Kolumne: Das Altpapier am 9. Oktober 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens.
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 9. Oktober 2024 Gute Unterhaltung

09. Oktober 2024, 13:45 Uhr

"Die Anstalt" und die "Mai-Think-X-Show" im ZDF leisten mal wieder journalistisch Wertvolles. Der legendäre Investigativ-Journalist Bob Woodward wird dafür kritisiert, dass er hochrelevante Informationen zurückgehalten hat, damit sich sein neues Buch besser verkauft. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Was-ser-stoff! Was-ser-stoff!"

Die Frage, ob Satiriker und andere Entertainer sich bei manchen Themen als die besseren Journalisten erweisen, ist, gemessen am gegenwärtigen Debattenumschlagstempo, bereits uralt. Es spricht aber nichts dagegen, sie immer mal wieder zu variieren. Ich würde sie aus aktuellen Anlässen mal folgendermaßen formulieren: Erfüllen Unterhaltungssendungen Aufgaben des Journalismus, die dieser vernachlässigt?

Die beiden Sendungen, die mich zu dieser Frage führen, sind die aktuelle Folge von "Die Anstalt", die am Dienstagabend lief, sowie die am Sonntag online gegangene "Mai-Think-X-Show" zu den "größten Mythen der Energiewende". Allein, um zu sehen, wie Mai Thi Nguyen-Kim zu Beginn in Fußballfanmanier "Was-ser-stoff! Was-ser-stoff!" skandiert, um die irrwitzige Euphorie rund um einen vermeintlichen Hoffnungsträger zu karikieren, lohnt es sich schon, in die Sendung reinzuschauen.

In der neuen "Die Anstalt"-Sendung wiederum wird ab 7:42 kurz und bündig geschildert, warum es "irreguläre Migration" (Olaf Scholz, Friedrich Merz u.a.) gar nicht gibt, und ab 34:25 werden irreführende und falsche Politiker-Behauptungen zum "Bürgergeld" zerpflückt. Nun ist es ja nicht so, dass es sonst gar keine fachlich korrekte Berichterstattung zu den Themen Bürgergeld und Energiemythen gibt. Ein Problem ist aber, dass es an niedrigschwelligen Kompaktdarstellungen, wie sie "Die Anstalt" und "Mai-Think-X-Show" hier liefern, mangelt. Und vor allem: Wenn Politiker und vermeintliche Experten Falsches zu Bürgergeld und Energiewende verbreiten, wird es in der Regel uneingeordnet verbreitet.

Symptomatisch dafür ist ein Bericht, der Ende der vergangenen Woche bei tagesschau.de veröffentlicht wurde. Einem Friedrich-Merz-Zitat ("Wir wollen ganz einfach dafür sorgen, dass diejenigen, die in unserem Land arbeiten, die Sozialversicherungsbeiträge zahlen und Steuern zahlen am Ende des Monats mehr haben als diejenigen, die nicht arbeiten und Transferleistungen bekommen") stellt der Autor zwar Äußerungen von Politikern gegenüber, die zum Thema Bürgergeld eine andere Einstellung vertreten als der CDU-Politiker. Aber der maßgebliche Hinweis, dass der von Merz erweckte Eindruck schlichtweg falsch ist, fehlt in dem Beitrag. Siehe dazu zum Beispiel die 29-seitige Faktensammlung zur aktuellen "Anstalt".

Mir sind in den vergangenen Monaten noch zwei weitere Sendungen aufgefallen: Ende August das "ZDF Magazin Royale" mit einer Sendung zu Long Covid und ME/CFS, die dem Thema bei der Zielgruppe des Magazins eine Reichweite verschaffte, für die der klassische General-Interest-Journalismus bisher nicht gesorgt hat. Mir lieferte die Sendung auch die einigermaßen niederschmetternde Erkenntnis, dass das Format "Augstein & Blome" noch existiert (bei 11:57 in der Sendung), aber das nur nebenbei.

Nicht zuletzt hervorhebenswert ist eine "Anstalt"-Sendung aus dem Juni über die Absurdität der sogenannten Migrationsabkommen - mit einem nicht-satirischen Max-Uthoff-Epilog, in dem er fest stellt, dass "wir (...) glauben, unsere Welt mit allen Mitteln vor jenen zu schützen, die Zuflucht suchen, sei unser Recht - und nicht rechtsextrem". Ein Epilog, der an Aktualität also massiv gewonnen hat.

"Ihre Frage ist, sorry, Teil der Misere"

Wenn Interviewte Interviewer kritisieren, ist das nicht zwangsläufig produktiv. Manchmal ist es eine hilflose oder beleidigte Reaktion auf eine vermeintlich harte Frage. Sehr instruktiv ist dagegen die Art, wie der Soziologe Armin Nassehi in einem "Welt"-Interview auf die Fragen von Chefredakteur Ulf Poschardt reagiert.

"Wie erklären Sie sich das Versagen der Grünen, die schon als künftige Kanzlerpartei gesehen wurden?",

lautet eine dieser Fragen. Nassehi dazu:

"Der Topos des Versagens der Grünen hat sich verselbständigt (…) Ihre Frage ist, sorry, Teil der Misere. Dahinter steckt die simple Ideologie von mehr oder weniger Staatstätigkeit. Langweilig. Die Frage ist doch: welche Staatstätigkeit?"

Als Ergänzung zu diesem Themenfeld empfehle ich einen Wortwechsel zwischen Anne Gellinek, der stellvertretenden ZDF-Chefredakteurin, und Anton Hofreiter. Vor eineinhalb Wochen fragte Gellinek den Grünen-Politiker im "Heute-Journal" allen Ernstes:

"Würden Sie bestreiten, dass das Heizungsgesetz der Grund dafür ist, dass die Grünen das Image haben, eine Verbotspartei, eine Bevormudnungspartei zu sein und eine Ökodiktatur in Deutschland errichten zu wollen? Das war, natürlich, das Heizungsgesetz."

Auch hier überzeugt die Kritik an der Fragestellung. Hofreiter kontert nämlich:

"Man sollte diese Kulturkampfbegriffe von ganz rechts außen nicht einfach immer so übernehmen. Das schadet am Ende allen."

Wobei man Hofreiters Blick in dieser Situation allerdings anmerkt, dass er weiß, dass es zumindest hochrangigen Journalistinnen und Journalisten ganz und gar nicht schadet, wenn sie "Kulturkampfbegriffe von ganz rechts außen" übernehmen.

Nun aber weiter mit Poschardts Fragen. Die möglicherweise ödeste Metapher, die im Meinungsmachergeschäft verfügbar ist, darf im Interview mit Nassehi nicht fehlen:

"Und der akademische Elfenbeimturm?"

Antwort:

"Das ist wieder eine schlagwortartige Insinuierung, auch eine antiintellektuelle. Was man mancher akademischer Perspektive aber nachsagen muss, ist eine große Ferne zu den Milieus, in denen die Dinge umgesetzt werden müssen. Ich habe mit naturwissenschaftlichen Klimaforschern gesprochen, die fassungslos darüber sind, dass die naturwissenschaftlich eindeutige Gefahrenlage nicht unmittelbar auf politische und persönliche Entscheidungen umschlägt."

An dieser Stelle hätte ich dann wiederum eine Nachfrage an Nassehi: Kann man Klimaforschern vorwerfen, dass sie "fassungslos" sind? Müsste man ihnen nicht eher vorwerfen, wenn sie es nicht wären?

Die Tränen eines Wettermanns

Wie ein Klimaexperte im Wortsinn die Fassung verliert, zeigt ein derzeit kursierendes und auch der dpa aufgefallenes Video mit dem US-amerikanischen TV-Meteorologen John Morales, der bei NBC6 angesichts der Daten, die zu diesem Zeitpunkt zum Hurrikan Milton vorlagen, in Tränen ausbrach.

Bei CNN findet man eine Kurzfassung. Eine längere Version verbreitet der Wissenschaftler und Journalist Lucky Tran, der zudem darauf hinweist, dass David Bowie eine solche News-TV-Szene schon vor 52 Jahren besungen hat.

"US Today" schreibt über die Reaktionen auf Morales’ Tränenausbruch:

"Fachleute für psychische Gesundheit hatten Verständnis für Morales' Lage; es ist nicht leicht, schlechte Nachrichten zu überbringen. Aber sie lobten seinen Mut, seinen Kummer auf Sendung zu teilen, da dies anderen helfen könnte, sich auf den Sturm vorzubereiten und ihren eigenen Kummer zu verarbeiten. 'Wir können erkennen, dass dieser Mann darauf bedacht ist, nützliche und genaue Informationen weiterzugeben, um anderen zu helfen', sagt Kimberly Vered Shashoua, eine Therapeutin, die bis vor kurzem im vom Hurrikan betroffenen Asheville, North Carolina, lebte. 'Wir vertrauen Morales nicht nur, wir haben auch das Gefühl, dass er sieht, was wir durchmachen. Wir werden nicht ignoriert. Er kennt uns vielleicht nicht, aber er sieht uns.’"

Was zum Beispiel die Frage aufwirft, ob die vom oft falsch zitierten oder zumindest falsch interpretierten Hanns-Joachim Friedrichs vor rund 30 Jahren formulierte Forderung, auf dem Bildschirm "im Umgang mit Katastrophen cool (zu) bleiben, ohne kalt zu sein", möglicherweise aus der Zeit gefallen ist.

Trump-Berichterstattung: Mehr Neurologie wagen?

Die Frage, ob der vergangene Sonntag einen "Wendepunkt" in der US-Wahlkampfberichterstattung markiert, stellt "The New Republic" unter der Headline "The Media Is Finally Waking Up to the Story of Trump’s Mental Fitness". Für den vermeintlichen Wendepunkt steht dieser "New York Times"-Text, ein - wie es ebenfalls bei "The New Republic"( aber an anderer Stelle) heißt - "außergewöhnliches Stück, das Donald Trumps sich verschlechternden Geisteszustand detailliert beschreibt und seine geistesgestörten Erfindungen und sein offenkundiges Fabulieren in den Mittelpunkt seiner Enthüllung stellt".

In seinem Blog "Press watch. An Intervention for political journalism" schreibt der freie Journalist Dan Froomkin, "Trumps mangelnde geistige Fitness" müsse "von nun an in der täglichen Berichterstattung berücksichtigt werden, und zwar jedes Mal, wenn er erwähnt oder zitiert wird", insbesondere müssten "mehr Neurologen" zu Wort kommen. Froomkin meint auch, die NYT-Autoren seien

"in Bezug auf Trump bewundernswert direkt, so weit sie das konnten: 'Er schweift ab, er wiederholt sich, er schweift von einem Gedanken zum nächsten - einige von ihnen sind schwer zu verstehen, einige von ihnen sind unvollendet (…) Er stellt haarsträubende Behauptungen auf, die wie aus dem Hut gezaubert scheinen. Er schweift ab in bizarre Tangenten über Golf, über Haie, über seinen eigenen 'schönen' Körper."

Ein anderer Aspekt in der aktuellen Berichterstattung über Trump: Der sehr berühmte Enthüllungsjournalist Bob Woodward bringt ein neues Buch namens "War" auf dem Markt. Der "Spiegel" dazu:

"Bob Woodward behauptet (darin), dass Trump auch nach dem Ende seiner Präsidentschaft in Kontakt mit Putin blieb. Für einen ehemaligen US-Präsidenten wäre ein solches Verhalten – ohne die aktuelle Regierung darüber zu informieren – höchst ungewöhnlich."

Weiter schreibt der "Spiegel":

"Eines der brisantesten Details (in dem Buch): Trump soll – als er zu Beginn der Coronapandemie im Jahr 2020 noch im Amt war – Putin die damals zunächst schwer erhältlichen Covid-Tests für dessen persönlichen Gebrauch geschickt haben. Putin, so beschreibt es Woodward, soll Trump gedrängt haben, die Geste nicht öffentlich zu machen, mit der Begründung, sie werde dem amerikanischen Präsidenten politisch schaden. 'Ich möchte nicht, dass Sie es irgendjemandem erzählen, denn die Leute werden wütend auf Sie sein, nicht auf mich', soll Putin ihm gesagt haben."

Ein längerer Text dazu, was alles in dem Buch steht, findet sich zum Beispiel bei CNN. In den USA hat nun eine Debatte darüber begonnen, ob es angesichts der Brisanz und der zumal in Wahlkampfzeiten großen Relevanz der Recherchen berufsethisch vertretbar war, dass Woodward, der noch Associate Editor bei der "Washington Post" ist, seine Informationen bis zur Buchveröffentlichung zurück gehalten hat.  Die Fernsehjournalistiin Joy-Ann Reid (MSNBC) kritisiert dies zum Beispiel. Und der Journalist, Jurist und Dramatiker Wajahat Ali in seinem Substack. Er geht dabei ebenfalls auf die an Putin geschickten Corona-Tests ein - und darauf, dass Woodward nicht zum ersten Mal wegen seiner fragwürdigen Geschäftstüchtigkeit in der Kritik steht:

"Der ärgerlichste 'Scoop', der nicht an die Öffentlichkeit gelangte, sondern stattdessen sicher in das Buch eingebettet wurde, um mehr Exemplare zu verkaufen, ist Woodwards Hinweis, dass Trump in den ersten Tagen der Pandemie Covid-19-Testgeräte an Putin für seinen persönlichen Gebrauch schickte. Das war zu einer Zeit, als die Amerikaner starben und das medizinische Personal verzweifelt medizinische Vorräte und Masken benötigte, die aufgrund der rücksichtslosen Verzögerung der Trump-Administration bei der Inanspruchnahme des Defense Production Act fehlten. Wir dürfen nie vergessen, dass Trump wusste, wie tödlich Covid war, aber er beschloss, die Öffentlichkeit zu belügen und die Bedrohung herunterzuspielen, weil er befürchtete, dass dies seinen Wiederwahlchancen schaden würde. Woher wissen wir das? Dank Bob Woodward, der Trump auf Tonband hat, wie er es gesteht. Genau wie heute beschloss Woodward, diese kritische Information während einer einmaligen Pandemie zurückzuhalten, um sie als sexy Schlagzeile für sein damaliges Buch zu verwenden, das ein Bestseller wurde."

Alis sarkastisches Fazit:

"Sure, our democracy might be in the toilet, women will lose their freedoms, journalists will be harassed, and marginalized Americans will be vilified with hateful conspiracies, but imagine the juicy 6-figure TV contract and NYT bestselling books? Imagine the huge advance! I mean, that’s too good of a deal to pass up, right?"


Altpapierkorb ("Junge Welt" bleibt alt, weniger "Hart aber fair", Geisendörfer-Preis für MDR-Faktenchecker)

+++ "Es war ein neuer Tiefpunkt einer Zeitung, die sich Antiimperialismus auf die Fahne schreibt, aber immer wieder mit Diktatoren kuschelt: Am 8. Oktober 2023, dem Tag nach dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel und dem größten antisemitischen Pogrom seit der Schoah, war auf der Titelseite der 'Jungen Welt' zu lesen: 'Gaza schlägt zurück.'" Der Zweibeiner, der für den "neuen Tiefpunkt" verantwortlich war, heißt Nick Brauns, und er ist nun Teil des neuen Chefredakteurs-Duos bei besagter Zeitung. Darüber berichtet die taz. Deren Einschätzung dieser Personalie: Die "Blattlinie" der "Jungen Welt" dürfte sich damit "kaum verändern".

+++ Was wird uns 2025 bringen? Zum Beispiel zehn "Hart aber fair"-Folgen weniger und neun "Maischberger"-Sendungen mehr als in diesem Jahr. Recherchiert hat’s Volker Nünning für den "Medieninsider". t-online.de fasst den Artikel zusammen.

+++ Dass Faktenchecks bei Tiktok äußerst notwendig sind, dürfte mittlerweile ein No-Brainer sein. Ein Format, das das offenbar besonders gut macht, ist der vom MDR betreute "Fakecheck", denn es gewann, wie unser Sender selbst mitteilt, nun beim renommierten Robert-Geisendörfer-Preis in der Kategorie "Soziale Medien". Wer außerdem ausgezeichnet wurde, steht bei "epd medien".

Das Altpapier am Donnerstag kommt wieder vom Autor der heutigen Kolumne.

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