Kolumne: Das Altpapier am 16. August 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels 5 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 16. August 2024 Megathema Meinungsfreiheit

16. August 2024, 09:52 Uhr

An zwei, äh, Fronten wird vielstimmig über das gleiche Thema diskutiert. Was bedeutet das Scheitern von Innenministerin Faesers "Compact"-Verbot? Und kann die EU dem Missbrauch von Meinungsfreiheit Grenzen setzen – im Streit mit X-Eigentümer Elon Musk und besser noch, darüber hinaus? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Verwaltungsgerichts-Paukenschlag hallt nach

Das war ein Paukenschlag, die gestern (Altpapier) überraschend verkündete Bundesverwaltungsgerichts-Entscheidung, das Verbot der Zeitschrift "Compact" vorerst aufzuheben. Schon was den Zeitpunkt angeht. Auch der Chefredakteur und Geschäftsführer Jürgen Elsässer war

"davon ausgegangen, dass eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts über den Eilantrag erst nach den drei Landtagswahlen im September erfolge",

schreibt "epd medien". Von "unerwarteter Unterstützung" für die AfD, "zwei Wochen vor zwei Landtagswahlen im Osten" schreibt Günter Herkel bei mmm.verdi.de. Klar, während Elsässer "dies als Sieg verbucht, bleibt ungewiss, ob das Verbot dauerhaft aufgehoben wird", überschreibt die "SZ" (Abo) ihren Bericht online. Doch Elsässers im gestern hier verlinkten Video auf X/ Ex-Twitter geäußerte Ansicht, dass es bis zum Hauptsache-Verfahren zwei oder drei Jahre dauern werde und seine Medien jedenfalls solange erscheinen, nachdem ein wenige Wochen gültiges Verbot die Aufmerksamkeit für sie erhöht hatte, wird auch oft zitiert. Überhaupt zirkulieren gerade mehr Elsässer-Sätze als das, was Innenministerin Nancy Faeser dazu sagte.

"Mal gewinnt man, mal verliert man", bricht der österreichische "Standard" ihre Äußerungen herunter, um dann Elsässer mit "Vor Faesers Attacke haben uns vielleicht zwei Millionen Deutsche gekannt. Jetzt dürften es 60 Millionen sein" zu zitieren. Vielleicht sind's zehn oder zwanzig Millionen weniger, aber ähnlich dürfte es sich verhalten. Und dass der Verfassungsschutz, wenn er sich zu Medien äußert, zumindest auch deren Marken-Bekanntheit und Markentreue erhöht, könnten sie bei der völlig anders orientierten "Jungen Welt" (die neulich gegen ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz klagte und vorm Berliner Verwaltungsgericht verlor) bestätigen. Die zählt zur äußerst überschaubaren Gruppe der Tageszeitungen, deren Auflage steigt. "Die Tendenz, Grundrechte bei Behördenentscheidungen bedenkenlos zu missachten und den Beamtenapparat, die Exekutive zugleich als Gesetzgeber und Justiz entgegen allen Erzählungen von Gewaltenteilung wirken zu lassen ...", erkennt das sehr linke Blatt jetzt wieder.

"Da sitzt er nun, trinkt Champagner", schäumt Michael Hanfeld in der "FAZ", mit Bezug wiederum auf Elsässers X-Video. Wobei die Champagner-Genüsslichkeit sozusagen die andere Seite der Medaille der Bilder darstellt, die im Juli zeigten, wie Elsässer im Bademantel jeder Menge Polizisten gegenüberstand. Das wurde ja auch gerne kommentiert wurde (z.B. Böhmermann bei X). Wenn "Telepolis" schreibt, dass die damalige Verbots-Aktion "erkennbar politisch inszeniert und medial koordiniert" war, hat es da recht.

Hanfeld goss seine Wut über Elsässers Gehabe in einen Feuilleton-Aufmacher (Abo), der also nicht auf seiner auch wieder prallvollen Medienseite steht, und rührt darin alles zusammen, was es an Medienpolitik des Bundes gibt. Dazu gehören allerhand Klagen einzelner Ministerien und Bundesbeauftragter etwa gegen Julian Reichelts "Nius", die smartere Regierungsmannschaften als die Ampelkoalition sich erspart hätten, weil nicht selten die Gegenseite gewann (vgl. z.B. lto.de). Bloß Nancy Faesers Beamtenstäben entgingen sozusagen die erzielten Streisand-Effekte:

"Machtkritik ist erlaubt, Systemkritik ist erlaubt. Das hätte sich die Bundesregierung hinter die Ohren schreiben müssen. Dass sie es nicht tat, verwundert allerdings nicht. Nancy Faesers peinlicher Ausritt entspricht nämlich dem insgesamt gestörten Verständnis der Ampelkoalition, zumindest des rot-grünen Teils der Regierung, von Pressefreiheit und ihrem machttaktischen Verhältnis zur Presse: Kritiker werden verklagt, Claqueure hofiert. Eine Zustellförderung für unabhängige Zeitungen und Zeitschriften gibt es nicht, dafür aber direkte Zuwendungen für 'gemeinnützigen' Journalismus."

Bei einer der Speerspitzen des gemeinnützigen Journalismus handelt es sich ja um das schon als gemeinnützig anerkannte correctiv.org, deren "... Geheimplan gegen Deutschland"-Recherche Hanfeld dann auch noch reinrührt. Seine Conclusio lautet dann: "Gewonnen hat indes die Meinungs- und Pressefreiheit, die eben auch für all jene gilt, deren Meinung man nicht teilt, die man für falsch oder für gefährlich hält."

"Dass zur ihren vordringlichsten Aufgaben der Schutz von Grundrechten gehört, ist der Ministerin offenbar entgangen", formuliert es Gewerkschafter Herkel. Solche Aspekte waren in ziemlich vielen deutschen Diskursen in Vergessenheit geraten. Nun sind sie, hoffentlich, wieder weitgehend mehrheitsfähig sein. Das Positive an der Sache besteht ja im Beleg, dass ein echter Rechtsstaat Fehleinschätzungen selbst von Regierungen korrigiert, wie Ralf Heimann gestern hier argumentierte. Dass die Bundesregierung sich "in eine Reihe zum Beispiel mit dem türkischen Erdogan-Regime" gestellt hatte, lautete meine Einschätzung zum Verbot. Jetzt steht Deutschland doch nicht mehr in dieser Reihe.

Mehr oder weniger dasselbe Thema Meinungsfreiheit wird auf einer europäisch-globalen, zumindest transatlantischen Ebene am Beispiel eines durchgeknallten Superreichen und der Plattform, die er gekauft und umbenannt hat, ebenfalls vielstimmig diskutiert.

Die EU-DSA/Musk-X-Frage I (Breton)

Sogar ein offizieller "Der Spiegel-Leitartikel" (Abo) unter der Überschrift "Die EU muss die Maschine der Demokratieverachtung bremsen" befasst sich mit Elon Musk und dem Ex-Twitter X. Leider endet der Artikel nicht mit einer Idee, wie denn bremsen, sondern beim technischen Thema des Internetzugangs via Satellit (an dem die EU rumdenkt, während Elon Musk schon lange darin aktiv ist; mit seiner "Starlink"-Hilfe für die Ukraine bekam er ungefähr letztmals positive Presse in EU-Europa).

"... Dass Musk lautstark Fake News verbreitet und einen Kandidaten im Präsidentschaftswahlkampf unterstützt, mag für einen CEO seiner Größenordnung ungewöhnlich sein, verboten aber ist es nicht. Lügen und auch Hetze sind in den meisten Fällen von der Meinungsfreiheit gedeckt. Musk darf posten, was er will, solange er keine Gesetze verletzt. Seine Plattform allerdings darf er nicht nach Gutdünken führen. Denn Social-Media-Plattformen sind ein wichtiger Ort der öffentlichen Meinungsbildung. Sie müssen sich an Regeln halten. Selbst wenn Elon Musk zur Vernunft käme, bliebe das grundlegende Problem ..."

schreibt Autor Max Hoppenstedt mit Recht. Das Problem besteht ungefähr darin, dass es nicht an der Vernunft einzelner Superreicher hängen darf, wie eine als Medien-Infrastruktur wahrgenommene und genutzte Plattform die Meinungsfreiheit wahrt und deren Missbrauch Grenzen setzt. Auch dafür hat die EU in langjährigem Ringen das Digitale-Dienste- und das Digitale-Märkte-Gesetz erlassen. Jetzt muss sie damit anfangen, die Acts auch jenseits der Playstores der Monopolisten Android/Google und Apple durchzusetzen. EU-Kommissar Thierry Breton hat dem Vorhaben mit seinem Brief, um es vorgestern im Altpapier "Elon Musks Laberpodcast .. mit Donald Trump geht die EU nichts an" ging, keinen Gefallen getan. In der Kommission, die sich derzeit neu bildet, löste der "offiziell wirkende Brief an Musk, den Breton am Montag ausgerechnet auf X veröffentlichte" keine reine Freude aus. Der Franzose

"habe mit seinem Brief auf eigene Faust gehandelt: 'Der Zeitpunkt und Wortlaut des Schreibens wurden weder mit der Präsidentin [Ursula von der Leyen] noch mit dem Kollegium der Kommission abgestimmt oder vereinbart', hieß es in einem gestrigen Presse-Briefing "

berichtet netzpolitik.org (und wundert sich dann noch über das Faible, das neben einigen Mitgliedern auch die Kommission selbst für X hegt und sich auch in dort geschalteter Werbung äußere). "Brussels slaps down Thierry Breton over 'harmful content' letter to Elon Musk" titelte die "Financial Times", die ja auch in die USA ausstrahlt.

DSA/X-Frage II (Providerprivileg, "vordigital")

Die Frage, wie die EU auf die Millionen bis Milliarden Nutzer verbindenden, ausschließlich außerhalb Europas ansässigen, in Echtzeit funktionierenden Plattformen sinnvoll einwirken kann, bleibt best ... Doch halt, hier kommt das Patentrezept! "Behandelt X endlich wie alle anderen Medienhäuser", lautet es und erschien kam in Form des wiwo.de-Newsletters "Daily Punch". Autor Thomas Kuhn schreibt da:

"Bisher verstecken die Konzerne sich hinter der Argumentation, nur Technologieunternehmen zu sein und keinerlei Verantwortung für die über sie verbreiteten Inhalte übernehmen zu müssen. Wer auch immer diese Ausrede bisher zu akzeptieren bereit war, muss umdenken. Dienste wie X oder Facebook, Instagram oder TikTok müssen endlich als das reguliert (und bei Verstößen sanktioniert) werden, was sie sind: Medienplattformen größter Reich- und Wirkweite. Und als solche müssen sie endlich für jeden Verstoß gegen journalistische Sorgfaltspflichten, für jede verbreitete Lüge, für jede Hassbotschaft ... ...  verklagt und die Verantwortlichen mit empfindlichen Strafen sanktioniert werden."

Warum ist da niemand früher draufgekommen? Aber Spaß beiseite. Beleidigungen verklagen, da engagiert sich die Ampelkoaliton kräftig. Ich hatte kürzlich hier das Solinger Beispiel verlinkt, wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann der Beleidigung "Flintenweib" wegen eine Geldstrafe erwirkt hatte. Ob so was das Netz besser macht oder eher hochbezahlte Juristen von Wichtigerem abhält, muss sich noch zeigen. Ansonsten schlägt die "Wiwo" mehr oder weniger vor, das US-amerikanische Providerprivileg der 1990er zurückzudrehen, das auf disruptivste Weise die Medienwelt umpflügte und qua Marktmacht fast weltweit gilt. Das besäße gewiss Charme, ließe sich aber, selbst wenn in der EU alle einig wären, ohne die gesamte US-amerikanische Gesetzgebung aber nicht verwirklichen. (Wobei, kürzlich tauchte dieses Providerprivileg im Zusammenhang mit einer durchaus aussichtsreichen US-Präsidentschafts-Kandidatin im Altpapierkorb auf ...).

Fairerweise muss gesagt werden: Dieser Schnellschuss (der das Musk-Trump-Gelaber auch noch als "klassisches TV-Format" bezeichnet, obwohl es sich doch um reines Audio handelt ...), ist Teil eines Pro & Contra der "Wiwo". Die Gegenmeinung von Philipp Mattheis überzeugt mehr:

"Alles, was nicht strafbar ist, ist von der Meinungsfreiheit gedeckt. Punkt. Eine Vorab-Moderation solcher Inhalte ist weder praktikabel noch wünschenswert. Wer das fordert, ist geistig im vordigitalen Zeitalter stehengeblieben. Und deswegen ist die Diskussion um die 'Regulierung' von X auch eine Scheindiskussion ..."

Das wird vielen Musk-Gegnern nicht schmecken. Für meinen Geschmack hat Mattheis weithin recht. Zumal die kurz darauf folgende Argumentation

"Natürlich findet auch auf X hybride Kriegsführung und Propaganda statt. Peking und Moskau versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, indem sie sich Plattformen bedienen, die sie selbst einschränken. Doch diese Versuche bekämpft man nicht, indem man sich mit Zensurmaßnahmen dem Gegner angleicht – sondern indem man bewusst die Foren der Meinungsfreiheit stärkt",

nahtlos an das anschließt, was gerade zur "Compact"-Frage so gesagt und geschrieben wird.

Vorm Altpapierkorb noch was zum Schmunzeln (oder?). Es geht um einen ehemaligen EU-Kommissar, der sogar ein deutscher Pionier der Digitalpolitik war. Zumindest wirkte Günther Oettinger, von 2014 bis 2017, als er befördert wurde, als EU-Kommissar für Digitalwirtschaft. Jetzt im Ruhestand, wirkt er "auch als Berater für den Onlinemodehändler Shein" – den die EU-Kommission gerne mit dem DMA zu packen bekommen möchte (oder durch eine Anpassung der Zollgebühren, die schon in wenigen Jahren in Kraft treten könnte ...), meldet das "FAZ"-Wirtschaftsressort/Abo. So geht EU-Europa.


Altpapierkorb (Buchhandels-Zeitschrift, "Verbot war richtig", MDR-Abschaltbarkeit, Herkunfts-Nennungs-Frage, Habeck bei "Politico")

+++ Ist das (leider) sogar doppelt aussagekräftig? "Buchmarkt", die "Fachzeitschrift für den deutschsprachigen Buchhandel" wird zum Jahresende eingestellt, melden "FAZ" und "epd medien": "Grund dafür seien 'die allgemeine Marktentwicklung und die Kostensteigerungen'. Der Geschäftsführer der Buchmarkt Media GmbH, Julian Müller, sagte: 'Die Lage der Printmedien-Landschaft ist aktuell so angespannt wie wohl selten zuvor'". Die derzeit von der Zeitschrift gemanagten "Spiegel Bestseller"-Listen und -Aufkleber, die im Buchmarkt ja wichtig sind, sollen aber erhalten bleiben. +++

+++ Am frühen Morgen kommt doch noch eine "Das 'Compact'-Verbot, teilweise ausgesetzt, war trotzdem richtig"-Meinung rein. Ambros Waibel kommentiert in der "taz" u.a.: "Selbstverständlich wäre es besser als ein staatliches Verbot, wenn sich um jede Verkaufsstelle von 'Compact' spontan eine den Vertrieb blockierende Menschenkette bildete ..." +++

+++ Die wie gesagt prallvolle "FAZ"-Medienseite bringt u.a. (Abo) eine neue Antwort auf die Frage, ob Björn Höcke als Ministerpräsident den MDR in Thüringen abschalten könnte. Doch, schon, sofern er für eine "neue Rundfunkanstalt des Freistaates Thüringen" sorgt, was so schwierig nicht wäre, sagt der Leipziger r Medienrechtler Hubertus Gersdorf. +++

+++ Zur Herkunfts-Nennungs-Frage, über die ich vor einer Woche im Altpapier "Weglassen hilft nicht" schrieb, gab es dann noch "Spiegel"-Beiträge. Wenn in Berichten über ""Messerdelikten, wo je nach Bundesland etwa die Hälfte der Tatverdächtigen keinen deutschen Pass hat", die Herkunft "genannt wurde, handelte es sich jedoch fast immer um Ausländer. Diese Verzerrung ist der Alltag, nicht das Verschweigen", sagte im Interview der Hamburger Journalismus-Professor Thomas Hestermann. +++ "In aufgeklärten wiewohl aufgeheizten Gesellschaften ist es fast immer gut, mehr zu wissen als weniger. Man sollte auch keine große Rücksicht auf jene nehmen, die dieses Wissen missbrauchen wollen. Nichtwissen lässt sich auch missbrauchen. Meistens sogar noch viel schlimmer", kolumnierte dann noch Nikolaus Blome. +++

+++ Und einen ganz schönen Coup landete Springers "Politico", als bei ihm im Podcast und dann auch im Newsletter Robert Habeck nicht nur seine Kanzlerkandidatur ankündigte, sondern auch Sachen sagte, die die Baerbock-Fanfraktion ganz schön ärgern können bis müssen. "Nicht gerade kanzlertauglich", ärgert sich schon mal der "Tagesspiegel" (Abo).

Nachdem diese Woche jemand drei Altpapiere schrieb, wird am Montag ein ganz neuer Autor debütieren! Erst mal aber schönes Wochenende ...

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