Kolumne: Das Altpapier am 16. Oktober 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 3 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 16. Oktober 2024 "Das wird ein zermürbendes Wahljahr"

16. Oktober 2024, 13:09 Uhr

Im Politikjournalismus kommt es nicht nur auf eine angemessene Berichterstattung über aktuelle Ereignisse an. Journalisten sollten ihre Agenda nicht von täglichen Politikeräußerungen bestimmen lassen, sondern selbst Themen setzen. Das geschieht sowohl in den USA als auch in Deutschland aber zu selten. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

In den Niederlanden haben sich die Grenzen des Sagbaren schon früher verschoben

Es kann in diesen Tagen ja nicht schaden, Beispiele dafür zu nennen, was 3sat auszeichnet. Schauen wir dazu mal in das heutige Abendprogramm: Ab 20.15 Uhr läuft dort Richard C. Schneiders Zweiteiler "Sterbende Demokratien", der allein schon formal positiv aus dem Rahmen fällt. Es gibt hier keinen Presenter, der sich wichtig nimmt und seine eigene Arbeit überhöht, keine um Aufmerksamkeit heischenden Spielereien.

Im ersten Teil ("Aufstieg der Populisten"), geht es vor allem um Geert Wilders und Marine Le Pen, im zweiten ("Erosion von innen") um Länder, in denen rechte Regierungen mit dem Abbau der Demokratie bereits begonnen haben (Ungarn, Italien).

Der erste Teil von "Sterbende Demokratien" ist sehenswert, weil hier zum Beispiel Christoph Driessen, deutsch-niederländischer Historiker, deutlich macht, dass Entwicklungen, die wir in Deutschland erst seit relativ kurzer Zeit beobachten können, im Nachbarland früher begonnen haben:

"In den Niederlanden haben sich die Grenzen des Sagbaren in den letzten zehn, zwanzig Jahre immer weiter verschoben. Was vor 20 Jahren noch einen Aufschrei erregt hätte, wird heute kaum noch kommentiert. Dabei spielt sicherlich eine Rolle, dass Wilders (…) der dienstälteste Abgeordnete ist, er ist Mtiglied im Parlament seit 1998, und da hat sich ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt."

Und das, was kurz danach (ab zirka 14:00) Matthijs Rooduijn, Politikwissenschaftler an der Uni Amsterdam, sagt, ist ebenfalls mit Blick auf die deutsche Parteienlandschaft interessant:

"Die konservativen Liberalen haben sich ganz schön in Richtung von Wilders’ PVV bewegt. Die liberale VVD wurde zumindest rechtslastig, wenn es um Identitätsfragen geht. Dieser Kurswechsel war entscheidend, weil er natürlich den Diskurs der radikalen Rechten legitimiert. So gerät das allmählich außer Kontrolle."

Im zweiten Teil geht es dann unter anderem um die Einschränkungen der Pressefreiheit in Ungarn und in Italien.

Als eine Bundesregierung einmal einen Gesetzesentwurf zur Vermögenssteuer vergammeln ließ

Um beim aktuellen TV- bzw. Mediathekenprogramm zu bleiben: Während sich "Sterbende Demokratien" durch eine anregende Verdichtung von weitgehend bekannten Informationen auszeichnet, hat Hauke Wendlers Film "Steuerparadies Deutschland. Den Milliarden-Vermögen auf der Spur" (35 Minuten online only, Kurzfassung am Dienstag bei "Frontal") eine andere Stärke: Er rekapituliert etwas, was zumindest mir nicht bekannt war. Es geht um die Jahrzehnte lange Erfolgsgeschichte der Vermögenssteuer, die 1997 aber jäh endete. In der Textfassung des Films heißt es dazu:

"Offiziell wurde die Vermögenssteuer 1997 nicht abgeschafft, sondern nur 'ausgesetzt'. Hintergrund war eine Entscheidung aus Karlsruhe von 1995: Damals kritisierte das Bundesverfassungsgericht, die Besitzer von Immobilien würden zu wenig Steuern zahlen. Das Vermögenssteuergesetz müsse überarbeitet werden, so die Richter. Daraufhin argumentierte die damalige Bundesregierung von CDU/CSU und FDP, eine Gesetzesreform sei viel zu kompliziert. Deshalb wurde die Vermögenssteuer nicht überarbeitet - sondern komplett ausgesetzt. Aber was war dran an der Argumentation von Union und FDP? Barbara Hendricks, die für die SPD ab 1994 im Finanzausschuss saß, erinnert sich im Interview mit ZDF frontal: 'Es gab einen ausformulierten Gesetzentwurf zur Vermögenssteuer, der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes aufgegriffen hat. Und der hat im Bundesrat eine Mehrheit bekommen und ist ganz offiziell dem Bundestag zugeleitet worden.’"

Die Bundesregierung ließ den Gesetzesentwurf - er kam von der Landesregierung von NRW - aber einfach "liegen", wie Hendricks es formuliert. Anders gesagt: CDU, CSU und FDP ließen ihn vergammeln, weil er ihnen nicht gefiel.

Trumps verstörender Tanz

Der Begriff "bizarr" mag im Zusammenhang mit Donald Trump etwas abgenutzt sein. Trotzdem kann man es  verstehen, dass die "Washington Post" ihn in der Überschrift zu diesem Artikel über eine Wahlkampfveranstaltung in Oaks, Pennsylvania verwendet. Die "Süddeutsche" erläutert die Bizarrheit so:

"Als die Veranstaltung zweimal unterbrochen wurde, weil Zuhörer mit Kreislaufproblemen medizinisch versorgt werden mussten, hatte Trump nach einer halben Stunde offenbar keine Lust mehr. Als wollte er seinen politischen Gegnern Munition geben, die ihn für zunehmend verwirrt und unberechenbar halten, blieb er eine halbe Stunde lang stumm auf der Bühne stehen, wiegte sich selig im Takt der Musik und schloss mitunter die Augen zu sanften Melodien."

Falls "wiegte sich selig" ironisch gemeint sein sollte: Das kann man nur dann verstehen, wenn man die Bilder gesehen hat. Und die sagen in diesem Fall mehr als 10.000 oder 20.000 Zeichen sagen könnten. Das 73-sekündige Video, das in den eben verlinkten "Washington Post"-Beitrag eingebettet ist, und die Zusammenfassung im Threads-Account von "Decoding Fox News" seien hier empfohlen. Wir sehen die einerseits unbeholfenen, andererseits seltsam roboterhaft wirkenden Tanz-Bewegungen einer Person, die möglicherweise nicht weiß, wo sie sich gerade befindet. Vielsagend auch die Verstörung einiger Trump-Anhänger, die mit ihm auf der Bühne stehen: Ihre Blicke sind mal irritiert, mal hilflos, mal versteinert.

Dass der Blick auf das, was Trump Tag für Tag in der Öffentlichkeit tut, auch kontraproduktiv sein kann, macht Michael Tomasky in einem Artikel für "The New Republic" deutlich. Die Überschrift lautet:

"Die Medien haben drei Wochen Zeit zu lernen, wie man die Wahrheit über Trump sagt."

Tomasky schreibt:

"Vielleicht hat sich die tägliche Berichterstattung über das, was Trump tut, verbessert, auch wenn die alles entscheidenden Schlagzeilen immer noch viel besser sein könnten."

Aber: Es komme nicht nur auf die Berichterstattung an "über das, was er gestern getan oder gesagt hat", sondern die "Berichterstattung, die nicht auf (aktuellen) Ereignissen beruht, sondern die eine Nachrichtenorganisation auf eigene Faust beschließt, nicht als Reaktion auf den täglichen Nachrichtenzyklus, sondern um ihre Leser auf eine Sache aufmerksam zu machen".

Diese Einschätzung lässt sich auch auf deutsche Verhältnisse übertragen: Die Agenda des Politikjournalismus wird viel zu stark von Politiker-Auftritten und Politiker-Äußerungen bestimmt. Nach dem Motto: Gestern hat die SPD dit gesagt und heute die CDU dat, und fertig ist die Laube. Stattdessen käme es darauf an, eigene Themen zu setzen, die man für relevant hält. Ein gutes Beispiel dafür ist die oben erwähnte ZDF-Dokumentation zur Vermögenssteuer.

Tomasky führt seine Kritik anhand folgenden Beispiels aus:

"Wir alle wissen von Trumps Plan, bis zu 20 Millionen Menschen abzuschieben. Alle Medien haben darüber geschrieben. Einige haben sogar sehr gut darüber berichtet. Dieser Artikel von Philip Bump in der Washington Post aus dem Mai war hervorragend. Der größte Artikel der Times sieht aus wie dieser von Juli. Aber der mit Abstand beste Artikel zu diesem Thema? Er stammt von dem Strafrechtsjournalisten Radley Balko auf seinem Substack, ebenfalls im Mai. Er muss 10.000 Wörter lang gewesen sein, vielleicht auch mehr, und er war absolut erschütternd - die Details über die Größe der Armee, die benötigt würde, um die Menschen zusammenzutreiben, die Anzahl der beteiligten Busse und Flugzeuge, die Größe der Lager, die gebaut werden müssten, und vieles mehr."

Sein Fazit:

"Keines unserer großen Medien kann mit einer Berichterstattung aufwarten, die dem Aufwand entspricht, den dieser eine Substacker (...) zu diesem Thema betrieben hat. Warum eigentlich?"

Schließlich handle es sich hier um "die folgenreichste Maßnahme, die ein Präsidentschaftskandidat in der jüngeren Geschichte des Landes vorgeschlagen hat".

Unser Trump (mit scheinbar rationalem Antlitz)

Angesichts dessen, dass die US-Journalisten noch drei Wochen Zeit haben zu lernen, wie man über Trump berichtet, ist es tröstlich, dass wir, also die deutschen Journalisten, noch ein bisschen länger darüber nachdenken können, wie wir mit dem Kanzlerkandidaten der CDU/CSU umgehen.

Bei der Caren-Miosga-Sendung mit Friedrich Merz am vergangenen Sonntag ist den Kollegen Mario Sixtus und Gilda Sahebi jedenfalls besonders die Trumphaftigkeit des Gastes aufgefallen. Sixtus dazu in einem kurzen Thread:

"Miosga konfrontiert Merz damit, dass junge Frauen sein Weltbild für gestrig halten — und ganz nach Trump-Lehrbuch erfindet er daraufhin erstmal die Behauptung, 90% der Frauen trauten sich nachts nicht aus dem Haus, um dann bei 'Ausländerkriminalität' zu landen. Caren Miosga versagt hier leider total."

Weil sie eben nicht nachfragt, wie Merz auf seine vogelwilde Prozentangabe kommt. Sahebi, die selbst schon Gast in Miosgas Sendung war, schreibt dazu:

"Man sollte sich nicht täuschen lassen: Friedrich Merz mag nicht ganz so 'demented' erscheinen wie Donald Trump. Die Strategie ist allerdings exakt dieselbe. Friedrich Merz tut dies nur mit scheinbar rationalem Antlitz und benutzt vermeintlich sachlichere Wörter. Er ist allerdings genauso von Emotionen getrieben wie Trump, absolut unberechenbar und legt es auf die Spaltung der Menschen an. Sein Frauenbild ist nebenbei auch dasselbe wie das von Donald Trump. Das wird ein zermürbendes Wahljahr."

Wobei man theoretisch natürlich noch die Hoffnung haben kann, dass Medien dafür sorgen, dass der Wahlkampf nicht zermürbend wird.

Bewegt sich das unbewegliche Bayern?

Auf der Medienseite der Süddeutschen Zeitung stehen heute zwei Beiträge, die auf völlig unterschiedliche Gundsatzaspekte der Debatte um die Öffentlich-Rechtlichen auf anregende Weise eingehen:

Nachdem Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda reichlich Rambazamba in die Debatte um den Reformstaatsvertrag und die Rundfunkbeitragserhöhung gebracht hat (Altpapier von Montag), führt Claudia Tieschky nun ein Interview mit einem anderen Hamburger Medienpolitik-Fachmann, nämlich Wolfgang Schulz, dem Direktor des Leibniz-Instituts für Medienforschung.

Brosdas Position fasst Tieschky in einer Frage so zusammen:

"(Er) hat gerade mögliche Streichungen von 3sat oder Informationsprogrammen kritisiert, mit denen die Sender eventuell Sparziele erfüllen würden – und er hat die Verabschiedung eines neuen Rundfunkbeitrags zur Bedingung gemacht für die Zustimmung zum Reformstaatsvertrag. Verkürzt gesagt: Kein neues Geld, kein neues Gesetz. Wie finden Sie das?"

Verkürzt gesagt: gut. Ausführlich sagt Schulz dazu unter anderem (und mit besonderem Blick auf das Bundesland, in dem die SZ ihren Sitz hat):

"Ich betrachte diese angekündigte Blockade aus Hamburg als den Versuch, die Diskussion noch mal zu öffnen – möglicherweise will man Länder wie Bayern, die offenbar sehr unbeweglich in der Beitragsfrage sind, dazu veranlassen, noch mal in eine Diskussion einzusteigen."

Stefan Fischer lobt derweil das HR-Projekt "Weil Hessen mehr verbindet", das "knapp 40 Hessinnen und Hessen" für eine zweitägige Diskussion zusammen gebracht hat. Über den Film über dieses Projekt unter dem Titel "Was bewegt euch, Hessen?" schreibt Fischer:

"Er ist ein Kondensat des zweitägigen Treffens und das, was man als Zuschauer davon zu sehen bekommt (…) Die Inhalte der Argumente sind zweitrangig. Es geht darum, zu zeigen, dass es dem HR gelungen ist, einen Raum zu schaffen, in dem Konservative und Liberale, Umweltschützer und Unternehmer, Behinderte und Nichtbehinderte, Hausbesitzer und Bewohner von Flüchtlingsunterkünften miteinander reden. Und einander nicht nur ausreden lassen, so Nina Pater, im HR verantwortlich für medienübergreifenden Journalismus und Leiterin des Projekts 'Weil Hessen mehr verbindet', sondern einander auch zuhören."

Was unter anderem für das Projekt spreche: Dass "der politische und gesellschaftliche Streit" dort nicht "als Show inszeniert wird". Vielmehr gelinge dem HR "eine Verständigung unter Nicht-Gleichgesinnten, die (…) merken, dass sie hier nicht vorgeführt oder gegeneinander ausgespielt werden sollen, dass sie nicht eine Rolle zugewiesen bekommen. Sondern eine Stimme haben, die sich im Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wiederfindet".


Altpapierkorb (Medienhäuser erwirken Ordnungsgeld gegen AfD Thüringen, Honorarerhöhung für Hörspielautoren, ein Video über die Menschenzerstörung durch "Bild", die Folgekosten klischeehafter Afrika-Berichterstattung)

+++ Dass das Landgericht Erfurt "ein Ordnungsgeld in Höhe von 5000 Euro" gegen den AfD-Landesverband Thüringen festgesetzt hat, berichtet die "Welt". Beantragt hatten das Ordnungsgeld "Bild", "Spiegel", das Redaktionsnetzwerk Deutschland und die taz. Hintergrund: die Weigerung der AfD, den klagenden Medien Zugang zur Wahlabend-Veranstaltung der Partei zu gewähren (siehe Altpapier).

+++ Mehr Geld bzw. eine "deutlich höhere Erstvergütung" gibt es künftig für Hörspiel-Autorinnen und -Autoren von ARD und Deutschlandradio. Die FAZ dazu: "Damit reagieren die Sender auf ein Ansinnen, das die Hörspielautoren seit geraumer Zeit umtrieb. Sie hatten sich im Juni 2021 mit einem offenen Brief an die öffentlich-rechtlichen Sender gewendet und moniert, dass sie angesichts digitaler Dauerverwertung ihrer Werke in der Audiothek zu kurz kommen."

+++ Mats Schönauer hat für "Übermedien" ein Video zusammengestellt, dass "eindrückliche Beispiele" von "Bild"-Zeitungs-Opfern aus verschiedenen Jahrzehnten versammelt. Sie schildern hier, "wie die Zeitung und ihre Macher ihr Leid vergrößert und Profit aus den schlimmsten Momenten ihres Lebens geschlagen haben".

+++ Die Qualität der hiesigen Afrika-Berichterstattung ist gelegentlich Thema im Altpapier, siehe etwa diesen Jahresrückblick oder diese Kolumne. Table Media beschreibt nun, welche finanziellen Folgen klischeehafte Berichterstattung für afrikanische Länder hat: "(Sie) zahlen eine 'Vorurteilsprämie' von mehreren Milliarden von Dollar für den Schuldendienst. Grund hierfür sind stereotype Darstellungen in der weltweiten Berichterstattung über den Kontinent. Die afrikanischen Staaten verlieren dadurch jährlich bis zu 4,2 Milliarden Dollar. Dies ist das Ergebnis einer neuen Studie der NGO Africa No Filter und des Beratungsunternehmens Africa Practice. Wie kommen die Studienautoren auf diese Zahlen? "Um die wirtschaftlichen Kosten einer klischeehaften Berichterstattung abzuschätzen, berechneten die Wissenschaftler die möglichen Einsparungen bei den Kosten des Schuldendienstes für Nigeria, Kenia, Ägypten und Südafrika. Die Studie quantifiziert die Verzerrungen in den Medien, indem sie die afrikanischen Länder mit Ländern mit ähnlichen Risikoprofilen vergleicht. Anschließend bewerten die Autoren der Studie, wie diese Verzerrungen mit den Renditen von Staatsanleihen korrelieren."

Das Altpapier am Donnerstag schreibt Klaus Raab.

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