Kolumne: Das Altpapier am 28. Oktober 2024 Mutwillige Schwächungen
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28. Oktober 2024, 11:58 Uhr
Schadet die Verabschiedung des Reformstaatvertrags in Leipzig dem demokratischen Diskurs? Ist der Vertrag in Teilen verfassungsrechtlich bedenklich? Außerdem auf der Agenda: der kaltschnäuzige Opportunismus milliardenschwerer Zeitungsbesitzer in den USA; die Radikalisierung deutscher Regionalzeitungen. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Was in Leipzig herauskam
Wie fasst man die Entscheidungen zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die die Ministerpräsidenten in Leipzig fällten, am besten zusammen? Zwei zugespitzte Formulierungen aus der taz und der "Süddeutschen" bieten sich an: "Beschlossen, nichts zu beschließen" steht über dem Artikel von Steffen Grimberg. "Es reichte dann doch nur zum Showdownlein", lautet der letzte Satz im Text von Claudia Tieschky und Aurelie von Blazekovic.
Dass auch nach der nun über die Bühne gegangenen Einigung der Ministerpräsidenten auf einen Reformstaatsvertrag für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einiges unklar bleiben würde, war aber von vornherein, äh, klar. Ein Grund: "Welche Sender konkret wegfallen, müssen die Intendanten entscheiden" (u.a. "Süddeutsche"). Ein anderer: Der Reformstaatsvertrag muss noch durch alle Landesparlamente. Dass in einigen Bundesländern noch nicht klar ist, wer künftig wie reagiert, sollte man in diesem Kontext im Hinterkopf haben.
Wie auch immer: Widmen wir uns der Frage, was zum Beispiel nicht "beschlossen" wurde? Vertagt hat die MPK die Entscheidung zum Rundfunkbeitrag. Dazu zitiert der erwähnte Grimberg den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer:
"Wir sind nah an einer Lösung. Ich bin optimistisch, dass wir spätestens im Dezember alle diese Fragen werden beantworten können."
Was sagt Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda (siehe zum Beispiel dieses Altpapier) dazu?
"(Er) nennt es gegenüber der SZ 'eine medienpolitische Enttäuschung, dass die Klärung der damit verbundenen Finanzierungsfragen jetzt nicht möglich war und auf den Dezember geschoben wurde‘."
Was bis dahin passieren soll, beschreibt Steffen Grimberg so:
"Ein Systemwechsel soll her, bei dem die KEF und die Landtage weiter eine Rolle spielen und die Staatsferne gewahrt sei. Gleichzeitig soll dieser Systemwechsel 'die politische Temperatur' bei der Diskussion um den Beitrag 'herunterfahren‘, wie Schweitzer formulierte. Wie das konkret gehen soll, darf jetzt die Rundfunkkommission der Länder austüfteln."
Einen Aspekt, bei dem dagegen Klarheit herrscht, benennt Helmut Hartung (FAZ):
"Ein wichtiger Diskussionspunkt der Konferenz war die Reduzierung der Kosten für Sportrechte. Künftig sind diese bei fünf Prozent der Gesamtausgaben gedeckelt. Gegenwärtig liegen sie bei circa zehn Prozent."
Und was ist mit 3sat? In der SZ heißt es dazu:
"'Wir haben nicht die Fusion von 3sat und Arte beschlossen‘, sagt Ministerpräsident Schweitzer. Aber bei der geplanten Erweiterung von Arte zur europäischen Kulturplattform könnten die Inhalte von 3sat 'möglicherweise' eine Rolle spielen. So weit, so vage."
Relativ Handfestes gibt’s dagegen zur sog. Presseähnlichkeit. Dazu noch einmal Hartung:
"Begrenzt werden durch den Staatsvertrag (…) die Möglichkeiten von ARD und ZDF, auf ihren Onlineseiten presseähnliche Angebote zu verbreiten. Dazu wurde eine 'Positivliste‘ beschlossen. 'Breaking News' sind möglich, 'Schlagzeilen zu aktuellen Ereignissen, einschließlich begleitender Echtzeitberichterstattung‘ ebenfalls, Faktenchecks und Angebotsübersichten. Texte, zu denen es Audio- und Bildberichterstattung gibt, sollen in großem Umfang möglich sein."
Die so gut wie gerade eben erst im Altpapier erwähnte Hamburger Medienrechtskoryphäe Wolfgang Schulz schreibt zu diesem Aspekt bei "Legal Tribune Online":
"Das Anliegen, der Presse bei ihrer digitalen Transformation Raum zu geben, ist zwar verständlich – der gewählte Regelungsansatz ist aber völlig untauglich. Online-Journalismus hat seine eigenen Formen herausgebildet. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf bestimmte Formen einzuschränken und textorientierte Telemedien nur mit engem Bezug zum linearen Programm zuzulassen, gefährdet seine Entwicklung. Das ist verfassungsrechtlich bedenklich. So hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass sich die Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch auf neue Dienste mittels neuer Techniken erstreckt."
Was die MPK-Beschlüsse für Folgen haben könnten
Der beste Kommentar zu dem Leipziger Beschluss stammt von der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse (Agra), von der ich mir wünschte, dass sie in der Öffentlichkeit stärker präsent wäre. In deren Mitteilung heißt es:
"Vor allem die Beschränkungen bei den Online-Angeboten sind eine Fesselung der Sender und wirken sich negativ auf deren Zukunftsfähigkeit aus. 'Das bedeutet eine mutwillige Schwächung der öffentlich-rechtlichen Sender‘, sagt Hubert Krech, Sprecher der AGRA, das ist 'ein Einknicken der Politiker vor den Verlegern.‘"
Die Redakteursvertreter schreiben weiter:
"Die Gefahr ist groß, dass in Zeiten von Fake News und gezielter Manipulation immer mehr Menschen dazu gezwungen sind, auf unseriöse Quellen zurückzugreifen. Stattdessen wäre eine Stärkung des unabhängigen und ausgewogenen Journalismus notwendig, wie ARD, ZDF und Deutschlandradio ihn bieten – Texte liefern im Netz schnelle Informationen und in vielen Fällen bessere Hintergründe und Analysen. Verlierer der Reform sind also die Nutzerinnen und Nutzer."
Claudia Seiring haut im "Tagesspiegel" in eine ähnliche Kerbe:
"Dass bei der Ministerpräsidentenkonferenz in Leipzig ausgerechnet der Weg gegangen wurde, auf dem Information, Kultur und der Nachwuchs auf der Strecke bleiben, ist falsch. Wann, wenn nicht jetzt, brauchen wir Aufklärung, Fakten und Wissenschaft? Wann, wenn nicht in Zeiten von Fake News, selbstgezimmerten 'Info-Portalen’ und Social-Media-Propaganda?"
In der vergangenen Woche ist im Schweizer Magazin "Republik" ein Interview mit Roger de Weck erschienen, der früher u.v.a. Chefredakteur der "Zeit" und Generaldirektor der SRG war und zuletzt im semi-legendären Rat für die zukünftige Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Zukunftsrat) mitwirkte. Eine Passage des Gesprächs lässt sich sehr gut auf Deutschland übertragen, und deshalb reiße ich sie hier mal aus dem Zusammenhang. de Weck nimmt an jener Stelle zunächst Bezug auf die Kürzung der Rundfunkabgabe in der Schweiz, die im Juni beschlossen wurde:
"Der Bundesrat (kürzt) die SRG-Einnahmen (…) just in einer Zeit, da die Fernsehwerbung weniger Geld bringt. Etliche 'Medienpolitiker‘ möchten die SRG destabilisieren, verunsichern und in eine Lage versetzen, in der sie es niemandem recht machen kann, also an Akzeptanz verliert. Denn wo auch immer sie kürzt, man wirft ihr vor, sie mache es falsch. Spart sie beim Sport, sagen viele: Warum soll ich die (…) Gebühr zahlen, wenn der Fußball ganz woanders stattfindet? Man solle doch beim Kulturangebot sparen, denn da betreibe die SRG großen Aufwand für ein eher kleines Publikum. Die Kulturfreunde ihrerseits sehen es gerade umgekehrt. Doch da kommt die grundsätzliche Frage auf: Warum wollen starke Kräfte in einer Zeit des allgemeinen Journalismusabbaus auch noch den Service-public-Journalismus schwächen? Die Medienvielfalt schwindet dramatisch, die Desinformation grassiert – und die wichtigste medienpolitische Aufgabe ist offenbar das Stutzen der SRG: Warum eigentlich?"
Nun würde de Weck sich aber dagegen verwehren, dieses Zitat in der hiesigen Debatte in der von mir intendierten Absicht zu verwenden. Denn: Das "Stutzen" von ARD und ZDF findet er prima. "epd Medien" berichtet:
"Die Ministerpräsidentenkonferenz habe die größte Reform der öffentlich-rechtlichen Medien seit Gründung des ZDF 1961 beschlossen, schrieb de Weck am Wochenende im Netzwerk LinkedIn."
Was sagt de Weck dort außerdem über die potenzielle Wirkung der verabschiedeten Reform? So ungefähr das Gegenteil dessen, was der AGRA und "Tagesspiegel"-Redakteurin Seiring schreiben:
"Die Öffentlich-Rechtlichen werden noch klarer darauf verpflichtet, der (angefochtenen) Demokratie und dem Zusammenhalt der (zusehends polarisierten) Gesellschaft zu dienen."
Jeff Bezos genießt seine Pressefreiheit
Zwischen den jeweils aktuellen großen Mediendebatten in Deutschland und den USA lassen sich nicht immer Parallelen ausmachen. Das ist in diesen Tagen anders. Auch in den USA werden gerade journalistische Institutionen "mutwillig geschwächt", um eine Formulierung des ARD-Redakteursvertreters Hubert Krech aufzugreifen. Während hier zu Lande aber "Politiker vor den Verlegern einknicken" (Krech again), ist es dort umgekehrt: Zeitungseigentümer knicken vor Politikern ein.
Das ist zumindest eine Lesart der aktuellen Vorfälle bei der "Los Angeles Times" (siehe FAZ) und der "Washington Post". Deren Eigentümer - der Pharma-Unternehmer Patrick Soon-Shiong respektive der Kaufhaus- und Raketenheini Jeff Bezos - untersagten die von den Zeitungen geplanten Wahlempfehlungen für Kamala Harris. Wahlempfehlungen sind in den USA üblich, in Deutschland setzte meines Wissens nur eine Zeitung einmal auf dieses Mittel. Das war vor 22 Jahren.
Was man erst einmal hervorheben kann:
"Bemerkenswert (und vermutlich undenkbar in Deutschland): 'Washington Post‘ und 'L.A. Times’ berichten auch selbst über die Proteste und Abo-Kündigungen wegen der verhinderten Wahlempfehlungen."
Das schreibt Stefan Niggemeier. In der Post sieht das zum Beispiel so aus:
"'Donald Trump wird dies als Einladung feiern, den Besitzer der Post, Jeff Bezos (und andere Medienbesitzer), weiter einzuschüchtern’, sagte der frühere Post-Chefredakteur Martin Baron, der die Zeitung leitete, als Trump Präsident war, in einer Textnachricht an die Post."
Dies sei, so Baron weiter, "ein beunruhigendes Kapitel der Rückgratlosigkeit in einer Institution, die für ihren Mut bekannt ist".
Wie mehrere Kolumnisten und nunmehrige Ex-Kolumnisten der "Washington Post" sowie andere Prominente (Woodward und Bernstein) auf die Entscheidung des Eigentümers reagiert haben, fasst das National Public Radio (NPR) zusammen. Robert Kagan, der gerade als Kolumnist zurückgetreten ist, sagt dort zum Beispiel:
"Dies ist eindeutig ein Versuch von Bezos, sich im Vorfeld der Präsidentschaft Trumps bei ihm beliebt zu machen."
Kagan hatte in einem vieldiskutierten, in deutscher Übersetzung Anfang dieses Jahres erschienenen Text (siehe Altpapier) bereits prophezeit:
"In einem Regime, in dem der Herrscher erklärt hat, dass Medien 'Feinde des Staates' sind, wird sich die Presse unter erheblichem und konstantem Druck befinden. Eigentümer von Medienunternehmen werden herausfinden, dass ihnen ein feindseliger und hemmungsloser Präsident das Leben schwermachen kann."
War die Entscheidung der Eigentümer angstbasiert? Oder sind Soon-Shiong und Bezos eher angstfreie Opportunisten, die auch in den möglicherweise anbrechenden faschistischen Zeiten halt noch ein paar Taler verdienen möchten? Die an dieser Stelle öfter zitierte Margaret Sullivan - einst u.a. selbst Medienkolumnistin bei der Post, nun geschäftsführende Direktorin am Craig Newmark Center for Journalism Ethics and Security an der Columbia-Uni - schreibt in ihrem Substack: Man könne nicht wissen, ob Soon-Shiong und Bezos "aus Angst vor Einschüchterung oder aus reinem finanziellen Eigeninteresse oder aus beidem" gehandelt hätten.
In der Debatte geht es wohlgemerkt nicht darum, ob Redaktionen Wahlempfehlungen geben sollten und was sie bewirken, sondern darum, dass Eigentümer nach Gutsherrenart die redaktionelle Entscheidung für eine Wahlempfehlung torpedieren.
Oliver Darcy, der frühere CNN-Medienredakteur, der jetzt mit dem "Status"-Newsletter am Start ist, schreibt:
"Instead of directing their editorial boards to speak truth to power and bluntly point out the threat that Donald Trump poses to American democracy, Bezos and Soon-Shiong have done the opposite. They have preemptively bent the knee to Trump. It does not take a brilliant mind to do the math. Both Bezos and Soon-Shiong have significant business before the government."
Konkret sieht diese Rechnung laut Darcy folgendermaßen aus:
"Sollte Trump wieder ins Weiße Haus einziehen, könnte er - und würde er wahrscheinlich - die Macht des Amtes nutzen, um Vergeltung an seinen vermeintlichen Kritikern zu üben. Es ist also nicht schwer zu verstehen, warum Bezos und Soon-Shiong den Bären lieber nicht aufscheuchen wollen. Leider ist das die Achillesferse von Nachrichtenorganisationen, die sich im Besitz von Unternehmen oder Milliardären befinden, die mit der Regierung zu tun haben."
Die laut "Columbia Journalism Review" "schwerwiegendste" Behauptung, die derzeit kursiere, sei, "dass Soon-Shiong und Bezos versuchen, sich abzusichern, weil sie befürchten, dass ihre Geschäftsinteressen unter einer zweiten Trump-Präsidentschaft Schaden nehmen könnten."
Heike Buchter bei Zeit Online dazu:
"Angesichts der kurzfristigen Entscheidung der beiden Milliardäre kann man zu dem Schluss kommen, dass sie mit einem Wahlsieg Donald Trumps rechnen. Beide sind an Unternehmen beteiligt, die viel zu verlieren hätten, sollten Aufsichtsbehörden und Regierung in Washington ihnen plötzlich feindlich gesinnt sein (…) Bezos' Raumfahrtunternehmen Blue Origin, das auf Staatsaufträge der Nasa hofft, dürfte ins Visier eines rachsüchtigen Präsidenten Trump geraten. Auch bei Soon-Shiong könnten solche Befürchtungen eine Rolle spielen, schließlich unterstehen viele seiner Unternehmen mit ihren Produkten den Aufsichtsbehörden in Washington."
Im Zusammenhang mit Blue Origin zitiert Willi Winkler in der SZ den bereits erwähnten Robert Kagan:
"Erst nachdem Bezos seine Zeitung neutralisiert hatte, habe sich Trump mit den Managern von Blue Origin getroffen, der Luftfahrtabteilung von Bezos, die ebenfalls auf Staatsaufträge hoffen darf."
Zu dem Treffen schreibt die konservative Plattform "The Bulwark":
"Dies war weder ein Zufall noch ein Fall, in dem Bezos und Trump bei etwas ertappt wurden, das sie lieber geheim halten wollten. Der ganze Sinn der Übung, zumindest für Trump, war, dass sie öffentlich ist. Was wir am Freitag erlebt haben, war weder ein Fall von Zensur noch ein Versagen der Medien. Es hatte nichts mit Journalismus oder der Washington Post zu tun. Es ging um etwas viel, viel Folgerichtigeres. Es ging um Oligarchie, Rechtsstaatlichkeit und das Versagen der demokratischen Ordnung."
"Spiegel"-Kolumnist Christian Stöcker wirft in einem Threads-Post ein:
"Nur so eine Idee: Vielleicht sind die Ideen einer freien Presse als Vierter Gewalt liberaler Demokratien und des Internets als herrschaftsfreier Debattenraum einfach prinzipiell inkompatibel mit Milliardären, die sich Zeitungen, Fernsehsender und Plattformen kaufen können?"
Zur Milliardäre-als-Medieneigentümer-Problematik schreibt die bereits erwähnte Margaret Sullivan:
"Als Soon-Shiong die Los Angeles Times und Bezos die Post kaufte, wurden diese Schritte als öffentlichkeitswirksame Bemühungen zur Rettung des Journalismus in einer für die Zeitungen finanziell schwierigen Zeit angekündigt. Und es besteht kein Zweifel, dass beide Zeitungen wichtige Arbeit geleistet haben. Aber da ihre Grundwerte so kaltschnäuzig verraten wurden (…), bleibt ein unauslöschlicher Fleck zurück, genau wie bei Elon Musks abscheulicher Demontage von Twitter."
Dass Bezos wie Elon Musk "Empfänger des von (Mathias) Döpfner begründeten 'Axel Springer Award‘" ist, streut der bereits erwähnte Willi Winkler aus gegebenem Anlass in seinen Text ein. Und eine weitere Passage aus Winklers Text soll dann auch vorerst als Fazit dieses Falls dienen:
"Es ist kaum zu vermeiden, hier an den konservativen Publizisten Paul Sethe zu erinnern, der 1965 schrieb: 'Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten‘. Er setzte hinzu: 'Frei ist, wer reich ist.’"
Ist die NOZ noch zu retten?
In der deutschen Medienlandschaft sind mittlerweile nicht mehr nur "selbstgezimmerte 'Info-Portale' und Social-Media-Propaganda", (wie es der oben zitierte "Tagesspiegel" aus aktuellem Anlass formuliert) ein Problem. Mindestens ebenso gravierend ist es, dass sich renommierte Regional- und Lokalzeitungen radikalisieren. Über die "Schwäbische Zeitung" sind in dem Zusammenhang zahlreiche Artikel erschienen (siehe u.v.a. dieses Altpapier und einen aktuellen Beitrag von mir für "Übermedien"):
Alarmierend ist aber auch die Entwicklung bei der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ). Im Juni hatte Stefan Niggemeier in einer Ausgabe des "Übermedien"-Newsletters bereits deren sehr populistischen Chefredakteur Burkhard Ewert verarztet. Ende der vorvergangenen Woche berichtete "Übermedien" dann über eine Zusammenarbeit zwischen der NOZ und dem Querdenker-Organ "Multipolar". Letztere greift nun auch Harff-Peter Schönherr für die taz auf:
"Eine namhafte Tageszeitung kooperiert mit einem Magazin, das Politikwissenschafts-Professor Markus Linden, Universität Trier, 2021 in einem Vortrag zum Thema Verschwörungsmythen zu den 'klassischen verschwörungstheoretischen Alternativmedien' gezählt hat? Heikel. Das muss sich auch Forsa gedacht haben. Alleinige Auftraggeberin der Umfrage sei die NOZ gewesen, schreibt Forsa-Geschäftsführer Thorsten Thierhoff der taz. Man arbeite 'grundsätzlich nicht für Verschwörungstheoretiker, Rechtsradikale oder extremistische Institutionen‘. Forsa sei nicht bekannt gewesen, 'dass die Umfrageergebnisse auch in Multipolar veröffentlicht werden sollten'. Das Meinungsforschungsinstitut schickt Multipolar eine Unterlassungserklärung. Multipolar unterschreibt. In dem Beitrag (…) ist seither nur noch von einer 'von Multipolar initiierten und von der Neuen Osnabrücker Zeitung daraufhin beauftragten Umfrage‘ die Rede. Die NOZ wirkt dadurch wie ein Handlanger von Multipolar."
Worauf Schönherr im Folgenden eingeht, erinnert an die Berichterstattung zahlreicher Medien über die Reaktionen von Redakteuren der "Schwäbischen Zeitung":
"Mitarbeitende, mit denen die taz gesprochen hat, und die anonym bleiben wollen, sagen Dinge wie: 'Wir machen Verschwörungstheoretiker salonfähig und setzen unseren eigenen Ruf aufs Spiel.’ Oder: 'Das hat mit Meinungspluralität nichts mehr zu tun. Das ist gefährlich.'"
Das ist es nicht zuletzt wegen der Größe des NOZ-Imperiums. Zwei Artikel, die aus der Zusammenarbeit mit "Multipolar" entsprangen, erschienen in jeweils 31 Zeitungen. Was NOZ-"Insider" laut taz des Weiteren sagen:
"Neben Corona habe es auch um den Russland-Kurs des Hauses in den vergangenen Jahren lebhafte Debatten gegeben. Tatsächlich gab NOZ-Chefredakteur Ewert Russlands Botschafter Sergej Netschajew mehrfach Gelegenheit, russische Standpunkte zur Ukraine und zur deutschen Außenpolitik darzulegen. Zuletzt geschah das Mitte Februar 2024, in 'Russlands Botschafter Netschajew beklagt 'antirussische Rhetorik' in Deutschland'. Kritische Nachfragen hier? Keine. Mehr noch: Die Russische Botschaft machte aus Ewerts Autorentext einen 'Kommentar’ des Botschafters 'für die Neue Osnabrücker Zeitung‘, stellte ihn auf ihre Website, NOZ-Logo inklusive."
Wem bei folgender entsprechender Textpassage die "Berliner Zeitung" in den Sinn kommt, liegt natürlich nicht falsch (siehe hier und hier). Die Überschrift des taz-Artikels lautet übrigens: "Kuscheln mit Russland".
Altpapierkorb (Europa durch die nationale Brille, dubiose AfD-Fanaccounts bei Tiktok, Tucker Carlsons Einfluss auf die Republikanische Partei)
+++ Einen ausführlichen Überblick über die Schwächen deutscher EU-Berichterstattung liefert "Übermedien": Diese "leide generell darunter, dass immer noch zu oft durch die 'nationale Brille‘ auf die EU geschaut werde, sagt der Politikwissenschaftler und Medienforscher Hans-Jörg Trenz. Viele Berichte seien sehr 'vorurteilsbelastet‘. Claudia Huber schreibt in (einem) Bericht für die Friedrich-Ebert-Stiftung, man erlebe in solchen Momenten statt der erhofften 'Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten’ faktisch eher wieder 'die Nationalisierung europäischer Ereignisse‘. Die Korrespondenten in Brüssel werden in solchen Nachrichtenlagen von den Heimatredaktionen offenbar teilweise nicht gefragt. 'Diese Klage von den Korrespondenten gibt es seit Jahren‘, sagt Politikwissenschaftler Trenz. 'Sie könnten zwar eine europäische Perspektive anbieten. Aber die Redaktionen verengen das lieber auf die nationalen Interessen.’"
+++ Die "Süddeutsche" berichtet über Recherchen zu dubiosen "Fan-Accounts" der AfD bei Tiktok: "Die gemeinnützige Organisation Democracy Reporting International (DRI) hat 27 Konten mit insgesamt mehr als einer halben Million Followern gefunden, die Namen und Logos der AfD oder ihrer Politikerinnen und Politiker verwenden. Die Profile sind weder als politische Konten verifiziert, noch durch ihren Namen als Fan-Accounts gekennzeichnet." Und wie verhält sich Tiktok in dieser Sache? Die SZ dazu: "In seinen Richtlinien verspricht (das Unternehmen): 'Uns ist es wichtig, dass die Verhaltensweisen und Identitäten der Konten authentisch und wahrheitsgemäß sind.‘ Diesem Anspruch wird Tiktok bei den Fan-Konten der AfD nicht gerecht. 'Fairness in Wahlen bedeutet, dass wir als Wähler wissen, mit wem wir es zu tun haben‘, sagt Michael Meyer-Resende, Mitgründer und Geschäftsführer von DRI. 'Fänden wir es gut, wenn Leute an Wahlkampfständen vermummt wären und wir gar nicht wissen, wer diese Personen überhaupt sind? Auf Tiktok ist das möglich.’"
+++ Inwiefern der frühere Fox-News-Moderator Tucker Carlson mittlerweile "so viel Einfluss auf die Republikaner wie noch nie" hat, dröselt Nicholas Potter für die Wochenendtaz auf: "Carlsons populistische bis rechtsradikale Rhetorik kostete seine Sendung (…) immer mehr Werbekunden (…) Ohne die Aufsicht eines großen Medienunternehmens wird sein Kurs noch extremer (…) Im September lud Carlson den Holocaustrelativierer Darryl Cooper in seine Sendung, die auf X über 34 Millionen Mal angeschaut wurde (…) Geschmälert hat das Carlsons Einfluss in der republikanischen Partei nicht, im Gegenteil."
Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.