Kolumne: Das Altpapier am 12. August 2024 Tom Cruise haut uns raus
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12. August 2024, 09:42 Uhr
Die Abschlussfeier der Olympischen Sommerspiele war wieder ein Medienevent – inklusive zu wenig kultureller Fachkompetenz. Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Musk und weitere Christen
Weiß Gott, beziehungsweise Dieu sait: Es ist nicht leicht. Nach der auf sämtlichen Ebenen interessanten Eröffnung der olympischen Sommerspiele in Paris vor gut zwei Wochen, die einen lang anhaltenden Rattenschwanz an medial präsentiertem Tadel, Entschuldigungen, Kommentaren und Shitstorms nach sich gezogen hatte (etwa hier, hier, hier und hier), obwohl sie tatsächlich einfach nur die Vielfalt des Lebens feierte, und davon ausgegangen war, dass gerade christlich denkende Menschen die Idee der inklusiven Tafel lieben, konnte man sich die Nervosität der Beteiligten bei der Abschlussfeier gut vorstellen.
(Nur kurz zurückgeblickt: Es ging bei der Eröffnungsshow unter anderem um die Darstellung eines der berühmtesten Motive der Kunstgeschichte, Leonardo da Vincis um 1497 entstandenes Gemälde vom Abendmahl, weder die erste noch die letzte Interpretation übrigens, es gibt das Abendmahl mit weiblichen Künstlerinnen und Malerin Georgia O' Keefe als Jesus, in einer anderen Version scharen sich alle um John Lennon. Aber wenn queere Menschen die Tafel zelebrieren, nehmen "Elon Musk und weitere Christen" (so hieß es im Boulevardblatt Blick) Blasphemie wahr. Weil sie sich und ihren Glauben nicht von queeren Menschen repräsentiert sehen wollen, Gott bewahre, aber andersherum davon ausgehen, queere Menschen selbstredend repräsentieren zu können. Machen sie ja schon immer. Abgesehen davon stand laut Regisseur Thomas Jolly gar nicht dieses Bild Pate für die Szene, sondern ein Gemälde namens "Mahl der Götter" von Jan van Bijlert, wie u.a. katholisch.de berichtete, kicher. Ist auf jeden Fall mehr Haut drauf.)
Themen-Spagat
Auch dem für Deutschland live vom Schlussakkord berichterstattenden Sender ZDF merkte man überdies die Spagat-Bemühung an, einerseits die mit viel Leidenschaft und Pathos, sowie dem inflationären Gebrauch der Worte "Gänsehaut", "olympische Gefühle" und der Phrase "Schauen Sie sich das mal an" garnierte Olympia-Stimmung zu verbreiten, und andererseits die offensichtlichen Probleme keinesfalls zu ignorieren. Am Sonntagnachmittag besuchte man in der Sendung "Eine olympische Bilanz" zum Beispiel kurz ein Pariser Banlieu, um sich dort von einem Street Worker zwischen leeren Lachgasflaschen und Beton-Hochhäusern die Kritik und das Desinteresse vieler Bewohner:innen erklären zu lassen:
"Hier profitieren die Menschen nicht von den olympischen Spielen. Weil die Tickets sehr teuer sind. Für Olympia hat die Regierung zwei Millionen Euro ausgegeben. Also ist das Geld scheinbar da, wenn sie es wollen. Das stört mich ein bisschen…".
Der Dauereinsatz des Revolverheld-Olympia-Jingles "Du kannst dir alles einfach machen / Oder du kannst es einfach lassen" passte insofern schon wieder nicht die Bohne: Was heißt denn in dem Zusammenhang "einfach lassen"…?!
Abends kommentierten die ZDF-Journalist:innen Nils Kaben und Anne Arend das Lichtspektakel im Stade de France, also ein Sportexperte und eine Frankreich-Korrespondentin. Was man angesichts der dargebotenen Inhalte und Form zumindest mal überdenken oder ergänzen könnte: Schließlich wurde vorher lange und laut gemunkelt und geleakt, welche Pop- und sonstige Künstler:innen die Bühnen in Paris und Los Angeles betreten, dass die Show unter Thomas Jollys Regie zudem wieder theatralisch und opulent ausfallen würde, war ebenfalls klar. Vielleicht hätte man also den zwar Sport- und Frankreich- aber nicht unbedingt popkulturaffinen Kolleg:innen im Sinne der Fachkompetenz ruhig jemanden mit Expertise im Bereich Kultur zur Seite stellen können. Jemand, der nicht, wie geschehen, "By the way" von den Red Hot Chili Peppers mit "Californication" verwechselt, der Jollys zwischen Grandezza und Camp schlingernde Ideen erfasst, und der die gesellschaftliche Bedeutung von Debussy, Justice vs Simion oder Air tatsächlich vermitteln kann.
Von Krönungen lernen
Bei Krönchen-Sendungen geht das schließlich auch: Mittlerweile sitzen bei den meisten medial übertragenen royalen Get Togethers (egal ob Coronation oder Begräbnis) Mode- oder Lifestyle-Sachkundige neben den so genannten bzw. selbsternannten "Adelsexpert:innen", und erklären der erstaunten Runde alles über A-Linie- oder Prinzessinnenkleid-Schnitte. Denn selbst, wenn die mehr oder minder siegreichen Hobby-Gladiator:innen eine Stunde lang beim Einzug in die Arena gezeigt werden, und es natürlich die letzten 15 Tage größtenteils um sportliche Leistungen ging, war das am Sonntag doch eine Show, die ihre Botschaften nicht sportlich, sondern kulturell kommunizierte.
Für ihren One for the road-Talkrunden-Abschluss hatte das ZDF-Studio dann die Ex-Olympioniken Kristina Vogel und Ronald Rauhe sowie den Korrespondenten Thomas Walde eingeladen. Und der analysierte zum Glück mal eben knapp und treffend die Vorgänge rund um die Übergabe der olympischen Flagge, die vom Haudegen Tom Cruise per Motorrad und diversen fliegenden Kisten von Frankreich in die USA geschaukelt wurde (ganz ohne den "biggest stunt in history" aus Mission Impossible 7, darauf zu verzichten fiel Cruise bestimmt schwer. Zudem war der kleine Die Queen-und-James Bond-Flugzeugfilm von London 2012 ja doch noch ein bisschen lustiger, allein wegen der Corgis). Hier jedenfalls Waldes präzise Analyse der gesamten Chose:
"Die Franzosen haben versucht, einen Überbau zu erzählen, mit Thomas Jolly, der vom Theater kommt, und viel Abstraktion in dieser Geschichte. Dann geht man nach Los Angeles und bekommt 1:1 Showtime in your face, boom. Es geht los. Wir haben hier immer gehabt Eiffelturm, Versailles, diese ganzen historischen Dinger. Und wir landen in Los Angeles am Strand. Bei Strandhütten."
Wo dann nämliche Red Hot Chili Peppers, Billie Eilish, Snoop Dogg und Dr. Dre warteten, um vor tanzenden Beach Kids mit Baseballcaps die amerikanische Kultur zu feiern. Walde fiel zudem auf, dass Macron gar nicht – wie üblich - ausgebuht worden ist.
"Das passiert ihm selten derzeit in Frankreich, wenn er irgendwo auftritt. Und er ist sogar namentlich angesprochen worden, er wurde erwähnt, und es war trotzdem Ruhe. Daran sieht man, dass im Publikum viele internationale Besucher waren. In Frankreich geht ihm das so nicht mehr durch. Er ist eine umstrittene Figur."
Einmal Korrespondent, immer Korrespondent, auch nach Mitternacht und in lockerer Last-call-Atmo.
L’amour toujours
Dass der Organisationschef und ehemalige Kanute Tony Estanguet in seiner Abschlussrede im Stade de France unterbrachte, es habe während der Spiele so viele Heiratsanträge unter den Athlet:innen wie noch nie gegeben, wurde sogar im Live-Ticker der SZ bemerkt – ganz Paris träumt von der Liebe, oh lala. Auch der scheidende deutsche IOC Präsident Thomas Bach behauptete, man habe sich in die "französischen Freunde verliebt".
Eine Menge auf den ersten Blick Unvereinbares wollte anscheinend im Schatten der Ringe zum bisou zusammenkommen: Sport, Politik, Liebe und (Pop-)Kultur. Ob diese "Allianz zwischen Sport und Pop" logisch sei, darüber spekulierte der Tagesspiegel am Sonntagabend:
"Nun gehört sich das für solche Events, die die Olympischen Spiele rahmen. Doch konnte man in den gesamten letzten zwei Pariser Wochen den Eindruck gewinnen, dass der Pop vielleicht ein wenig übergriffig war, er sich nicht von den Sportstars gewissermaßen das Gold von den Medaillen nehmen lassen wollte. (…) Ob es da womöglich ein Konkurrenzdenken zwischen Pop und Sport gibt, der Pop neidisch ist?"
Selbst wenn: Dagegen anstinken kann er eh nicht. Allein aufgrund der Sendestrecken: Existierte je ein Kulturevent, das wochenlang 16 Stunden am Tag live im medialen Hauptprogramm begleitet wurde? Während nicht weit entfernt Bomben fallen, Rauchwolken über Atomkraftwerken aufsteigen und schwierige und wichtige Wahlen vorbereitet oder durchgeführt werden?
Saure-Gurken-Zeit ist also nicht wirklich – auf FAZ.net war der Olympia-Live-Ticker in der Nacht dennoch tatsächlich Aufmacher, illustriert mit einem Foto von Tom Cruise, die wehende Flagge fest in den ledernen Motorradhandschuhen. Bei dem kann man sich immer so schön drauf verlassen, dass es gut ausgeht.
Altpapierkorb mit dem Pressetelefon der Letzten Generation, unvorteilhaften Politikerfotos und britischen Boulevardmedien
- Der Tagesspiegel berichtet über neue Entwicklungen im Falle der vom Landgericht München I abgelehnten Beschwerde zweier Journalisten wegen einer Abhörmaßnahme im Zusammenhang mit dem "Pressetelefon" der "Letzten Generation":
"Am Freitag hat der Bayerische Journalisten-Verband (BJV) für ein betroffenes Mitglied Verfassungsbeschwerde gegen das Abhören des Pressetelefons eingereicht. "Der Staat darf vertrauliche Gespräche von Journalistinnen und Journalisten nicht pauschal abhören. Das ist ein schwerer Eingriff in die Pressefreiheit", sagt der BJV-Vorsitzende Harald Stocker laut epd am Freitag. "Wir verurteilen scharf, dass hier keine sorgfältige Abwägung stattfand.""
- Übermedien anlysieren hier (€) den bewussten Gebrauch unvorteilhafter Fotos von Politiker:innen in den Medien: "Das Problem ist: Solche Bilder erinnern an Karikaturen, obwohl ihre Funktion eine ganz andere ist."
- Hier berichten RND und etwas später auch die taz über eine hochspannende neue Fernsehdokumentation namens "Tabloids on trial", die die Praktiken der Boulevardmedien untersucht: "Die Leistung der Doku ist, dass ITV nicht nur mit dem Prinzen spricht, sondern viele Betroffene zu Wort kommen lässt. Dabei wird klar, dass die Veröffentlichungen viele Opfer sogar in paranoiden Wahnsinn trieben, bei dem sie niemandem mehr vertrauten."
Das nächste Altpapier schreibt am Dienstag Christian Bartels.