Kolumne: Das Altpapier am 10. September 2024: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka 5 min
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Bei der Berichterstattung über den Klimawandel und seine Gründe ist die Balance zwischen notwendigem Alarmismus und Sachlichkeit gefragt.

Di 10.09.2024 10:44Uhr 05:01 min

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Kolumne: Das Altpapier am 10. September 2024 Der heißeste Doomsday des Jahres

10. September 2024, 09:44 Uhr

Bei der Berichterstattung über den Klimawandel und seine Gründe ist die Balance zwischen notwendigem Alarmismus und Sachlichkeit gefragt. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.

Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

40 Grad im Schatten

Wenn irgendwo Rudi Carrells Hit "Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?" läuft, rotiert der freundliche Kaaskopp (das ist übrigens keine Beleidigung, sondern gutmütiges Kölsch!) bestimmt in seinem Grab. Hatte er doch mitnichten den Klimawandel im Hinterkopf, als er damals, 1975, den drei Jahre zuvor veröffentlichten Song "City of New Orleans" von Arlo Guthrie kurzerhand auf Deutsch umtextete, und am nächsten Tag seinem Fernsehpublikum präsentierte:

"Wann wird's Mal wieder richtig Sommer?
Ein Sommer, wie er früher einmal war?
Ja, mit Sonnenschein von Juni bis September
Und nicht so nass und so sibirisch wie im letzten Jahr"

heißt es im Refrain. Die in einer anderen Strophe herbeigesehnten "40 Grad im Schatten" sind mittlerweile Realität:

"Und was wir da für Hitzewellen hatten
Pulloverfabrikanten gingen ein
Da gab es bis zu 40 Grad im Schatten
Wir mussten mit dem Wasser sparsam sein"

Die Sehnsucht nach der Affenhitze scheint aber jetzt oft dem Bewusstsein der mit ihr verbundenen, umwelt- und gesundheitlichen Probleme gewichen zu sein, und dass sich der Klimawandel weder leugnen noch ignorieren lässt, ist inzwischen auch medial common sense. Zwar preisen vor allem Radiomoderator:innen und Fernsehmeterolog:innen oft nach wie vor unbeeindruckt und in Rudi Carrell-Manier das "herrliche Sommerwetter", verdammen Regenwolken und freuen sich auf die letzten "schönen Tage". Aber die Fakten bleiben.

Vor drei Tagen druckte die Zeit unter der Unterschrift "Wissenschaftler: In Berlin wird es so heiß wie am Mittelmeer" eine dpa-Meldung ab, in der es heißt:

"Berlin muss sich nach Überzeugung des Soziologieprofessors Fritz Reusswig auf Temperaturen wie am Mittelmeer einstellen. 'Es wird wärmer in Berlin. Das sagen alle Prognosen, alle Modelle; die einen ein bisschen mehr, die anderen ein bisschen weniger', sagte der Wissenschaftler vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (…)

Berlin wandere sozusagen klimatisch gesehen nach Süden. '2100 sind wir da, wo Toulouse heute ist.' Wenn es ganz schlecht laufe, gehe die Entwicklung noch weiter in Richtung südlich der Pyrenäen. Manche sagen: 'Da fliege ich doch in Urlaub hin. Das ist doch toll.' Aber gucken Sie sich die Tourismusdiskussion an, wie es da aussieht: Wassermangel, Hitze. Also das Klima ändert sich jetzt schon, und das Mittelmeer ist schon keine wirklich angenehme Zone mehr.'"

5 vor 12

Das ist ein Fakt, kein Alarmismus. In einem aktuellen Interview im Tagesspiegel wird dagegen auch der so genannte Alarmismus beschrieben, und die Frage, wieso Menschen sich trotz der genauen und alarmierenden Vorhersagen von Wissenschaftler:innen so wenig für den Klimawandel einsetzen. Interviewpartner ist ein Literaturwissenschaftler, und er sagt, er lehne das Narrativ "Es ist 5 vor 12" ab, denn:

"Der Alarmismus apokalyptischer Erzählungen, die suggerieren, der Weltuntergang stehe kurz bevor, führt nur zu Resignation. Dann kann man in den letzten fünf Minuten auch weiterkonsumieren und noch so gut es geht das Leben genießen. Aber so alarmierend die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind – sie geben gar nicht her, dass ein zivilisatorischer Totalzusammenbruch kurz bevorsteht. Das Leben wird weitergehen, und wir müssen es neu gestalten. Apokalyptische Denkmuster lähmen uns da nur."

Auf die Frage, ob dieser "Alarmismus" nicht auch zu Aktionen führt, sagt der Gesprächspartner:

"Er hat viele Menschen aufgerüttelt, mich selbst auch. Und in Hollywood hat es deutliche Spuren hinterlassen. Doch er verbraucht sich schnell und stößt große Teile der Bevölkerung ab, weil dabei so sehr die Moralkeule geschwungen wird und so getan wird, als seien nur einzelne Bösewichte verantwortlich."

Zudem geht es um die "Ausbeutung der Natur im Gilgamesch-Epos", den potentiellen Erfolg eines "Kollektivs als Helden" und die sehr interessante Frage, inwiefern neue Erzählungen zu Naturschutz und einem stärkeren Naturbewusstsein beitragen können – was gar nicht so einfach sei, denn, so meint der Experte:

"Um die für ein modernes Publikum faszinierend aufzuschreiben, muss man über sehr gute naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügen und sie in die fiktionalen Erzählungen einfließen lassen."

Das Huhn mit den zwei Flügeln

Da aber Autor:innen eben meistens Autor:innen und nur selten Naturwissenschaftler:innen seien, wäre das eine ziemliche Herausforderung. Und wenn einer versucht, beides zu sein, kommen bekanntlich merkwürdige Drogeriebücher heraus wie "Der neunte Arm des Oktopus", was man als Titel überhaupt nur mit einem gewissen Naturwissen spannend finden kann, zum Beispiel weil man von Kermit in seinem Lied "Der Garten eines Kraken" gelernt hat, dass ein Oktopus genuin gar keine neun Arme hat. Und dass das Ganze nicht etwa tautologisch zu lesen ist, etwa wie "Das Huhn mit den zwei Flügeln". Als großer Kermit-Fan war mir das mit dem Oktopus natürlich klar, beim Hühnchen müsste ich naturwissenschaftliche Ober-Laiin kurz überlegen. Schließlich kommen die Flügel meist in Großpackungen. Und ich seh ja auch so selten Hühner, weil ich die Natur vor allem dadurch schütze, dass ich nicht hineingehe.

Interessant bleibt, wie unterschiedlich verschiedene Medien mit der Herausforderung umgehen, beides, den Alarmismus und die unaufgeregte Ignoranz, in richtigen Portionen abzuwägen. Der britische Guardian versucht dahingehend gerade eine Menge. Hier ist ein Newsletter aus dem August, in dem die Chefredakteurin zunächst ein großes politisches Ereignis nutzt, um auf das Thema Klima zu kommen:

"On 21 July, Joe Biden’s withdrawal from the presidential race was the biggest story in the world. But something else happened that Sunday. It was the hottest day in recorded history, though not for long. The record was broken again just 24 hours later."

Sie beschreibt weitere gruselige Klimarekorde in diesem Jahr, und endet mit dem Zusammenhang zum Ausgang der US-Wahlen, und der Verantwortung der Wähler:innen:

"Climate scientists tell us that one of the most important things we can do is to elect leaders who can enact the major systemic changes we need, and there’s certainly been hope on that front this year. In June, Mexico elected climate scientist Claudia Sheinbaum as its next president and on Tuesday Kamala Harris chose Tim Walz, a noted climate champion, as her running mate. Next up, just the small matter of her winning the US election.”

Doomism hilft nicht

Um dem (bestimmt auch dort aufgebrachten) Vorwurf des Alarmismus zu begegnen, hat der Guardian einen weiteren Newsletter kurz darauf vom Klimaforscher Michael E. Mann als Gastautor schreiben lassen, der feststellt (ich übersetze, weil so lang):

"News reporting will play a major role in driving the political change we need to keep global warming below catastrophic levels. It is well past the time for fence-sitting: media outlets must call out bad actors so there is a public penalty for their misdeeds.

(…) More media groups should follow the Guardian’s example and decline to take money from the fossil fuel industry. The New York Times is a classic example of the corrupting influence of accepting fossil fuel money, having allowed BP as recently as 2022 to fund greenwashing podcasts with Times branding.”

("Die Berichterstattung wird eine wichtige Rolle dabei spielen, den politischen Wandel voranzutreiben, den wir brauchen, um die globale Erwärmung unter einem katastrophalen Niveau zu halten. Die Zeit des Zauderns ist längst vorbei: Die Medien müssen schlechte Akteure anprangern, damit ihre Verfehlungen öffentlich bestraft werden. (…) Weitere Mediengruppen sollten dem Beispiel des Guardian folgen und es ablehnen, Geld von der Industrie für fossile Brennstoffe anzunehmen. Die New York Times ist ein klassisches Beispiel für den korrumpierenden Einfluss der Annahme von Geldern aus fossilen Brennstoffen, da sie BP erst im Jahr 2022 erlaubte, Greenwashing-Podcasts mit Times-Branding zu finanzieren.")

Den Zusammenhang zwischen Finanzierung und redaktioneller Anteilnahme ist natürlich elementar. Auf "Doomism”, also den Alarmismus, geht Mr. Mann ebenfalls ein:

"I have occasionally criticised media outlets – including the Guardian – for what I consider unhelpful doomism in their coverage. But, while we certainly must drive home the urgency of climate action, we also need the kind of coverage often seen in the Guardian that emphasises the agency that we have. Messages of despair can potentially lead people down the path of inaction rather than action.”

("Ich habe Medienunternehmen – darunter auch den Guardian – gelegentlich dafür kritisiert, dass alarmistische Berichterstattung meiner Meinung nach wenig hilfreich ist. Aber während wir auf jeden Fall die Dringlichkeit des Klimaschutzes deutlich machen müssen, brauchen wir auch die Art von Berichterstattung, die oft im Guardian zu sehen ist und die unsere Handlungsfähigkeit hervorhebt. Botschaften der Verzweiflung können Menschen möglicherweise eher auf den Weg der Untätigkeit als des Handelns verleiten.")

Das klingt doch nach einer machbaren Methode: Berichterstattung, die trotz alarmierender Fakten die eigene Handlungsfähigkeit unterstreicht. Die taz nannte das im Jahr 2022 übrigens bei einem Gespräch mit einem Klimaforscher "den Spagat zwischen Fatalismus und Verharmlosung", und der Experte klang zwar eindringlich, aber fast noch gewissermaßen hoffnungsvoll. Doch das ist zwei Jahre her. Der heißeste Doomsday des Jahres ist leider mittlerweile verdammt nahe gerückt.


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  • Wie Übermedien hier berichtet, hat die Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) einen Beitrag des rechtspopulistischen Onlineportals "Nius" formell beanstandet. Die Nius-Herausgeber müssen nun eine "Verwaltungsgebühr" zahlen, weil auf dem Portal ein Artikel erschien, der Asylbewerber mit den Worten "Danke Deutschland! Wir haben uns die Zähne machen lassen" in Bezug zu Friedrich Merzs als falsch erwiesene Aussage setzt, Asylbewerber säßen "beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine." Anscheinend, schreibt Übermedien, bestehen bei der MABB Zweifel, ob bei den von Nius Befragten "eine für die Veröffentlichung notwendige Einwilligung vorlag." Der Nius-Post erinnert tatsächlich sehr an ein Titanic-Cover, aber scheint ernst gemeint gewesen zu sein.

  • Die großartige Disney+-Serie "Shogun" gewann am Sonntag 14 "Creative Awards Emmys", wie u.a. der Hollywood Reporter berichtet. Diese Auszeichnungen sind zwar nicht mi den "Primetime Emmys" zu verwechseln, aber auch schon ziemlich gut. Es gibt eh niemanden, der die 10000000 Emmy-Kategorien tatsächlich kennt und auseinanderhalten kann.

  • Taylor Swift könne Geschichte schreiben, sagt USA Today angesichts der am Donnerstagfrüh stattfindenden Video Music Awards, bei denen die Sängerin in zwölf Kategorien nominiert ist. Vor allem aber wartet man gespannt auf eine politische Äußerung in Sachen "Kamala-Endorsement", weiß die Variety. Spannend.

Am Mittwoch schreibt René Martens das Altpapier.

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