Kolumne: Das Altpapier am 9. September 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab 6 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 9. September 2024 Sind "die Menschen" überrepräsentiert?

09. September 2024, 09:37 Uhr

Der Komiker Luke Mockridge belegt, dass das Unterhaltungsfernsehen ideenarm ist. Produziert Journalismus, der "die Ängste der Menschen" ernst nimmt, Misstrauen bei anderen Menschen? Und: Es gibt eine neue Stiftungsinitiative für Journalismus. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Was Luke Mockridge beweist

Es ist schon ein trauriges Schauspiel, das der Komiker Luke Mockridge abliefert. Rechtzeitig zu den Paralympics und vor dem eigentlich geplanten Start einer neuen Sat.1-Show hat er in einem Podcast auf eine Weise über behinderte Menschen gesprochen, die einen beinahe mitleidig werden lässt: Hat da jemand seinen Beruf verfehlt?

Ich werde nicht zitieren, was er gesagt hat, es steht ohnehin überall. Es handelt sich, schreibt Anja Rützel bei spiegel.de (Abo-Text), eigentlich um einen Mockridge, wie man ihn kennt: "eine weitere Erbärmlichkeit (…), die einen als Kennerin seines Werkes (…) nur matt den Kopf schütteln lässt." Die Frage ist dann nur: Kann man das Ganze, wenn es noch nicht einmal eine neue Erbärmlichkeitsqualität hat, nicht einfach ignorieren? Das Kalkül ist ja klar: Auf die Kacke hauen ist PR.

Einer der Podcast-Hosts, schreibt die "Süddeutsche Zeitung" (Abo-Text) heute,

"hatte die Mockridge-Folge auf X im Sinne dieses Agendasettings angekündigt: 'Macht euch bereit Woke Bubble. Wie es sich für einen Kobold gehört, habe ich eine ganz ekelhafte Seite rausgekitzelt. Ich freue mich auf das Rumgeheule.' Das ist Verhöhnung mit Ansage, verfasst in der Überzeugung, dass jedes Wort der Gegenrede nicht rufschädigend, sondern profilschärfend wirkt."

Warum also bei der Profilschärfung mitmachen, wenn es nicht einmal etwas über Mockridge ans Licht bringt, was man nicht schon weiß? Sara Peschkes Antwort in der SZ: Man könnte es dann ignorieren,

"wenn es nicht schon so erfolgreich wäre und Leute wie Mockridge oder Oliver Pocher nicht die größten Mehrzweckhallen des Landes füllten. Wenn man sich ihrer nicht auch in klassischen Sendern wie ARD, ZDF oder Sat 1 gerne bediente: Das Prinzip Mockridge etwa kennt man auch beim ZDF, wo er vor ein paar Jahren im Fernsehgarten Achselhöhlen-Furzgeräusche und Affenlaute vorführte."

Was, übrigens, auch damals schon nicht originell, sondern ein PR-Stunt war (Altpapier). Und klar, so kann man argumentieren: Phänomene einer bestimmten Größenordnung kann man nicht so leicht übergehen. Zumal wenn sie etwas zeigen; in diesem Fall, dass das deutsche Fernsehen ein Unterhaltungsqualitätsdefizit hat (wobei es den jüngsten Mockridge-Fall als Beleg nicht zwingend gebraucht hätte). Dass Sat.1 am Sonntag "kaum etwas anderes übrig [blieb], als die Scherben aufzukehren und sich von der Idee zu verabschieden" (SZ), die Show also nächste Woche nicht auszustrahlen (dwdl.de), macht das Fernsehen jedenfalls nicht schlechter.

Noch ein Argument, das wichtigere in meinen Augen, wäre, dass viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Paralympics sich mittlerweile geäußert haben und man ihre Kritik nicht übergehen sollte.

Warum es freilich sinnvoll ist, der Angelegenheit gleich so viele Aktualisierungen zu widmen, als wär's ein Liveevent, über das zu berichten nur chronologisch und möglichst kleinteilig Sinn ergibt: Das kann man vielleicht schon fragen. Zwei Beiträge stehen auf der Medienseite der "Süddeutschen Zeitung", fünf auf spiegel.de, ein halbes Dutzend auf bild.de; stern.de und t-online.de bringen es auf jeweils noch mehr. Da sind zwar auch Agenturtexte dabei, die hier und da automatisiert einlaufen mögen, aber ein paar weniger hätten es schon auch getan, ohne dass man Gefahr gelaufen wäre, ein Thema von Relevanz zu verschweigen. Ob wohl jemand das Dutzend schafft?

Warum sind Berliner Klinikangestellte nicht "die Menschen"?

Dem Journalismus wurde und wird oft – und nicht zu Unrecht – vorgehalten, er schaue zu sehr mit einer Berliner Brille aufs Land. Das Kanzleramt, für das sich viele im Hauptstadtjournalismus über Gebühr und selbst in ihrer Europawahlberichterstattung vorrangig interessieren (Altpapier), ist nicht "das Land". Aber wer ist es? Die einfache Antwort, die mittlerweile so oft gegeben wurde, dass sie irgendwann einmal ein Fall für die "Hasswort"-Kolumne von "Übermedien" werden könnte, ist: "die Menschen", deren Sorgen und Nöte "ernstgenommen" werden müssten. Doch wer sind die?

Berliner Klinikangestellte scheinen nicht gemeint zu sein, vermutet Nils Minkmar, der am Sonntag in seinem Newsletter "Der siebte Tag" Beobachtungen aus einem Krankenhaus wiedergab. Er beschrieb darin auch das in dieser Frage steckende Dilemma für Journalisten: Entweder sie greifen die Ängste "der Menschen" auf. Oder sie gelten als treudoofe Regierungs-PR-ler:

"Mein Eindruck war, dass die Leute [gemeint sind die Klinikangestellten; Altp.] ihren Job gut und gerne machen und mit ihrem Leben zufrieden sind. Vielleicht ist es an vielen Stellen im Land so – aber als Journalist kann man das nicht abbilden. Man würde sofort der naiven Affirmation bezichtigt und verdächtigt, die wahren Probleme der Menschen zu ignorieren. Oder die Sorgen, die noch kommen. Oder die Nöte der anderen. Dabei sind dauernde Angst und die Verkennung, dessen, was in Europa gut ist, wirksame Treibstoffe für die Höckes und Wagenknechts dieser Republik. Vielleicht ist es genau umgekehrt: Der mediale Grundton, nachdem alles immer schlimmer wird, trifft die Realität nicht und führt dazu, dass Leute gar keine Medien mehr zur Hand nehmen."

Was Minkmar damit nicht sagt: dass man künftig doch lieber wieder vorrangig auf Berlin schauen sollte, wenn man deutsche Befindlichkeiten und Wirklichkeiten erkunden will. Was er sagt, ist, dass die Sorgen und Ängste bestimmter Menschen derzeit ernster genommen werden als die anderer.

Ist "der Westen" unterrepräsentiert?

Die Frage, ob diejenigen, die es sich mittlerweile zur Gewohnheit gemacht haben, sich von "den Medien" und "der Politik" unterrepräsentiert zu fühlen, eigentlich womöglich überrepräsentiert sind, beschäftigt auch andere. In der Wochenzeitung "der Freitag" (Abo-Text), der man gewiss nicht nachsagen kann, blind für ostdeutsche Perspektiven zu sein, weist Katharina Schmitz (westdeutsch) darauf hin, dass nicht nur "der Osten" Transformationserfahrungen hinter sich habe – sondern auch "der Westen". Sie schreibt:

"Ich habe mich in den letzten Jahren nicht nur einmal gefragt, ob irgendwer auch mal konzediert, dass die 1990er­Jahre eine radikale Transformationserfahrung für Millionen Deutsche in Ost und West waren. Auch im Westen gingen in dieser Zeit ganze Industrien den Bach runter. (…) Die 'Übernahme‘ des Ostens durch den Westen hat zu zigzigzigfachen Brüchen in Erwerbsbiografien geführt. Das ist richtig, aber ganz nebenbei ist auch meine berufliche Biografie geprägt von Neoliberalisierung, Niedriglohnsektor, Generation Praktikum, Phasen der Zeitarbeit, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung erwerbstätiger Mütter. Von Bundespräsident Herzogs 'Wir müssen alle den Gürtel enger schnallen‘. Von all den Alternativ- und Perspektivlosigkeiten."

Das ist, natürlich, provokant, weil die Transformation des Ostens nicht nur Erwerbsbiografien betraf, sondern auf viel mehr Ebenen stattfand.

Dennoch: Wenn zum Beispiel Sahra "Die Menschen wollen Veränderung" Wagenknecht, deren Festspiele am Wochenende mit einem "Spiegel"-Titel, einem "Freitag"-Titel und im Talk mit "Caren Miosga" weitergingen, beansprucht, für "die Menschen" zu sprechen [Nachtrag: siehe dazu Thomas Schmids lesenswerte Notizen auf seinem "Welt"-Blog], dann könnte ja im nächsten Interview mal jemand die Anschlussfrage stellen, wen genau sie eigentlich meine. Sind da zum Beispiel auch welche aus Bochum dabei? Oder welche, die in Pirna oder Plauen "ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben, die Syrer aufgenommen haben, die als Schwule und Lesben leben wollen. Die unendlich vielen Zivilprojekte gestartet haben, um ein normales, buntes Leben zu leben"?

Das Zitat ist von der Publizistin Ines Geipel, zu deren Hauptthemen die zwei unaufgearbeiteten Diktaturen in Ostdeutschland zählen, und stammt aus einem Interview, das sie der neuen Ausgabe des Magazins "tazFuturZwei" gegeben hat (für die Transparenz: für das ich Serienrezensionen geschrieben habe). Für diese Menschen, sagt Geipel, "wird es eng. Sowohl AfD als auch BSW machen auf Heimat, Familie, Nationales. Ein Sammlungsappell ans ostdeutsche Lagerfeuer und gegen das andere, das Außen." Man sollte generell skeptisch sein, wenn jemand zu wissen behauptet, was "die Menschen" wollen. Es ist ein Trick. Die Menschen, das sind immer auch andere Menschen.

Eine neue Journalismus-Initiative

Es gibt Menschen (und es dürften auch einige unter "den Menschen" sein), die einen roten Kopf kriegen, wenn sie "Medien" hören, aber quasi in einer Bibel zu blättern meinen, wenn sie "Alternativmedien" rezipieren. Ob und wie man deren Distanz verringern kann; wie man, vielleicht, ihr Vertrauen in den Journalismus zurückgewinnen kann: Das ist eine Frage, mit der sich die Branche seit Langem beschäftigen muss. Und eine ökonomische Dimension hat die Krise der Medien ja bekanntlich auch.

Harald Staun stellt in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (derzeit nur mit Abo online) nun eine neue Stiftungsinitiative in Berlin vor, Publix, die daran arbeiten will, die Distanz zu verringern und die Krise zu entschärfen. Anlass gibt's genug:

"Die Medienvielfalt, so die Diagnose, nimmt ab, nicht nur auf lokaler Ebene, aber dort besonders extrem. Und nicht nur in den entstehenden 'Nachrichtenwüsten‘ werden viele Menschen nicht mehr erreicht, sondern auch dort, wo gründlicher Journalismus sonst nicht mehr hinkommt: in Bevölkerungsgruppen mit Einwanderungsgeschichte oder niedrigem Einkommen; auf Plattformen, auf denen man sich gegen die computergenerierte Auswahl der Informationen kaum wehren kann; oder in Milieus, in denen sich mittlerweile eine sehr gespenstische Vorstellung davon festgesetzt hat, was man für 'alternative‘ Berichterstattung hält."

Staun klingt alles in allem recht angetan von den Plänen. Etwas skeptisch ist er nur,

"ob es dem Journalismus wirklich so gut tut, wenn er von Stiftungsgeldern abhängt. Und ob ein ganzes Haus voller gemeinnütziger Projekte nicht den Medien, die sich auf dem Markt behaupten müssen, das Leben noch schwerer macht – auch den kritischen."

Aber man muss die neue Initiative natürlich erst einmal anfangen lassen.


Altpapierkorb ("Compact"-Verbot, LfM vs. "Multipolar", "Y-Kollektiv", US-TV-Duell, Beckedahl über Plattformregulierung)

+++ "Was genau ist schiefgelaufen beim Versuch der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), dem rechtsextremen Magazin Compact den Garaus zu machen?", fragte Ronen Steinke für die Samstags-"SZ" (Abo-Text) Björn Schiffbauer, der an der Universität Rostock Öffentliches Recht lehrt. Er spricht von einer "vorerst" krachenden politischen Niederlage Faesers, weil ihr Ministerium "das Gewicht der Pressefreiheit falsch eingeschätzt" habe und "dem Bundesverwaltungsgericht "jetzt noch einmal sehr viel mehr Stoff und Kontext liefern" müsse, "um seine Vorwürfe gegen die hinter dem Compact-Magazin stehende Vereinigung belastbar zu untermauern." Vom Tisch sei ein Verbot allerdings deswegen nicht, sagt er.

+++ "Ein Gesetz, das freie Medien auf die Einhaltung im Zweifel schwammiger journalistischer Grundsätze verpflichtet – und das von Aufsichtsbehörden überprüfen lässt?" Stefan Niggemeier ist in einem "Übermedien"-Text (Abo) "etwas unentspannt" angesichts des recht neuen Paragraphs 19 des Medienstaatsvertrags über "Sorgfaltspflichten". Anlass ist ein Hinweisschreiben der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Medien an das zum Verschwörungsglauben neigende Magazin "Multipolar", das es versteht, das Vorgehen zu skandalisieren.

+++ Lisa Kräher kritisiert in ihrem "Übermedien"-Newsletter (Abo) einen neuen ARD-Film des "Y-Kollektivs", die Doku "Jung, viral, rechtsradikal?". Erstens, weil man wieder mal ausführlich Journalisten beim Recherchieren zuschauen müsse. Zweitens fragt sie, warum "man der sogenannten rechten 'Bubble‘ so viele Vorlagen" liefere, "von ihr zerpflückt zu werden? Sollte man so einen Mechanismus in Zeiten, in denen bei YouTube eine Informationsschlacht mit Statement- und Reaction-Videos ausgetragen wird, nicht besser mitdenken?"

+++ Die erste Debatte zwischen Donald Trump und Kamala Harris läuft, wie epd Medien meldet, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch live auf voraussichtlich mindestens vier deutschen Fernsehsendern, RTL, ntv, Welt TV und in der ARD.

+++ Markus Beckedahl, der hier im Altpapier schon oft zitiert wurde, vor allem mit seinen Texten auf Netzpolitik.org, schreibt im oben zitierten Magazin "tazFuturZwei" über den Anteil der Plattformen am "Erstarken autoritärer und rechtsradikaler Ideen und Akteure" und Auswege aus der Plattformpublizistik des gegenwärtigen Zuschnitts:

"Der entscheidende Punkt ist: Wir müssen digitale Öffentlichkeiten weiterentwickeln, um uns aus diesen privatisierten Öffentlichkeiten zu befreien. Wir brauchen mehr kompetente Gedanken, wie wir eine gemeinwohlorientierte digitale öffentliche Infrastruktur schaffen können, um die öffentliche Debatte und damit die Demokratie zu stärken. Diese Infrastrukturen fallen nicht vom Himmel, sie brauchen Investitionen und neue Finanzierungswege, um die kritische digitale Infrastruktur der digitalen Öffentlichkeiten unabhängig von wenigen Unternehmen zu schaffen und zu betreiben. Vor allem gehen wir bisher nicht an das Kernproblem ran: Das ist [das] Geschäftsmodell der personalisierten Werbung. (…) Ein Verbot dieses Geschäftsmodells wäre möglich, findet aber bisher keine Mehrheiten. Eine Reform des Werbemarktes ist eine der wichtigsten Aufgabenstellungen für die gerade beginnende europäische Legislaturperiode."

Am Dienstag schreibt das Altpapier Jenni Zylka.

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