Kolumne: Das Altpapier am 19. September 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 4 min
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Kolumne: Das Altpapier am 18. September 2024 Die berserkerhafte Unlust am Lernen

18. September 2024, 13:08 Uhr

Die AfD begibt sich mit einem Wahlspot auf ein neues Niveau der Skrupellosigkeit. Eine ARD-Spielshow stellt eine dumme Frage. Der Deutschlandfunk bemüht sich, ein misslungenes Interview mit dem russischen Botschafter einzuordnen. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

NS-Propaganda-Anklänge im brandenburgischen Wahlkampf

Am Sonntag wird in Brandenburg gewählt, und im Wahlkampf scheint es nun eine historische Zäsur unter ästhetischen Aspekten zu geben. Was im unguten Sinne "möglich" ist durch den Einsatz von KI im Wahlkampf - darüber ist im bisherigen Verlauf dieses sog. Superwahljahres schon viel nachgedacht worden (siehe etwa taz und SWR). Alisa Schellenberg schreibt für Zeit Online nun über einen Wahlwerbespot der AfD, mit dem die Partei "die nächste Stufe im skrupellosen Einsatz von künstlicher Intelligenz für politische Stimmungsmache" nimmt.

Der Werbefilm ist aber auch ein Beispiel dafür, dass es der Partei nicht nur um eine ständige "Sprechraumerweiterung" geht (siehe dazu meine Kritik zur Dokumentation "Höcke. Und seine Hintermänner"). Es geht ihr auch darum, die Grenzen des Zeigbaren zu überschreiten. Schellenberg schreibt:

"Die Partei zeigt nicht nur die für sie perfekt generierten Deutschen: die blonde Mutter mit ihrem blonden Kind. Den blonden jungen Mann im weißen Hemd, markante Wangenknochen, markanter Kiefer. Sie inszeniert auch jene, die sie als Gegenseite braucht: die vermeintlich gefährlichen Migranten. Frauen im Tschador in der deutschen Fußgängerzone. Junge, migrantische Männer im schwarzen Trainingsanzug auf dem 'Drogenmarkt' (…) Während die deutschen Brandenburger von der Sonne angestrahlt werden, stehen die migrantischen Figuren im ewigen Schatten. Wenn sie auftauchen, legt sich Dunkelheit über die Szene und das Land. So sollen sie wirken: wie die personifizierte Gefahr."

Schellenbergs Analyse:

"Dieser Schnitt zwischen guten und gefährlichen Menschen kommt den Inhalten und der Ästhetik von nationalsozialistischer Propaganda sehr nah. Der blonde Mann im AfD-Spot könnte auch 'Der deutsche Student' auf einem NS-Plakat von 1936 sein. Die Sequenzen über migrantische Menschen erinnern nicht mehr nur an die antisemitischen und rassistischen Darstellungen des 'Untermenschen' in Grau und Brutal, wie sie beispielsweise auf dem Einband des Buches 'Der Untermensch’  aus dem Jahr 1942 zu sehen sind. Würde die Partei diese offensichtlichen Ähnlichkeiten nicht billigen, könnte man meinen, würde sie diese wohl von vornherein unterlassen."

Rechte "Aufregung" nach ARD-Spielshow

Das Video wurde am Wochenende bei X veröffentlicht, und da war die Aufzeichnung der am Montag ausgestrahlten ARD-Polit-Spielshow "Die 100 - was Deutschland bewegt", die dieses Mal unter dem Titel "Ist die AfD eigentlich ein Problem für die Demokratie?" stand, wahrscheinlich schon im Kasten. Dass die vier Redakteure, die bei NDR und WDR für die Sendung zuständig sind, zur Besinnung gekommen wären und sich einen anderen Titel überlegt hätten, wenn sie den Wahlkampfspot gekannt hätten, ist aber nicht sehr wahrscheinlich.

"Ob die AfD ein Problem (!) für die Demokratie sei, als Pro- und Contra-Frage? Ernsthaft, liebe Kolleginnen und Kollegen?"

fragte Georg Restle, und die Frage richtete sich also auch an zwei "liebe Kolleginnen und Kollegen" aus dem eigenen Funkhaus. Ralf Wiegand zitiert diesen kurzen Rant Restles in einer Nachbetrachtung für die SZ. Der verharmlosende Titel ist allemal ein bewusstseinsindustrieller Erfolg für die AfD, aber das war der Partei am Montag nicht genug. Am Ende der Sendung kam nämlich ein Mann namens Michael Schleiermacher zu Wort, der nebenberuflich als Komparse tätig ist und, wie der NZZ auffiel, schon einmal in einem "Tatort" mitgewirkt hat. Er vertrat zur AfD nun eine andere Position als zu Beginn der Sendung. Wiegand schreibt:

"Zur großen Freude von Alice Weidel, der Co-Vorsitzenden der AfD, kam recht schnell ans Licht, dass ausgerechnet dieser nun geläuterte Michael, von der ARD als Bürokaufmann vorgestellt, in seinem Instagram-Profil 'Komparse, Kleindarsteller, Protagonist’ angibt'."

Die "Berliner Zeitung" zimmerte u.a. auf der Basis dieser Details einen in vielerlei Hinsicht verdrehten Artikel, der an das Strickmuster des realsatirischen Accounts "ÖRRBlog" erinnert. Der weist seit Jahren auf vermeintliche Missetaten öffentlich-rechtlicher Sender hin, mit Posts aus der Preisklasse "Die Frau, die in einer ARD-Straßenumfrage Verständnis für die Aktionen der Letzten Generation geäußert hat, ist die Nachbarin eines Schwagers eines WDR-Rundfunkrats!" (fiktives, aber realistisches Beispiel).

Auch seriöse Medien raunten: 

"Ist (…) nicht schon der Eindruck, den ein nebenberuflicher Komparse in so einer Sendung macht, ein Problem?"

fragt Wiegand. Und der "Spiegel" schreibt:

"Der Verdacht liegt nahe: Hat die ARD womöglich einen Mann dafür bezahlt, dass er sich im Verlauf der Sendung von einem vermeintlichen Anhänger zu einem geläuterten AfD-Gegner entwickelte? Fingierte der Sender einen Erkenntnisprozess, den es so nie gegeben hatte – um die politische Meinungsbildung zu beeinflussen?"

Gegenfrage: Ist das nicht ein äußerst fragwürdiges Framing? Oder ist es legitim, ganz bewusst überkandidelt zu formulieren, ganz bewusst einen völlig absurden "Verdacht" in den Raum zu stellen, um eine möglichst große Fallhöhe zu schaffen?

Jedenfalls: Der "Spiegel" kommt zu der Erkenntnis, dass an der "Aufregung", die anderswo zu beobachten war, nichts dran ist. Denn: Er hat - Pardon my French - recherchiert und mit dem Laiendarsteller gesprochen (das hat die NZZ auch getan, sie geht aber nur kurz auf das Gespräch ein).

Vicky Isabelle Bargel schreibt in ihrem Artikel:

"Wie es zu Schleiermachers Teilnahme bei 'Die 100' gekommen ist, schildert er so: Er habe einen Newsletter abonniert von einem Internetportal namens 'MyShow'. 'MyShow' wird von der Banijay Media GmbH betrieben, einer der größten deutschen TV-Produktionsfirmen. Mit dem Newsletter macht das Portal auf Freikarten und Rabattaktionen aufmerksam, mit denen man als Zuschauer TV-Sendungen besuchen kann, zum Beispiel 'TV Total' oder 'Hart aber fair'. Auch wenn Teilnehmer für bestimmte Formate gesucht werden, wird gelegentlich ein Bewerber-Aufruf über den Newsletter verschickt. Dem 'Spiegel' liegt eine Bestätigung vor, dass Banijay für das Casting der Sendung verantwortlich war. 'Ich bewerbe mich häufig bei so was. Mal wird man genommen, mal eben nicht', sagt Michael Schleiermacher. Bis kurz vor der Sendung hätten die Teilnehmer laut Schleiermacher nicht einmal gewusst, um welches Thema es bei dieser Ausgabe des ARD-Formats überhaupt gehen sollte."

Letztlich ist die "Aufregung" das Ergebnis folgenden Mechanismus: Leute gucken Fernsehen, dann fällt ihnen eine Person auf, weshalb sie schauen, ob diese Person einen oder mehrere Accounts in den sozialen Medien hat. Aus dem, was sie auf dem First Screen und dem Second Screen sehen, versuchen sie, sich etwas zusammen zu reimen. Das wiederum schreiben sie dann bei X rein - und weil zu viele Journalisten, in deren Leben offenbar zu viel falsch gelaufen ist, zu viel auf X abhängen, macht das Ganze dann in etablierten Medien die Runde.

Dass die "Aufregung" amplifiziert werden konnte, liegt zum Teil aber auch daran, dass zu viele Journalisten zu wenig Bescheid wissen über die Entstehungsprozesse von Fernsehsendungen mit Publikumsbeteiligung.

Russische Propaganda an allerlei Fronten

Die von Ingo Zamperoni moderierte Sendung "Die 100" ist auch Aufhänger eines ebenfalls von Ralf Wiegand verfassten SZ-Kommentars, der als Weiterdreher der SZ/NDR/WDR-Recherchen zur "Social Design Agency" dient (siehe Altpapier von Dienstag)

"Am Montag im Ersten ging es um die Frage, ob die AfD 'eigentlich gefährlich für die Demokratie' sei, 100 Leute wurden mit Pro und Contra konfrontiert und sollten sich dazu verhalten. Dass zwar 96 Prozent der Teilnehmenden sich dem Argument anschlossen, die AfD sei rassistisch und ausgrenzend, aber am Ende der Sendung fast ein Drittel immer noch der Ansicht war, die Partei stelle 'eigentlich' keine Gefahr für die Demokratie dar, zeigt erneut, dass Meinungsbildung offenbar ein komplexer Vorgang ist. Und damit nach Moskau. Dort, in der Präsidialverwaltung des Kreml, ist das Potenzial dieser 'Meinungsbildung' längst erkannt worden, und sie wird gezielt als Waffe eingesetzt."

Zum Beispiel so:

"Das Unternehmen schmuggelt falsche Identitäten in soziale Netzwerke, die dort dann vermeintliche Privatmeinungen aus dem angeblich echten Leben deutscher Bürger posten: Hetze gegen die Ampelregierung und Geflüchtete etwa, oder sie schüren die Angst der Bevölkerung vor wirtschaftlicher Not und direkter Beteiligung am Krieg in der Ukraine."

Ein Gedanke fehlt in diesem Zusammenhang meistens. "Hetze gegen Geflüchtete" ist hier zu Lande ja nun sehr verbreitet, zumindest bei maßgeblichen Politikern. Ketzerische Frage daher: Was unterscheidet "uns" ins dieser Hinsicht denn nun eigentlich von "den Russen"?

Michael Hanfeld rekapituliert die SZ/NDR/WDR-Recherchen zur "Social Design Agency" in der FAZ und geht in diesem Kontext auch auf die aktuellen Maßnahmen des Konzerns Meta gegen "Rossiya Segodnya, RT und andere verbundene Unternehmen" ein (siehe u.v.a. "Washington Post").

Unter einem anderen Aspekt über russische Desinformation wird anhand eines Interviews mit dem russischen Botschafter Sergei Netschajew diskutiert, das Moritz Küpper für den Deutschlandfunk geführt hat.

"Putins Botschafter Netschajew darf im Deutschlandfunk Desinformation verbreiten", lautet der Vorspann eines Artikels im "Kölner Stadt-Anzeiger" dazu. In dem Text werden mehrere Äußerungen, in denen "Entsetzen" über das Interview zum Ausdruck kommen, zitiert. Von "zwanzig Minuten Kremlpropaganda im DLF" spricht zum Beispiel der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.

Eine "Einordnung" zu Küppers Interview liefert ebenfalls im DLF Gesine Dornblüth (siehe ausführlich dieses Altpapier). Dass ein Medium eine "Einordnung" eines eigenen Interviews veröffentlicht, ist nun eher ungewöhnlich. Warum ist denn dem Interviewer diese "Einordnung" nicht gelungen? Dornblüths Beitrag merkt man an, dass er ein Balanceakt war: Sie versucht, ihrem Entsetzen Ausdruck zu verleihen, kann ihrem Kollegen aber auch nicht vor den Koffer kacken.

Ein Zitat kommentiert sie folgendermaßen:

"Je komplizierter Themen sind, desto einfacher ist es, Falschinformationen zu streuen – gerade wenn man sie auch mit Bröckchen von Wahrheiten versieht. Das ist das Prinzip der russischen Desinformation und dieses Netschajew-Zitat ist ein Paradebeispiel dafür. Die Falschinformationen sind dann schwer zu erkennen. Und gerade auch in Live-Situationen wie etwa Interviews ist es nahezu unmöglich, das alles einzuordnen."

Das wirft die gewiss nicht originelle Frage auf, warum man überhaupt ein 1:1-Interview mit dem russischen Botschafter bringt. Kann man so etwas nicht der "Berliner Zeitung" überlassen?

Flutberichterstattung - eine Zwischenbilanz

Einen Lernprozess zumindest bei der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" hat die Initiative Klima vor acht festgestellt.

Am Montag postet sie zur Hochwasserberichterstattung in den Hauptausgaben von "Tagesschau" und "Heute" am Samstag und Sonntag, dass dort kein "einziges Mal auf die Klimakrise hingewiesen wurde". Am Dienstag lobte sie die 20-Uhr-Ausgabe vom Vorabend dann für 16 "Klima-Erwähnungen".

Eigene Beobachtung: Dass ZDF machte es am Montag mal gut, mal nicht gut, lieferte wichtige Einordnungen im "ZDF Spezial" mit Özden Terli, später dann aber einordnungsfreie Katastrophenberichterstattung im "Heute-Journal".

Joachim Müller-Jung, Co-Chef des FAZ-Wissenschaftsressorts, widmet sich in einem kurzen Kommentar folgendem Phänomen:

"Die begreiflicherweise hartnäckigen Versuche, in der katastrophalen Hochwasserlage in Mitteleuropa auch Trost zu finden, haben schon viele in den Strudel gefährlicher Irritationen gezogen, die altes Wissen auf neuen Benutzeroberflächen bereithalten kann. Immer wieder tauchen etwa Fotos von historischen Hochwassermarken an Gebäuden, Mauern oder Brücken auf, die vehement gegen die Virulenz der Klimakatastrophenthese in Anschlag gebracht werden."

Das gehe dann manchmal "fließend" über "in eine berserkerhafte Unlust am Lernen, an der Gegenwart und an der Zukunft". Und diese "berserkerhafte Unlust am Lernen" ist derzeit ja Charakteristikum aller Debatten.


Altpapierkorb (Rückblick auf Paralympics-Berichterstattung, Altersgrenze bei funk, Straßenmagazin für Kinder)

+++ Andrea Schöne kritisiert bei "Übermedien" "ableistische Erzählweisen" in der Berichterstattung rund um die Paralympics: "Besonders eindrucksvoll zeigen (sie) sich (…) in der ZDF-Reportage 'Paralympische Helden – Meister ihres Schicksals', die während der Paralympics von Moderator*innen mehrfach gelobt und beworben wurde. Die Reportage begleitet vier internationale Paralympics-Sportler*innen. Auffällig ist, wie hochemotional Unfallgeschichten, Operationen oder Behinderungen infolge von Erkrankungen geschildert wurden.

In der Doku wird Sport als Motor für mehr Selbstbewusstsein und Teilhabe dargestellt. Inklusion ist aber ein Menschenrecht, das nicht daran gebunden ist, besondere Leistungen, etwa bei den Paralympics durch Sport, zeigen zu müssen. Daher zeigt die Erzählweise 'Teilhabe durch Sport' nur eine ableistische Sichtweise auf Behinderung, die beinhaltet, Leistung erbringen zu müssen (…) Insgesamt wird im Film, mal wieder, das Narrativ geprägt: Du kannst mit einer Behinderung alles erreichen, wenn du dich nur genug anstrengst und selbst herausforderst."

+++ "Auf den ersten Blick", schreibt Ole Kaiser im FAZ-Medienseitenaufmacher, sei es "schon verwunderlich", dass funk Ü30-Youtubern kündigt, "deren Kanäle gut laufen". Spoiler: Auf den zweiten Blick - bzw. nach einem Blick in den Medienstaatsvertrag sowie jenem Vertrag, in dem ARD und ZDF die Veranstaltung von funk regeln - ist es das nicht mehr.

+++ Wenn eine taz-Redakteurin gegenüber einer Magazinmacherin sagt: "Heute, wo Print eher ein Auslaufmodell ist, wirkt es mutig, gleich ein zweites Printprodukt auf den Markt zu bringen" - dann kommt man natürlich nicht umhin, dabei auch kurz an die taz selbst zu denken, die ja gerade ihren eigenen Auslauftermin fürs Modell Print bekannt gegeben hat (Altpapier von Montag). Im in der taz Nord erschienenen Interview, in dem die zitierte Frage fällt, geht es um einen Ableger des Hamburger Straßenmagazins "Hinz & Kunzt", der sich an Kinder richtet. Das neue Objekt heißt "Hinz & Kids" und ist am Dienstag zum ersten Mal erschienen.

Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ralf Heimann.

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