte, ehrlich:

"Es gibt keine Alternative als die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten, egal wie schwierig die sich manchmal darstellt."

Später wird’s noch krasser:

"An irgendner Stelle, wenn ich’s so klar sagen darf, wird’s passieren. Bisher starben viele Menschen im Mittelmeer - direkt vor unser Haustür. Und das Tunesien-Abkommen hat jetzt dazu geführt: Es sterben weniger Menschen im Mittelmeer. Das muss man auch faktisch sehen."

Was die Frage aufwirft, ob Verdursten angenehmer ist als Ertrinken.

"Es geht um nicht weniger als die Verteidigung unserer Demokratie"

In einem weiteren, ebenfalls für einen Euro erwerbbaren Beitrag für die November-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" versuchen Daniel Kubiak und Özgür Özvatan, mit den allerdringlichsten Worten die demokratischen Parteien dazu zu bewegen, ihre Online-Strategie fundamental zu verändern.

Der Befund der beiden Sozialwissenschaftler von der Berliner Humboldt-Uni:

"(Wir) wissen, dass sich Rechtsextreme durch jahrelangen Ressourceneinsatz in den Sozialen Medien nahezu ein Monopol ertrotzt haben. Sie können dabei ostdeutsche, migrantische, weißdeutsche, städtisch oder ländlich lebende Jugendliche sehr zielgenau ansprechen, in ihrer Marginalisierung adressieren und an sich binden. Die Demokrat:innen wiederum unterschätzen besonders die Bedeutung der jungen Wählenden mit Migrationsgeschichte; dabei machen diese aufgrund der demografischen Entwicklung hierzulande bald die Hälfte der Erstwählenden aus."

Die Zeit des Dünkels, so Kubik und Özvatan, müsse vorbei sein:

"Das Argument der Oberflächlichkeit zieht nicht. Ein Experiment im Rahmen einer Studie der Berliner Humboldt-Universität (zeigt) (…): Auch mehrminütige Videos gehen viral. Die vom Empfehlungsalgorithmus vorgeschlagenen Videos werden massenhaft im Sekundentakt geswipet. Ist der Anfang interessant und ist das Video von Anfang bis Ende professionell aufbereitet, dann werden lange Videos durchaus in Gänze geschaut. Und: Nicht selten beschäftigen sich junge Menschen nach dem Schauen von Memes tiefergehend mit einzelnen Themen. Doch die durch das Internet veränderte Aufmerksamkeitsökonomie macht eine Professionalisierung aufseiten der demokratischen Parteien erforderlich. Politische Kommunikation muss daher community- und plattformspezifisch eingesetzt werden. Es geht dabei um nicht weniger als die Verteidigung unserer Demokratie."

Das entscheidende Schlagwort lautet hier: "community- und plattformspezifisch". Denn von einer entsprechenden Strategie sind die in diesem "Blätter"-Text angesprochenen Parteien noch meilenweit entfernt. Die Autoren schreiben weiter:

"Inhaltlich gilt es dagegen, den Erzählungen der Rechtsextremen klar zu widersprechen und eine eigene politische Agenda zu setzen mit dem Ziel, die bisherigen Verhältnisse umzukehren. Die Hypervisibilität der Migratonsdebatte ist nicht vom Himmel gefallen, sondern eine besonders erfolgreiche orchestrierte Wahrhehmungskampagne der Rechten. Die bisherige Strategie der demokratischen Parteien lautete, die Rechtsextremen inhaltlich zu kopieren - allen voran in der Migrationsdebatte. Stattdessen sollten die demokratischen Parteien sich das digitale Agenda-Setting abschauen, bei inhaltlicher Treue zum eigenen parteipolitischen Profil."

Das klingt auf den ersten Blick plausibel. Aber: Eine andere politische Kommunikation im Netz in der hier geforderten Form setzt erst einmal voraus, dass "die demokratischen Parteien" in der Migrationsdebatte überhaupt damit aufhören wollen, "die Rechtsextremen inhaltlich zu kopieren". Wer sich zum Beispiel die oben erwähnte Dokumentation "Ausgesetzt in der Wüste" ansehen wird, wird eher nicht glauben, dass das passiert.


Altpapierkorb (120.000 Euro Strafe für unjournalistisches Interview, Körner über Beckenbauer, "Rollenverschiebungen im lokalen Raum")

+++ Großbritannien, du hast es besser? Zumindest hat dort die  Medienaufsicht - die anders strukturiert ist als in Deutschland - mehr Biss. Ein Indiz: Die Medienaufsichtsbehörde Ofcom hat gerade den Rechtsaußen-Sender GB News - eine Art britisches Fox News - mit einer Strafe von 100.000 Pfund (ungefähr 120.000 Euro) belegt. Der Grund: Der Sender habe in einem Interview mit Rishi Sunak die Neutralitätsregeln verletzt. In einer dpa-Meldung, die u.a. anderem "Spiegel" und "Welt" verbreiten, heißt es: "Dem damaligen Premierminister sei mit der Sendung vor einer anstehenden Parlamentswahl eine 'weitgehend unangefochtene' Plattform gegeben worden, um seine Politik und die Entscheidungen seiner Regierung zu bewerben."

+++ Die "Süddeutsche" lobt Torsten Körners bei Magenta TV zu sehenden dokumentarischen Dreiteiler "Beckenbauer – Der letzte Kaiser": Körner liefere "neue Aspekte". Die seien, so Rezensionsautor Holger Gertz, nicht zuletzt Schauspieler Matthias Brandt und Regisseur Christian Petzold zu verdanken. Gertz’ Fazit: "Was Künstler über den lange so hell strahlenden Kaiser aus Obergiesing zu sagen haben, ist mal wieder interessanter als das, was aus der Fußballblase hervorblubbert."

+++ "Öffentlichkeit ohne Journalismus? Rollenverschiebungen im lokalen Raum" lautet der Titel des neuen Arbeitshefts der Otto-Brenner-Stiftung. Es geht darum, wie Kultureinrichtungen, Kommunen oder Wirtschaftsunternehmen im Lokalen auf die "zunehmende Schwierigkeit, ihre Themen in den schrumpfenden Redaktionen und Lokalteilen der Presse setzen zu können", reagieren. Die Autoren Barbara Witte und Gerhard Syben warnen: "Wir lassen die lokale Öffentlichkeit mehr oder weniger verkom­men und liefern sie den internationalen Platt­formen aus. Es ist für die einzelne Institution sicher sinnvoll, die Plattformen für die schnelle Kommunikation zu nutzen. Dabei stehen zu blei­ben, ist für den gesellschaftlichen Austausch ein gefährlicher Weg."

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Wir wünschen ein schönes Wochenende!

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