Kolumne: Das Altpapier am 10. Oktober 2024 Aggressive Störkommunikation
Hauptinhalt
10. Oktober 2024, 13:16 Uhr
Zu viele Menschen wissen nicht, dass es seit Jahrzehnten einen überwältigenden Konsens in der Klimaforschung über den von Menschen verursachten Klimawandel gibt. Für dieses Nichtwissen sind nicht zuletzt die Medien verantwortlich. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Wenn Energiewende-Gegner aufs Schachbrett kacken
- Wenn man im Alter nicht klüger wird
- Wenn der tagesaktuellen politischen Berichterstattung die Schärfe fehlt
- Wenn Christdemokraten von gestern und vorgestern einen Offenen Brief schreiben
- "Die Sprache der AfD ist ohne die Sprache der 'Bild'-'Zeitung nicht vorstellbar"
- Der blinde Fleck in der Debatte um 3sat
- Altpapierkorb (die Genese der Recherchen über die Farm eines sächsischen AfD-Politikers in Belarus, Berichterstattung zu Kühnert-Rücktritt, Musik in Polit-Serien)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Wenn Energiewende-Gegner aufs Schachbrett kacken
"Wir treten in eine kritische und unvorhersehbare neue Phase der Klimakrise ein", heißt es in einem gerade von Klimaforschern vorgelegten Bericht unter der Überschrift "The 2024 state of the climate report: Perilous times on planet Earth". Er hat durch Milton nun noch weitere Aktualität gewonnen. Dass man beim Thema Klimakatastrophe immer auch über die Medien reden muss, zeigt ein Interview mit dem "Climate Report"-Mitautor Stefan Rahmstorf in der Deutschlandfunk-Sendung "Umwelt und Verbraucher".
Journalisten, so Rahmstorf, hätten "über Jahrzehnte eine Scheindebatte von sogenannten Klimaskeptikern immer wieder weiter getragen", ohne "klar zu sagen", dass diese "Skeptiker" von Lobbyinteressen geleitet seien und diese Debatte keineswegs "innerhalb der seriösen Klimaforschung" ablaufe. Rahmstorf weiter:
"(Es) zeigen ja auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen, dass immer wieder in sehr starkem Maße Leute mit Falschbehauptungen zur Wissenschaft zu Wort kommen und quasi gleichberechtigt mit ernsthaften wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber gestellt werden, und das ist der Grund, auch nach Umfragen belegt wiederum, die Menschen weitestgehend gar nicht wissen, dass es seit Jahrzehnten einen überwältigenden Konsens in der Klimaforschung über den von Menschen verursachten Klimawandel gibt."
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung geht in einem Beitrag für klimareporter.de auf andere Aspekte der Gegenaufklärung ein. Die fossile Industrie, schreibt sie, wende "dieselben Methoden" an wie einst "die Tabaklobby",
"allerdings mit einem erweiterten Werkzeugkasten. Eine Mehrheit der Bevölkerung befürwortet nämlich Klimaschutz grundsätzlich. Deswegen werden die Menschen nun bei konkreten politischen Maßnahmen durch aggressive Störkommunikation verunsichert. Ganz gleich ob Verkehrs-, Energie- oder Wärmewende – immer ist das jeweilige Projekt 'zu unausgereift', 'zu teuer', 'zu ideologisch', 'zu wenig marktfähig', 'zu elitär', zu dies, zu das".
Die "fossilen Akteure" seien
"an einem konstruktiven Dialog (…) nicht interessiert. Jede Debatte ist daher so sinnlos wie der Versuch, mit einer Taube Schach zu spielen: Sie wird bloß alle Figuren (Argumente) umwerfen, aufs Brett (die Diskussion) kacken und herumstolzieren, als hätte sie gewonnen. Meister dieser Art von Taubenschach ist Wladimir Putin, dessen Macht als Präsident vor allem auf Staatseinnahmen aus den gewaltigen fossilen Ressourcen Russlands basiert. Als stärkster Gegner einer globalen Klimapolitik nutzt er perfide Methoden, die vielfältigen Kräfte der offenen Gesellschaft durch Propaganda und Fake News gegeneinander auszuspielen".
Kemferts Fazit:
"Es geht schon lange nicht mehr um echte Klima- oder Energiewende-Kommunikation. Es geht um Fake News, Politik und Macht. Es geht um Demokratie. Es geht um Frieden. Wir brauchen endlich Strategien, um nicht zu scheitern."
Wenn man im Alter nicht klüger wird
Zur Spekulation, dass der Cem Özdemir von 2007 den Cem Özedemir von 2024 möglicherweise heftig kritisiert hätte, regt ein Text von Fikri Anıl Altıntaş für den "Freitag" an. Altıntaş nimmt hier, nachdem er mit einem Zitat des Grünen-Politikers von 2007 eingestiegen ist, einen Ende September in der FAZ von ihm erschienenen Gastbeitrag auseinander:
"(Hier) schreibt (…) Özdemir (…), dass seine Tochter in Berlin 'unangenehm begafft und sexualisiert' wurde, von Männern mit Migrationshintergrund. Er spielt das Lied der einfachen Akkorde: Wann immer Schuldige für eine Öffentlichkeit gesucht werden, die sie in Gefahr bringen, und mit ihnen Frauen, die sich berechtigt Sorgen um ihr Wohlbefinden machen, singt er den Chorus über die migrantischen Männer, die nicht anders können, als Frauen zu belästigen."
Altıntaş wendet sich später direkt an den Politiker:
"Wenn Ihnen Gewalt gegen Frauen ein ernstes Anliegen wäre, bräuchten Sie Ihre Tochter nicht, um die politische Dringlichkeit zu erkennen: Dass wir in einem Land leben, in dem jeden zweiten Tag Femizide passieren, Frauenhäuser ausgelastet und unterfinanziert sind, Männergewalt an der Tagesordnung steht, die alle betrifft. Ihre Argumentation hat nicht den Kampf gegen patriarchale Strukturen im Blick, sondern richtet sich nach dem Fähnchen im Wind. Dieser ist längst durchzogen von einer Kultur der Unwissenschaftlichkeit und der rassistischen Kulturalisierung."
Wenn der tagesaktuellen politischen Berichterstattung die Schärfe fehlt
Der Verein zur Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises für Fernsehjournalismus hat heute seine diesjährigen Preisträger bekannt gegeben. Da es hier am Mittwoch an dieser Stelle um Unterhaltungsformate ging, die journalistisch Wertvolles in Bereichen leisten, in denen der Politikjournalismus zwar nicht komplett, aber großflächig versagt, konzentrieren wir uns auf eine Auszeichnung für ein Format aus diesem Bereich. Drei Preise gibt es in diesem Jahr ingesamt, wobei Fabian Köster und Lutz van der Horst einen Sonderpreis für ihre als "heute-show spezial" ausgestrahlte Produktion "Zwei Besserwessis im Osten" erhalten.
Wir hatten dieser Sendung Anfang September hier einen Absatz gewidmet, weil in ihr "das beste Interview" zur Landtagswahl in Sachsen zu sehen gewesen war. Fabian Köster hatte den amtierenden sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer um Einschätzungen zu vermeintlichen Wahlplakaten der BSW und AfD gegeben. Es handelte sich dabei allerdings um Plakate, die das "Heute Show" Team designt hatte. Das Prinzip: AfD- und BSW-Optik mit tatsächlichen Äußerungen Kretschmers kombinieren. Kretschmer schnallte das erst spät, und als er es schnallte, war er natürlich not amused.
Die Friedrichs-Preis-Jury schreibt über die Sendung:
"Den beiden Reportern gelingt es, mit ihrer Sendung aus der Endphase des Wahlkampfs in Sachsen und Thüringen die Absurditäten und Erkenntnisse aus modernen Wahlkämpfen abzubilden, gut recherchiert und stark präsentiert. Mit einer Schärfe, die der tagesaktuellen politischen Berichterstattung oft fehlt, bringen Köster und van der Horst das politische Spitzenpersonal zu Antworten, die charakteristische Hinweise darauf geben, wo die Politiker Forderungen und Parolen des Wahlkampfes nicht zu Ende gedacht haben. Die beiden Autoren zeigen so exemplarisch, wie Humor und Satire benutzt werden können, um Politik und politische Rituale zu hinterfragen."
Die Jurybegründung sollte Anlass sein für weitere Diskussionen. Die maßgebliche Formulierung lautet hier "Mit einer Schärfe, die der tagesaktuellen politischen Berichterstattung oft fehlt". Warum fehlt denn die Schärfe dort? Weil es in der Unterhaltung mehr Freiheiten gibt? Wenn ja: Warum ist das so? Und wenn hier hervorgehoben wird, "wie Humor und Satire benutzt werden (…), um Politik und politische Rituale zu hinterfragen", fragt man sich natürlich: Warum gelingt das jenseits von Humor und Satire denn nicht auch? Oder zumindest häufiger.
Wenn Christdemokraten von gestern und vorgestern einen Offenen Brief schreiben
Nun aber rein in die Nach-Landtagswahlzeit bzw. die Prä-Regierungsbildungsphase. Viel lesen konnte man am Mittwoch über einen Offenen Brief, in dem sächsische Christdemokraten Gespräche mit der AfD fordern. Wer genau sind die Fordernden? "Sechs frühere CDU-Politiker" (Zeit Online), darunter "zwei ehemalige Minister" ("Spiegel"). Von "einigen nicht mehr amtierenden CDU-Mitgliedern" ist beim MDR die Rede, von "sechs ehemaligen Amts- und Mandatsträgern der CDU aus dem Raum Leipzig" bei der "Freien Presse".
Die präziseste Beschreibung der Unterzeichner, die zumindest ich gefunden habe, steht aber in einem Mastodon-Post des früheren Zeitungsjournalisten Markus Kater, der heute Rentner ist:
"Die sechs hatten mal vom Steuerzahler finanzierte Posten, als Landrat oder Landtagsabgeordnete/r. Nur, das ist - bis auf einen - zehn, 20 oder gar 30 Jahre her; der sechste im Bunde schied 2018 aus der Politik aus. Wo also - bitte schön - ist die Relevanz einer solchen Nachricht?"
Hinzu kommt: Wenn unter anderem "zwei ehemalige Minister", die ja nicht allzu schlecht vernetzt sein dürften, vor der Veröffentlichung ihres Offenen Briefs gerade einmal sechs Unterschriften (inclusive ihrer eigenen) zusammenkratzen konnten, spricht das eher nicht für die Relevanz ihres Anliegens.
"Die Sprache der AfD ist ohne die Sprache der 'Bild'-'Zeitung nicht vorstellbar"
Georg Seeßlen beschäftigt sich in der taz mit dem schleichenden Ende des Zeitalters der gedruckten Zeitungsausgaben:
"Machen wir uns nichts vor. Mit dem Verschwinden der gedruckten Zeitung wandern nicht einfach nur die Nachrichten von einem Medium ins andere (…) Es verschwindet auch eine Art, mit Nachrichten öffentlich umzugehen, und es verschwindet eine Art, wie Nachrichten im öffentlichen Raum unterwegs sind."
Ein Grund, nostalgisch zu werden, ist das aber nicht, denn:
"Lange bevor es den rechtspopulistischen und rechtsextremen Bewegungen und Parteien gelang, in die Vorhöfe der Macht vorzudringen, hatten die Zeitungen – oder ein Typus von Zeitung immerhin, so zwischen Bild und The Sun – verstanden, ein Drama der Konkurrenz zwischen den liberalen 'Eliten' und der 'Stimme des Volkes' zu entwickeln. Und auch da hatten Zeitungen als Schöpfer von Sprache und Begriffen gewirkt. Die Sprache der AfD, nur als Beispiel, ist ohne die Sprache der Bild-Zeitung nicht vorstellbar."
Steffen Grimberg schrieb vor rund einem Vierteljahr, ebenfalls in der taz:
"Zum Glück hat Springer heute längst nicht mehr so viel Meinungsmacht wie es 1968 und in den Jahrzehnten danach der Fall war."
Das ist arithmetisch betrachtet korrekt, weil der Meinungsmachtkuchen heute breiter verteilt ist. Und dennoch kann man Seeßlens Äußerung, dass "die Sprache der AfD ohne die Sprache der Bild-Zeitung nicht vorstellbar" sei, als Teilwiderlegung von Grimbergs These sehen: Zumindest die "Bild"-Zeitung war in der jüngeren Vergangenheit gefährlicher als um 1968 herum.
Seeßlens Fazit:
"Es geht um die Erkenntnis, dass wir es womöglich nicht bloß mit einem Medienwechsel (wie von einer VHS-Kassette zum Streaming) zu tun haben (was kulturell auch nicht unerheblich ist), sondern um einen akzelerierten Strukturwandel der Nachricht in Demokratie und Kapitalismus. Die Zeitungen sterben, der Demokratie geht es auch nicht besonders. Vielleicht hat das eine doch etwas mit dem anderen zu tun."
Der blinde Fleck in der Debatte um 3sat
Der Unterschied zwischen einer gedruckten Zeitung und ihrem digitalen Angebot besteht ja nicht zuletzt darin, dass man in Print vielleicht etwas liest, nach dem man vorher nicht gesucht hat - und von dem man vielleicht auch gar nicht wusste, dass es einen interessieren könnte.
Damit können wir dann direkt zur Diskussion über 3sat (Altpapier, Altpapier) überleiten. Warum? Arno Franks aktuelle 3sat-Apologie für den "Spiegel" steht unter der Überschrift "Weil ich etwas erfahre, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es gern gewusst hätte." Das, so Frank, leiste 3sat bzw. das Magazin "Kulturzeit".
Was bei Frank ebensowenig vorkommt wie in bisher ungefähr allen Diskussionsbeiträgen zur Zukunft von 3sat: die Rolle, die das Programm für die Autoren und Produzierenden von Dokumentarfilmen spielt. Am vergangenen Wochenende hat immerhin die Duisburger Filmwoche diese Funktion betont:
"Die mögliche Verschmelzung (von arte und 3sat) stellt die Zukunft des Dokumentarfilms im Fernsehen infrage. 3sat ist ein langjähriger Kooperations- und Gesprächspartner der Duisburger Filmwoche, gestaltet das Rahmenprogramm des Festivals aktiv mit und ermöglicht die Produktion und Ausstrahlung von Dokumentarfilmen. Gemeinsam setzen wir uns für die Wahrung von Filmkultur und ästhetischen Standards ein, die in Zeiten der zunehmenden Verengung von Diskursen immer wichtiger werden (…) 3sat ist einer der wenigen Sender, der noch über eine eigenständige Dokumentarfilmredaktion verfügt (…) Sollte 3sat wegfallen oder mit ARTE verschmelzen, würde ein großer Teil des Resonanzraums für den Dokumentarfilm verloren gehen – in Produktion und Rezeption. Der Rückzug des Dokumentarfilms aus dem Fernsehen, den wir bereits seit Jahren mit Sorge beobachten, würde sich dadurch stark beschleunigen."
Untertrieben ist das nicht, weil dieses Genre in anderen Sendern praktisch nicht mehr stattfindet. Der Dokumentarfilm spielt auch bei Arte kaum noch eine Rolle (siehe eine Petition der AG Dok). Dort nehmen nämlich überformatierte journalistische Dokumentationen Überhand. Anderswo, etwa in der ARD-Mediathek, gehen Dokumentarfilme wegen schlechter Platzierung unter. Oder ihre Präsenz wird dadurch vorgetäuscht, dass auf Produktionen zum Beispiel das Etikett "ARD Dokumentarfilm" drauf gepappt wird, obwohl es sich gar nicht um Dokumentarfilme handelt.
Was mit der Zukunft von 3sat zum Beispiel konkret auf dem Spiel steht: die Nachwuchsförderreihe "Ab 18", in der unformatierte kürzere Dokumentarfilme gezeigt werden. Hier können sich Regisseure ausprobieren und einen Stil finden, und nicht zuletzt lässt sich mit diesen Filmen ein jüngeres Publikum an das Genre Dokumentarfilm heranführen.
Dass die diskutierten Programmabschaffungs- bzw. fusionsmaßnahmen sich finanziell erst einmal gar nicht auswirken, wie "Übermedien" neulich mit Blick auf den Entwurf eines KEF-Sondergutachtens feststellte, kann nun jeder nachlesen, weil das Gutachten jetzt vorliegt. Darüber berichten u.a. die FAZ und dwdl.de.
Altpapierkorb (die Genese der Recherchen über die Farm eines sächsischen AfD-Politikers in Belarus, Berichterstattung zu Kühnert-Rücktritt, Musik in Polit-Serien)
+++ Der Aufmacher der FAZ-Medienseite heute: Felix Ackermann und Michael Hanfeld rekapitulieren die Genese der Recherchen zu politischen Gefangenen in Belarus, die auf einer Farm eines sächsischen AfD-Politikers arbeiteten. Einen größeren Bogen zur Menschenrechtssituation insgesamt ("In Belarus sind zurzeit 1285 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Unter ihnen sind führende Journalisten") schlagen die Autoren auch.
+++ Hendrik Wieduwilt führt bei "Übermedien" aus, dass es doch mindestens leicht albern war, dass Medien die Nachricht von Kevin Kühnerts Rücktritt als Generalsekretär als "exklusiv" verkauften oder die Exklusivität ihrer Meldung zumindest insiniuierten. Denn: Kühnert hatte seinen Rücktritt bei Instagram bekannt gegeben.
+++ Mit der Musik in fiktionalen wie dokumentarischen Polit-Serien befasst sich Moritz Baumstieger in der SZ: "Der Däne mit dem Künstlernamen Halfdan E, der die Streicher für 'Borgen' arrangierte, ab und zu das Ticktackticktack einer echten Eieruhr für etwas Spannung hereinwehen ließ und mit Paukenschlägen politische Paukenschläge andeutete, hat damals (…) den Sound gesetzt, der seither von Film- und Fernsehmachern so oft kopiert wurde."
Das Altpapier am Freitag schreibt Johanna Bernklau.