Kolumne: Das Altpapier am 13. September 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 6 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 13. September 2024 Die Untertreibung des Jahres

13. September 2024, 12:24 Uhr

Das BSW pfeift auf die Pressefreiheit. Der Presserat missbilligt die Berichterstattung mehrerer Lokalmedien, die beim Thema Bürgergeld am Rad drehen. Ein Rundfunkrat des MDR kritisiert, der Sender spare am falschen Ende. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wo bleibt der gesellschaftliche Aufschrei?

Vor dem Begriff "Rechtsruck" gibt es derzeit kaum ein Entkommen. Das ist jetzt gar nicht als Kritik gemeint. "Rechtsruck" ist ein oft zweckdienlicher, ein unter pragmatischen Aspekten allemal zulässiger Behelfsbegriff. Wobei die Argumentation, dass er "verharmlosenden" Charakter hat, weil er Kontinuitäten ausblendet, ebenfalls durchaus nachvollziehbar ist.

Andererseits fällt aktuell auf, dass teilweise völlig unterschiedliche Dinge gemeint sind, wenn von einem Rechtsruck die Rede ist. Wenn Sat 1 unter der Überschrift "Ronzheimer über Rechtsruck in Deutschland: 'Diese Aggressivität hat mich überrascht'" mit eben jenem Journalisten über den ersten Film unter dem Label "Ronzheimer - Wie geht's, Deutschland?" redet - dann bezieht sich die Formulierung jedenfalls nicht auf die mutmaßliche Entwicklung von Leuten, die Sätze sagen wie "Warum sind bestimmte Dinge in der Vergangenheit ausgeschlossen worden, wie zum Beispiel Abschiebungen nach Afghanistan, und jetzt funktionieren sie plötzlich doch?". Das sagt in dem Interview nämlich Ronzheimer höchstpersönlich.

Was zu dem Ronzheimer-Film gesagt werden muss, sagt übrigens Lorenz Meyer in seinem Kommentar für Radio Eins:

"Was mir fehlt, ist die kritische Selbstreflexion. Wenn es Ronzheimer wirklich ernst wäre mit der Veränderung, dann müsste er auch die Rolle der Boulevardmedien - und damit auch seine eigene - viel intensiver und selbstkritischer hinterfragen. Die von Ronzheimer mitgeleitete 'Bild' hat jahrelang von der Spaltung der Gesellschaft profitiert. Jetzt, wo das ganze Ausmaß dieser Spaltung sichtbar wird, reicht es nicht, so zu tun, als wäre man plötzlich besorgt."

In einem "Freitag"-Teaser für einen Leitartikel von Ebru Taşdemir taucht der Begriff "Rechtsruck" in folgendem Kontext auf:

"Zurückweisen, Flüchtlingszahlen begrenzen, abschieben: Politiker*innen von Opposition und Ampel-Regierung überbieten sich derzeit mit immer härteren Maßnahmen. Die Frage aber ist: Kann sich Deutschland so einen Rechtsruck leisten?"

Taşdemir schreibt:

"Selbst Bundespräsident Walter Steinmeier ließ es sich nicht nehmen, ausgerechnet auf der Trauerfeier für die Opfer des mutmaßlich islamistisch motivierten Terroranschlags in Solingen von der Begrenzung der 'irregulären Migration' zu sprechen. Zuwanderung und ihre Begrenzung müsse 'Priorität haben in den nächsten Jahren'. Zu anderen Zeiten hätte diese Pietätlosigkeit, auf einer Trauerfeier Politik machen zu wollen, einen gesellschaftlichen Aufschrei ausgelöst. Gegenwärtig, wo Grenzkontrollen und die Zurückweisung von Geflüchteten gegen Extremisten und Terrorismus helfen sollen, sind zweifelnde Stimmen angesichts des lauten Chors der migrationspolitischen Hardliner kaum mehr zu vernehmen."

Weil es diesen "gesellschaftlichen Aufschrei" nicht gibt, sitzen Menschen mit Migrationsgeschichte, vor allem mit hohem Bildungsgrad, inzwischen "auf gepackten Koffern", wie es in der Anmoderation eines empfehlenswerten Deutschlandfunk-Beitrags heißt. Darin geht es um eine Studie zu konkreten Abwanderungsplänen, unter anderem die einer im Irak gebürtigen Nachhaltigkeitsingenieurin, die es nun von Berlin nach Ägypten zieht. Empfehlenswert ist der Beitrag, weil solche Perspektiven sonst medial kaum sichtbar sind.

Um zu einer weiteren Verwendung von "Rechtsruck" zu kommen: "Wird der Rechtsruck im ÖRR zur Gefahr für die Demokratie?", lautet eine "Volksverpetzer"-Überschrift. Worum geht es genau? Unter anderem um zu viel Chrupalla und zu viel Wagenknecht in Talkshows:

"Der Erkenntnisgewinn solcher Talkshowbesuche ist eh hauchdünn: Nach dem x-ten Mal Chrupalla und dem x-ten Mal Wagenknecht ist niemand schlauer, niemand informierter, niemand gebildeter als zuvor, da Populisten rechts wie links sowieso nur ihre Leitparolen heraushämmern."

An dieser Stelle ist Wagenknecht plötzlich "links", also wirkt der Begriff "Rechtsruck" hier eher nicht valide. Dabei war Wagenknecht nie links, die Partei Linke war für sie bloß eine sehr lange Zeit das ideale Biotop für ihre Selbstvermarktung.  

Der Wagenknecht-Doku-Weltrekord der ARD

Ganz und gar nicht links ist auch das Pressefreiheitsverständnis von Wagenknechts neuem Laden. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet mit Blick auf zwei Parteitage am Wochenende:

"Die neue Partei hat es sich angewöhnt, bei den Gründungsparteitagen die Presse weitgehend auszuschließen. Nur in Nordrhein-Westfalen waren Pressevertreter durchgehend im Saal. Auch in Bremen und Niedersachsen dürfen laut Vorgabe aus der Bundespartei Journalistinnen und Journalisten nur eine halbe Stunde zu Beginn am Vormittag und bei einer Pressekonferenz am Nachmittag dabei sein. Der Rest der Versammlung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt."

Das DLF-Medienmagazin "@mediasres" hat aus diesem Anlass mit Kerstin Palzer aus dem ARD-Hauptstadtstudio über das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Medien und dem BSW gesprochen. Palzer sagt:

"Wir haben diese Partei, die noch gar nicht mit Wahlergebnissen legitimiert war, uns vielleicht ein bisschen überproportional angeguckt und darüber berichtet."

Das kann man als Anflug von Selbstkritik loben, bezogen auf das gesamte Programm der ARD kann man aber auch sagen: Das ist die Untertreibung des Jahres.

Ich will an dieser Stelle gar nicht über Wagenknechts Überpräsenz in aktuellen Formaten reden, dazu ist viel geschrieben worden, auch in dieser Kolumne (und aktuell im eben erwähnten "Volksverpetzer"-Text)

Worüber meiner Wahrnehmung nach bisher wenig geschrieben wurde: Die ARD hat innerhalb von weniger als einem Jahr drei Dokumentationen über Wagenknecht ausgestrahlt: "Der Bruch. Sahra Wagenknecht und Die Linke", "Sahra Wagenknecht: Neue Partei, neues Spiel?" und "Trotz und Treue. Das Phänomen Sahra Wagenknecht". Man muss sich wahrscheinlich nicht einmal sonderlich gut auf dem Feld der TV-Dokumentationen auskennen, um das für eine aberwitzige Häufung zu halten. Innerhalb so kurzer Zeit bei nur einer Medienorganisation so viele Dokumentationen über einen vergleichbar relevanten Politiker bzw. eine vergleichbar relevante Politikerin - das dürfte es anderswo bisher noch nie gegeben haben. Ja, es gab reichlich Merkel-Filme in den vergangenen Jahren, aber über einen längeren Zeitraum verteilt und zudem an verschiedenen Sendeorten. Und a bisserl relevanter war Merkel ja auch.

Das Triggerthema Bürgergeld

"Lokale Medien sind das Rückgrat unserer Medienlandschaft", hat ein gewisser Olaf Scholz am Donnerstag gesagt. Bei der BDZV-Jahrestag war das (siehe meedia.de).

Dass dieses Rückgrat auch mit Blick auf den Aspekt "Rechtsruck" eine regelmäßige medienjournalistische Beobachtung verdient, haben zuletzt bereits die Zustände bei der "Schwäbischen Zeitung" vermuten lassen (Altpapier, Altpapier).

Was leider zu dieser Entwicklung passt: In den vergangenen Monaten haben Journalisten von Lokalmedien mehrmals am Rad gedreht, weil der Verdacht besteht, dass eine kleine Gruppe von Geflüchteten aus der Ukraine zu Unrecht Bürgergeld bezogen haben könnte. Einige von ihnen haben dieses Thema aus einem Randbereich des Bürgergelds mit erkennbarer Freude genutzt, um Stimmung gegen das Bürgergeld an sich zu machen.

Der Presserat hat auf seiner letzten Sitzung gleich gegen mehrere solcher Artikel, deren Autoren teilweise fleißig Falschdarstellungen von Kollegen abgeschrieben haben, eine Missbilligung ausgesprochen. Darum geht es in in meinem zweiten Text für die noch relativ neue Presserats-Rubrik von "Übermedien".

Apropos Bürgergeld: Dass der Hass auf Migranten und der Hass auf Arme zwei Seiten einer Medaille sind, macht Helena Steinhaus, die Gründerin der Organisation Sanktionsfrei, im 'Freitag' deutlich:

"'Weniger Sozialleistungen' und 'konsequent Abschieben'. Das sind die vermeintlichen Heilsbringer in einer gespaltenen, angsterfüllten Gesellschaft."

Einen netten Tipp für Bundeshaushalts-Berichterstattungs-Amateure, die vielleicht gern Profis wären, enthält der Artikel auch:

"Dass 'die Kassen leer' sind, ist kein Naturgesetz. Dahinter stehen immer politische Entscheidungen, für wen oder was Geld locker gemacht werden will."

MDR sollte nicht an den Radio-Nachrichten sparen

Die "Sächsische Zeitung" hat am Mittwoch unter der Überschrift "Rundfunk-Debatte: Erfüllt der MDR seinen Auftrag?" einen am Wochenende bereits gedruckt erschienenen Gastbeitrag des MDR-Rundfunkrats Heiko Hilker online veröffentlicht.

Hilker stellt erst einmal dar, was der MDR alles leistet, bemängelt dann die Substanzarmut mancher Kritiker ("Wer behauptet, der MDR erfülle seinen Auftrag nicht, sollte auch sagen, was ihm konkret fehlt") und benennt dann selbst mehrere Kritikpunkte. Einer davon:

"Jeder qualifizierte Radiomacher weiß, dass die Nachrichten auf die jeweiligen Zielgruppen abgestimmt sein müssen. Es wird anders getextet. Man interessiert sich für andere Themen. Es ist kein Skandal, wenn sich Nachrichten substanziell voneinander unterscheiden. Das ist gutes Nachrichtenhandwerk. Beim MDR gilt diese Grundregel nicht mehr."

Das bezieht sich darauf, dass MDR Kultur die Nachrichten von MDR aktuell übernimmt. Und darauf, dass MDR Jump seit Ende 2023 keine Nachrichtenredaktion mehr hat.

Gerichtet an all die ARD-Funktionäre, die gern "Synergien" schaffen wollen, und all die Hobby-Medienpolitiker, die dieses oder Ähnliches fordern, schreibt Hilker schließlich:

"Wenn die 'ostdeutschen' Bundesländer ein eigener Kultur- und Orientierungsraum sind, wenn sie sich auf Dauer von den anderen Bundesländern unterscheiden, dann brauchen diese Länder auch ein eigenes umfangreiches Medienan- gebot. Der MDR dürfte also nicht mehr von anderen Sendern übernehmen, er muss – möglichst abgestimmt mit rbb und NDR – mehr selber machen und anbieten. Rund um die Uhr."


Altpapierkorb (mangelnde Maßnahmen gegen "Doppelgänger"-Kampagne, Böhmermanns richtige Argumentation mit falschen Zahlen, Report zu "The Israel-Hamas war and the BBC", Dokumentarfilm "Klitschko – Der härteste Kampf")

+++ Die Berichterstattung zur Gefahr durch die "Doppelgänger"-Kampagne (siehe zuletzt Altpapier von Donnerstag) geht selbstverständlich weiter. Die taz geht darauf ein, dass X nur einen der Accounts, die die Rechercheorganisationen Alliance4Europe und CeMAS als Desinformatons-Accounts kürzlich nach umfangreichen Prüfungen gemeldet haben, suspendiert hat. Julia Smirnova von CeMAS kommt mit folgender Aussage zu Wort; "Es ist besorgniserregend, dass es russischen Akteuren nach mehr als zwei Jahren weiterhin gelingt, auf Social-Media-Plattformen Propaganda zu verbreiten. Das läuft im Auftrag des Kremls. Aber die Maßnahmen der Plattformen sind nicht ausreichend, um diese Kampagne zu stoppen."

+++ "Böhmermanns These stimmt, nur die Zahlen leider nicht", lautet die Headline eines "Übermedien"-Textes. Darin beschäftigt sich Annika Schneider mit einem kurzen Video des ZDF-Stars beschäftigt, in dem er, wie sie schreibt, kritisiert, "die Ampel aus SPD, FDP und Grünen krieche (…) in den blau-braunen Allerwertesten (er sagt das etwas vulgärer)". Weil Böhmermann aber Zahlen zur Entwicklung der Sicherheitslage in Deutschland nennt, die "in vielerlei Hinsicht falsch" seien, mache er sich "an einer entscheidenden Stelle angreifbar", schreibt die Ex-Altpapier-Autorin.

+++ Die taz geht auf einen von einer "Lobbygruppe" erstellten Report zum Thema "The Israel-Hamas war and the BBC" ein. Ein "über 40 Personen starkes Team aus Rechtsexperten und Da­ten­ana­lys­t:in­nen untersuchte mit Hilfe von KI-Tools neun Millionen Worte des englischsprachigen BBC-Angebots zwischen dem 7. Oktober 2023 und 7. Februar 2024" und stellte eine "gemäßigt bis stark propalästinensische und anti-israelische Orientierung" in mehr als 90 Prozent der Veröffentlichungen fest. Die BBC wiederum habe "ernsthafte Zweifel an der Methodik dieses Berichts", heißt es in dem taz-Artikel weiter.

+++ Die FAZ hatte die durchaus originelle Idee, den ab heute bei Sky und Wow streambaren Dokumentarfilm "Klitschko - Der härteste Kampf" (Trailer) von 86-jährigen Boxexperten und Ex-Boxer Hartmut Scherzer rezensieren zu lassen. Sein Urteil: "Großes Kino für den boxsportinteressierten, aber auch den kriegsmüden Fernsehzuschauer. Der Regie ist es vortrefflich gelungen, politische Ereignisse in der Ukraine mit Weltmeisterschaftskämpfen in den USA zu verknüpfen." Was einen weiteren Reiz dieses Dokumentarfilms ausmacht: "Der Filmemacher zeigt seinen Protagonisten auch als unbeugsamen Widersacher des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Der interne, befremdliche, ja unfassbare Machtkampf wird – ungewollt – zum Schlüsselthema."

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Schönes Wochenende!

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