Kolumne: Das Altpapier am 15. Oktober 2024 Der durch die Medien lebte wie sie durch ihn
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15. Oktober 2024, 10:25 Uhr
Lutz Hachmeister wurde beerdigt. Der Chef der Bundesnetzagentur erklärt, wozu "Trusted Flagger" gut sein sollen. Ein homosexueller syrisch-deutscher Deutsche Welle-Reporter wurde gewaltsam attackiert. Außerdem: Tiktok braucht zwar gut 260 Videos, um süchtig zu machen, kriegt das aber in 35 Minuten hin. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Trauerfeier für Lutz Hachmeister
Er war der erste deutsche Medienjournalist im heutigen Sinne und (mindestens) einer der wichtigsten, sowie einer der wichtigsten Medienwissenschaftler und überhaupt Intellektuellen. Im August ist Lutz Hachmeister überraschend mit 64 Jahren gestorben (Altpapier), gestern wurde er auf dem Kölner Melaten-Friedhof beigesetzt.
Bei der Trauerfeier, geplant von Ex-"Medienkorrespondenz"-Chefredakteur Dieter Anschlag und moderiert von Henrik Schmitz, der dann auch zu seiner Gitarre "Where do you go to my lovely" sang, wegen Hachmeisters Faible für Juan-les-Pins (und der einst, als diese Kolumne bei evangelisch.de erschienen war, auch Altpapiere geschrieben hatte), sprach Sabine Sasse als erste Hauptrednerin. Sie erinnerte, unter anderem, daran, wie Hachmeister in den späten 1980ern beim "Tagesspiegel" die erste Zeitungs-Medienseite machte ("Vorher hieß das maximal Fernsehseite"). Und wie damit das "Neuland" der Kritik an Rundfunkanstalten und ihrer Programmpolitik betreten wurde.
Torsten Körner, inzwischen vor allem Dokumentarfilme-Macher, erinnerte als zweiter Redner, unter vielem anderem, an den Essay "Der Walkman ist eine akustische Bombe, die Augen zu Kameras macht und Dich zum Regisseur", der 1984 in einer Münsteraner Studentenzeitschrift erschien und Lutz Hachmeisters fabelhafte Disruptions-Antizipation schon zeigte. Er war "ein Mediaholic, der durch die Medien lebte wie diese durch ihn", sagte Körner unter anderem, und: "In seinem Kopf gab sich das ganze 20. Jahrhundert die Hand". Was sich aber auf die klassische Kulturgeschichte bezieht. Was Medien betrifft, war Lutz Hachmeister früher im 21. Jahrhundert als die meisten anderen Deutschen. Zumal dieser Text, also Körners, sollte bitte noch irgendwo veröffentlicht werden.
Lutz Hachmeisters lustvoll-kenntnisreiches Zusammendenken von Medieninhalten und -formen, von Medienkonzernen und Infrastrukturen wird fehlen bzw fehlt bereits. Sein letztes Buch, "Hitlers Interviews. Der Diktator und die Journalisten", wird am 7. November erscheinen. Das war hier schon zu lesen.
Neues von den "Trusted Flaggern"
Damit zur deutschen Medienpolitik, in der sich das 20. Jahrhundert noch immer häufig Hände schüttelt und in der weiterhin häufig Neuland betreten wird (wenn es nicht um Auftrag und Beitrag für die Rundfunkanstalten geht). Was einerseits an immer neuen Disruptionen liegt. Der Walkman, der übrigens auf Magnetband gespeicherte Musik abspielte, war ja nur ein Vorbote. Hätten Sie gedacht, dass Tiktok zwar "mehr als 260 Videos" braucht, um junge Menschen süchtig zu machen, das aber, wegen der Kürze der Videos, "bereits nach 35 Minuten" schafft? Da zitiert netzpolitik.org aus internen Tiktok-Untersuchungen, die in den USA irrtümlich öffentlich wurden.
Dass Medienpolitik so oft Neuland betritt, liegt außerdem daran, dass immer neue Behörden sich anschicken, in langjährigen Prozessen verbesswässerte Gesetze dann auch zur Anwendung zu bringen. Damit zur Trusted-Flagger-Debatte (Altpapier vom vorigen Dienstag) rund um die Bundesnetzagentur, in der sich schnell schöne Meinungsvielfalt zeigte.
Die Agentur sei "die nette neue Zensurbehörde" und habe, "fast unbemerkt ... damit begonnen, die Meinungsfreiheit zu regulieren", schrieb Feuilletonleiter Andreas Rosenfelder in der "Welt" (Abo). So was sei "ein unnötiger Aufschrei gegen eine normale rechtsstaatliche Aufgabe", schrieb Steffen Grimberg in der "taz" zurück. "Medien gehen rechter Kampagne gegen die Bundesnetzagentur auf den Leim" legte Jana Ballweber im KNA-Mediendienst [den Grimberg leitet und für den auch ich schreibe] nach. Der "Spiegel" haute in dieselbe Kerbe. Zumindest mit dem Punkt, dass viele Medien das Digitale-Dienste-Gesetz, obwohl es nach jahrelangen EU-europäischen Diskussionen ja in Kraft trat, weiterhin nicht auf dem Schirm haben, hat Ballweber recht:
"Diese Vorgänge zeugen auf der einen Seite von einem fundamentalen Mangel an Fachjournalismus in Brüssel, der über die oftmals weitreichende EU-Gesetzgebung berichtet. Auf der anderen Seite offenbart sich hier, dass Digitalthemen in Redaktionen immer noch stiefmütterlich behandelt werden."
Allerdings, die Erzählung, dass Kritik an von Grünen betriebener Regierungspolitik immer bloß auf "rechte" Kampagnen deute, ist inzwischen überstrapaziert. Die Bundesnetzagentur, die sich zu vielen wichtigen Infrastrukturaufgaben auch noch die im Prinzip prestigereiche, praktisch schwierige Umsetzung des DSA aufgehalst hat (was sehr wohl damit zusammenhängen dürfte, dass ihr Chef Klaus Müller ein Parteifreund und Bundes-Landsmann des Vizekanzlers Habeck ist), hat einfach lausig kommuniziert. Wer einen doofen, selbst in den Nischen, die sich mit dem DSA befassten, ungebräuchlichen Anglizismus wie "Trusted Flagger" in die Welt posaunt, müsste allerwenigstens dazu die Strategie in sinnvolle Worte fassen. Und am besten bei derselben Gelegenheit erklären, wieviele solche "Flagger" es denn geben wird. Selbst die "SZ", die den Grünen nicht ungeheuer fern steht, schrieb:
"Selbst grüne Verteidiger der Meldestellen-Regel, sagen hinter vorgehaltener Hand, Müller hätte sich besser präziser ausgedrückt, also 'Fake News' und 'Hass' nicht pauschal als löschpflichtig bezeichnen sollen. Und dass Müller die Doppelrolle ausführt als Behördenchef, der an die Weisungen des Grünen-geführten Bundeswirtschaftsministeriums gebunden ist, und gleichzeitig nationaler Digitale-Dienste-Koordinator ist, der qua EU-Regel komplett unabhängig sein soll, halten auch Grüne für mindestens unglücklich."
Was hier beileibe nicht die einzige Doppelrolle ist. Die ersten und bislang einzigen zertifizierten Flagger, die meldestelle-respect.de, zählt zu den zahlreichen Vereinen, die allerhand staatliche Förderung erhalten: vom (grün geführten) Bundesfamilienministerium und der (grün geführten) Baden-Württemberger Landesregierung. Vielleicht schafft es einen Ausgleich, dass die CSU-geführte bayerische Regierung die Stelle überdies fördert. Für Staatsferne spricht es nicht. Immerhin, die "Welt" und Klaus Müller haben sich wieder vertragen und ein sogar sinnvolles Gespräch (Abo) geführt, in dem es dem Agentur-Präsidenten nun auch in Worte zu kleiden gelingt, was die Flagger neu tun sollen:
"Für Privatpersonen war es oft schwierig, mit Plattformen in Kontakt zu treten, wenn sie etwas gelöscht haben wollten oder wenn sie meinten, dass etwas zu Unrecht gelöscht wurde. Die Trusted Flagger sollen hier eine Brückenfunktion übernehmen"
Den vielfach kritisierten Pressemitteilungs-Satz "Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden" verbessert Müller zu "Illegale Inhalte, illegale Hassrede, illegale Fake News können ... ". Und als die "Welt" dann ein paar jüngere Fehlschläge der Bundesregierung aufzählt, neben dem gerichtlich gestoppten "Compact"-Verbot und allerhand gescheiterte Klagen von Regierungsstellen (vor allem von Ferda Atamans Antidiskriminierungsstelle) auch Ideen des FDP-geführten Bundesforschungsministeriums, "politisch unliebsamen Professoren Fördergelder (zu) entziehen", und dann fragt: "Können Sie nachvollziehen, wenn Ihr Haus als 'neue Zensurbehörde' bezeichnet wird?", antwortet Müller:
"Wenn Sie mich gefragt hätten, ob ich Sorgen nachvollziehen könne, hätte ich 'Ja' gesagt. So wie Sie die Fragen gestellt haben, beantworte ich sie glasklar mit 'Nein'. Wir sind eine Behörde, wir halten uns an das Recht."
Zwischenbilanz: Der DSA verdient gespannten Respekt, weil da erstmals überhaupt ein internationales Gesetz die milliardenschweren Datenkraken-Konzerne und ihre sog. sozialen Echtzeit-Medien zu regulieren versucht, also das ehemalige Neuland betritt, das die laufend weiterwachsenden Konzerne seit Jahren weitgehend regellos kolonialisieren. Die deutsche Umsetzung verdient vor allem Skepsis – auch weil die aktuelle Bundesregierung handwerklich noch schlechtere Gesetze macht als ihre Vorgängerregierung.
Rapper-Security gegen DW-Reporter
Gewalt gegen Journalisten gibt es auch in Deutschland alles andere als selten. Sie kommt häufig von rechtsextremer Seite (z.B.). Immer öfter kommt sie allerdings von arabischstämmigen Menschen, nicht zuletzt bei den zahlreichen propalästinensischen, antiisraelischen Demonstrationen.
Eine krasse Zuspitzung stellt der Angriff auf den Deutsche Welle-Reporter Adonis Alkhaled nach einem Interview mit dem syrischen Rapper Al Shami dar, offenkundig durch die Security des Musikers begangen. Der Reporter erlitt Verletzungen im Gesicht, mehrere Blutergüsse.
"Unter anderem soll Alkhaled als 'Schwuchtel' beschimpft und mehrfach abfällige Bemerkungen über die Deutsche Welle gemacht worden sein",
schreibt dw.com in einem (durch sog. KI?) "aus dem Englischen adaptierten" Text, und spricht von einem "Angriff auf die Pressefreiheit". "Auf die Demokratie", würde die Journalistengewerkschaft DJV sogar sagen. Allerdings fehlen jeweils Details, die die "SZ"-Medienseite (Abo) nennt. Nicht nur, dass die "abfälligen Bemerkungen" der Sicherheitsleute damit zu tun gehabt haben dürften, dass das arabischsprachige DW-Programm "regelmäßig auch die israelische Sicht zu den Konflikten in der Region darstellt". Sondern auch:
"Bei der Deutschen Welle vermutet man ein homophobes Motiv für die Gewalt. Alkhaled hat sich als homosexuell geoutet. ... Das Interview hatte Alkhaled auf Arabisch geführt: Der DW-Reporter ist 2015 aus Syrien geflüchtet, ist heute deutscher und syrischer Staatsbürger, der Rapper stammt ebenfalls aus Syrien. Der Musiker ist vorrangig unter Landsleuten und in seiner Heimatregion populär, auf Instagram folgen Al Shami um die vier Millionen Fans."
Wenn drumrum der übliche Lieber-nicht-erwähnen-was-den-Falschen-nutzen-könnte-Modus herrscht, verpuffen steinmeierliche Floskeln vom Angriff auf Pressefreiheit, Demokratie usw. leider besonders schnell.
Licht und Schatten im ORF
Nanu, gar keine Reformstaatsvertrags-Diskussion heute in dieser Kolumne? Zuletzt ging's gestern hier drum. Tagesaktuelles folgt im Korb.
In den nicht wenigen Beiträgen, die sich für den Erhalt von 3sat stark machen, weil dort ja immer noch mehr Kultur als anderswo im Öffentlich-Rechtlichen läuft, taucht öfter Lob für die "ZiB2" des österreichischen ORF als "das beste deutschsprachige Nachrichtenmagazin" auf. Dass Heribert Prantl das in der "SZ" schrieb, freut mich. Schon weil ich das kürzlich genau so für den KNA-Mediendienst /Abo formuliert hatte.
Wie hoch her – im publizistisch positiven Sinne – es um die "Zeit im Bild", so der volle Name geht, zeigen schon die regelmäßigen Berichte des "Standard" über einzelne Sendungen, gerade etwa über ein "Streitgespräch zwischen dem israelischen Armeesprecher und dem palästinensischen Botschafter in Wien" im Fernsehstudio. Würden deutsche Nachrichtenmedien in Erwägung ziehen, sich mit den austauschbaren Inhalten des "heute-journals" oder der "Tagesthemen" regelmäßig zu befassen?
Allerdings, golden glänzt auch in der Bundesrepublik Österreich nicht alles. Nicht nur, weil die Parteien eher noch mehr und direkter in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hineinwirken als hierzulande. Das zeigt der laufende arbeitsrechtliche Prozess der gekündigten Wirtschaftsredakteurin Sonja Sagmeister. "Der ORF erklärt die Kündigung mit nichtgenehmigten Nebentätigkeiten Sagmeisters bei einem karitativen Projekt in Afrika", schreibt der "Standard".
Sagmeister formuliert das anders. Sie spricht davon, "ein bestelltes Interview für die 'Zeit im Bild' abgelehnt und dem Wirtschaftsminister auch kritische Fragen zur Rekordinflation gestellt" zu haben, was "die Vorgesetzte" in der Anstalt "und die Pressesprecherin des Ministers" aber eben nicht bestellt hatten. Es lohnt, die Podcast-Folge "In der ORF-Todeszone" des Internationalen Institutes für Medien mit Sagmeister zu hören und die Sache, in der offenbar noch kein Urteil gefallen ist, weiter zu verfolgen.
Altpapierkorb (Reformstaatsvertrags-News, "Moraljournalismus", Stefan Raab, "Tagesschau"-Streik)
+++ Das klingt ja fast nach einer Breaking-News zur Öffentlich-Rechtlichen-Reform: "Brosdas Junktim scheint aufzugehen", meldet die gedruckte "FAZ"-Medienseite. Das bezieht sich auf die Aussage "Entweder kommen die Reformen und eine Entscheidung über den Beitrag oder es kommt gar nichts" des Hamburger Kultur- und Mediensenators (AP gestern). Online lautet die Überschrift "Einigung über Rundfunkbeitrag angeblich möglich". Im Artikel schürt die Frage "Werden die Ministerpräsidenten den Reformentwurf Ende des Monats dann überhaupt beraten und etwas beschließen?" noch weitere Spannung ... +++ Dann hat sich die "FAZ" noch fünf von gut 15.000 eingereichten Stellungnahmen zu den Reformplänen angeschaut, nämlich die der betroffenen Anstalten sowie der Verleger- und Privatsender-Verbände ("Wie man hört, haben einige Verbände und Medien bis Freitagabend an den Formulierungen gefeilt"). +++
+++ Außerdem keilt Michael Hanfeld unter der Überschrift "Prawda" gegen die "Berliner Zeitung". Da sei "eine Diskursverschiebung und Faktenzersetzung im Gange, die sich gewaschen hat. Das konnte man gerade wieder sehen bei der dort abgedruckten Abrechnung des ZDF-Journalisten Dirk Jacobs mit dem 'Moraljournalismus'". +++ Die dann hier natürlich verlinkt gehört. +++
+++ RTL setzt die Show namens "Du gewinnst hier mindestens 90 Millionen Euro Umsatz", oder so ähnlich, mit Stefan Raab fort. Der Fernsehveteran habe dem kostenpflichtigen Streamingdienst des Privatsenders schon eine "erkennbar sechsstellige Zahl an neuen Abonnenten" beschert, meldet dwdl.de. Weshalb RTL nun sogar den alten ProSiebenSat.1-Witz, alle Mitbewerber auf die eigene Plattform Joyn einzuladen, aufnimmt, aber umkehrt und Pro Sieben auf RTL+ einlädt (fügt dwdl.de morgenaktuell hinzu). +++
+++ Weitere Warnstreiks beim NDR trafen sogar das ARD-"Flaggschiff" "Tagesschau" meldet dann noch der "Tagesspiegel" via dpa auf seiner (hier ganz oben schon mal erwähnten) Fernseh-Seite. +++
Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.