Kolumne: Das Altpapier am 9. August 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels 4 min
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Kolumne: Das Altpapier am 9. August 2024 von Christian Bartels Weglassen hilft nicht

Kolumne: Das Altpapier am 9. August 2024 – Weglassen hilft nicht

Die begangenen und geplanten Mordtaten rund um Taylor-Swift-Veranstaltungen werfen eine ältere Frage neu auf. Wie sollten Medien über mutmaßliche Verbrecher berichten?

Fr 09.08.2024 12:34Uhr 03:51 min

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Kolumne: Das Altpapier am 9. August 2024 Weglassen hilft nicht

09. August 2024, 10:19 Uhr

Die begangenen und geplanten Mordtaten rund um Taylor-Swift-Veranstaltungen werfen eine ältere Frage neu auf. Wie sollten Medien über mutmaßliche Verbrecher berichten? Außerdem: der Großmeister des "Schnodderdeutsch" ist gestorben, und wie steht's heute um synchronisierte Kinofilme? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Mordwillige Teenager

"Ein 17-Jähriger und ein 19-Jähriger" (tagesschau.de) sorgten mit Anschlags-Plänen, die zum Glück rechtzeitig aufgedeckt wurden, für den Ausfall dreier Konzerte Taylor Swifts in Wien. Das betrifft über 200.000 Fans der Popsängerin. Kurz zuvor hatte ein 17-Jähriger bei einer Veranstaltung ohne Swift, bloß mit ihrer Musik, im englischen Southport drei Mädchen erstochen. Über offenkundig absichtlich gestreute Falschinformationen führte das zu tagelangen riots (Altpapier gestern).

Was ist mit den Teenagern los? Natürlich muss das junge Alter der Mörder und Mordwilligen alarmieren. Experte Peter R. Neumann warnt in Interviews vor "TikTok-Dschihadisten"mit allerhand Beispielen auch aus Deutschland (z.B. spiegel.de/Abo) und rät, "die Präventionsmaßnahmen an(zu)passen". Im Wiener Fall halfen, wie oft, Warnungen ausländischer Dienste. Ob deutsche Behörden auf völlig richtigen Dampfern unterwegs sind, wenn "Cybercrime-Ansprechstellen" inzwischen auch gegen vergleichsweise moderate Beleidigungen, die Regierungspartei-Politiker treffen, hart vorgehen, lässt sich fragen.

In den gravierenden Fällen rund um Taylor Swift wird neben dem Alter früher oder später überall auch die Herkunft der Verdächtigen genannt. Sogar im eingangs verlinkten tagesschau.de-FAQ ist dann von einem "Österreicher mit familiären Wurzeln in Nordmazedonien" die Rede und, als dritter Person "in Polizeigewahrsam", von einem "15-Jährigen mit türkischem Hintergrund". Wohl eher ein Versehen, dass zum zweiten Hauptverdächtigen, dem 17-Jährigen, nichts darin steht. Anderswo steht mehr. Der österreichische "Standard" erwähnt "türkisch-kroatische Wurzeln" des 17-Jährigen (und dass dieser wohl auch im Wiener "Bandenkrieg" "zwischen Tschetschenen, Syrern und Afghanen" mitmischte).

Auch bei welt.de findet sich mehr über ethnische Hintergründe als im "Tagesschau"-Auftritt; die "FAZ"-Titelseite nennt ausdrücklich die Religion der Verdächtigen. Okay, um welche es sich handelt, ist keine Überraschung. War es aber sozusagen im englischen Fall. Bei der Religion setzten die Falschmeldungen, die dann zu anitislamischen Ausschreitungen führten, an. Etwa "epd medien" berichtete von

"... Falschnachrichten ..., wonach der Angreifer ein Asylbewerber mit arabischem Namen gewesen sei. Nach Polizeiangaben handelte es sich aber um einen in Wales geborenen 17-jährigen Sohn ruandischer Einwanderer aus einer christlich geprägten Familie."

Bei weniger schweren Verbrechen bleibt die Altersangabe oft die einzige konkrete Information. Die Herkunft auch von Gewaltverbrechern wird in Deutschland oft nicht benannt. Was dann in Meldungsspalten zu Überschriften à la "Polizisten stoppen bewaffneten 13-Jährigen in Ebersbach", "Messerangriff bei Hochzeitsfeier: 30-Jähriger vor Gericht", "Auseinandersetzung in Neukölln – 39-Jähriger verletzt" führt. Das ist eine zufällige vortags-aktuelle Auswahl von zeit.de-Ticker-Überschriften. Sind solche Altersangaben (die sich ja täglich ändern können) derart wichtig? Oder lenken sie eher Aufmerksamkeit darauf, welche Info fehlt? Bzw.: Ist die in Deutschlands Medien weit verbreitete Zurückhaltung bei der Nennung der Herkunft von mutmaßlichen Verbrechern angemessen?

Die Herkunfts-Nennungs-Frage wieder

Die Frage kam kürzlich wieder auf, als das Innenministerium in Düsseldorf anordnete, dass die nordrhein-westfälische Polizei "künftig in ihren Pressemitteilungen in der Regel die Nationalität von Tatverdächtigen nennen" soll. Damit wolle sie auch "dem Vorwurf entgegentreten, 'etwas verschweigen zu wollen'", zitierte "epd medien" einen Ministeriumssprecher. Und schaute anschließend (andere Meldung), wie das sonst im bunten deutschen Föderalismus gehandhabt wird. "Die drei ostdeutschen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen nennen bereits grundsätzlich die Nationalität eines Tatverdächtigen", die meisten anderen nicht. In derselben Meldung dröselt der epd dann auch noch mal die Entwicklung von Punkt 12 zu "Diskriminierungen" im Presserats-Pressekodex auf. Der Punkt war nach den Diskussionen ums Kölner Silvester 2015, auf das ein je nach Perspektive kleineres oder größeres Medienversagen folgte, 2017 verändert worden:

"Hieß es vorher, dass es einen 'begründeten Sachbezug' zu der Tat geben müsse, um die Herkunft von Tatverdächtigen zu nennen, so reicht seither ein 'begründetes öffentliches Interesse'".

Besonders selbsterklärend war (und ist) diese Modifizierung nicht, weshalb der Presserat dazu noch ein erläuterndes PDF veröffentlichte, das sich unter dem vorigen Link runterladen lässt. Generell soll die Herkunft nicht erwähnt werden, wenn das Interesse nicht begründet genug erscheint, und zwar, um "das Risiko einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens durch die Nennung einer Zugehörigkeit" zu minimieren, heißt es darin.

Über diese Fragen wurde damals viel diskutiert. Jetzt wird es wieder etwas. Die Journalistengewerkschaft DJV fordert, die Polizei solle wie die Presse "Nationalität nur nach Abwägung (zu) nennen". Denn: "Ein Problem ist, dass die Polizei häufig nicht mehr nur Informationsgeberin für Journalist:innen ist, sondern über eigene Medienkanäle – beispielsweise über Social Media - die Bürger:innen direkt erreicht". FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, offenkundig mit Migrationshintergrund, fordert, "dass die Polizei routinemäßig die Nationalität von Tatverdächtigen nennt" (wie die "taz" hier aus einem "Bild am Sonntag"-Interview zitiert). Die Gegenposition vertritt Friedrich Küppersbusch und scherzte Anfang der Woche etwas unscharf, aber engagiert ebd. (also "taz"):

"Dann sollte da auch mitgeteilt werden, welcher Nationalität oder Herkunft der mitteilende Polizist ist. 'Türkischstämmiger Beamter meldet: Deutscher Unternehmer hat schon wieder die Steuer hinterzogen', mal sehen, was dann abgeht ..."

Meine Meinung hatte ich schon öfter hier formuliert: "Medien, die verfügbare Informationen weglassen, weil sie meinen, ihr Publikum würde sie falsch bewerten, unterminieren die eigene Glaubwürdigkeit." Weglassen hilft nichts, im Gegenteil. Nicht nur wissen ungefähr alle längst, wo sie finden, was anderswo fehlt – in den Social-Media-Accounts der Polizeien oder bei Portalen wie Julian Reichelts nius.de, die nur darauf warten, was tagesschau.de weglässt. Mehr denn je zirkulieren außerdem in den sog. soz. Medien Infos bzw. "Infos", die grob falsch sein können, wie wohl im Falle Southport. Im überall propagierten Kampf gegen Fakenews braucht es hundertprozentig verlässliche Redaktionsmedien. Gehörte zu Verlässlichkeit nicht, dass im Regelfall alles Bekannte publiziert wird?

Rainer-Brandt-Nachrufe

And now for something completely different. Bei der Synchronisierung von Filmproduktionen handelt es sich vermutlich um eine aussterbende Kunst. Oder eher bloß um eine Kulturtechnik? Immer mehr Menschen schauen englischsprachige Produktionen im Original, gegebenenfalls mit Untertiteln. Bald dürfte möglich sein, sich auf Abruf alles mit KI-generierten Stimmen der Schauspieler in beliebigen Sprachen einspielen zu lassen.

Im vorigen Jahrhundert war Synchronisierung eine "feine Kunst", also: "auf der Leinwand gesprochene und vorher minutiös durchkomponierte Sprache glaubwürdig als urwüchsig und spontan zu verkaufen". Dieses schöne Lob drechselte Axel Weidemann für die "FAZ"-Medienseite (Abo) auf Rainer Brandt, das nun verstorbene "Synchronsprachwunder". Wenn international mit Recht nicht sehr erfolgreiche Serien und Reihen für Kino und Fernsehen wie all der Prügel-Klamauk mit den Bud Spencer und Terence Hill genannten Darstellern oder "The Persuaders!" ("Die Zwei") mit dem schauspielerisch auch selten herausragenden Roger Moore sich auf deutsch große, noch immer bestehende Fangemeinden aufbauten, lag das am lustigeren Tonfall, der die Originale neu interpretierte. Das geschah meist weder werkgetreu, noch sehr lippensynchron. Wobei solche Eindeutschung auch von seinerzeit weniger scharfen Bildschirmen und Projektionen profitierte, von der Technik:

"Dieser Klang. Diese unverwechselbare Sound-Patina. Die eh schon blecherne Tonspur, die der Röhrenfernseher noch mal blecherner ausspuckt. Diese ganz bestimmte Textur, das Raue, Rausgerotzte, diese Audiotapete, die über so vielen Komödien der Achtziger- und Neunzigerjahre lag ..."

schwärmt das "SZ"-Feuilleton (Abo) in seinem Nachruf und nennt auch den "genialen Namen", den Brandt selber seinem Tonfall gab: "Schnodderdeutsch".

... und die Gegenwart des Synchronfilms

Wie steht es gegenwärtig um eingedeutschte Filme? Fast alles klingt sound-desnigt wie Lidl-lohnt-sich-Werbung (oder ARD-Eigenwerbe-Trailer). Aber die Öffentlich-Rechtlichen engagieren sich in ihren Mediatheken auch für synchronisiertes Hollywood.

"Die Programmmanager beim ZDF scheinen diesen Film zu lieben: Mal bewerben sie ihn in der Mediathek als 'Action-Kracher', mal als 'Thriller'. Auch vom 'Action-Blockbuster' ist die Rede. 'White House Down' war seit Ende 2023 schon vier Mal in der ZDF-Mediathek abrufbar – jeweils für eine Dauer von 30 Tagen. Diese zeitliche Begrenzung ist im Grundsatz rechtlich vorgeschrieben. In dem Hollywood-Film von 2013 greifen Terroristen das Weiße Haus in Washington an ..."

Da verfolgt Voker Nünning für medieninsider.com (Abo) die Mediatheken-Karriere des elf Jahre jungen Kinofilms. Bzw. wundert sich, gemeinsam mit dem Privatsender-Verband Vaunet (Ex: VPRT), dass solche Filme überhaupt in öffentlich-rechtlichen Mediatheken auftauchen. Eigentlich ist medienstaatsvertraglich geregelt, dass "außereuropäische Werke" nur dann dort zu sehen sein dürfen, wenn sie "einen Beitrag zu Bildung oder Kultur leisten und zusätzlich 'in besonderem Maße zum öffentlich-rechtlichen Profil beitragen'". Brandts Spencer/Hill-Versionen fallen gewiss unter den immer weiteren Kulturbegriff. Aber Roland-Emmerich-Filme?

Da dürfte neuer Mediatheken-Streit bevorstehen. Wie gewohnt detailliert legt Nünning dar, dass die staatsvertraglich gedeckte Anregung, als außereuropäische Werke doch bitte afrikanische Filme zu verstehen, wenig Aussicht auf Verwirklung hat und es dem ZDF eher ums Bespielen "eher entfernte(n) Zielgruppen" geht – was dem vorgestern hier erwähnten Begriff der "Eroberungszielgruppen" entsprechen dürfte.


Altpapierkorb (Harris/Walz-Netzpolitik, Disney-Streaming, Telekom, "Spiegel"-Messlatte, MDR-Rundfunkrat)

+++ Zwar "wollen ... manche Großspender aus der Tech-Branche, darunter der LinkedIn-Mitgründer Reid Hoffman, am liebsten die progressive Lina Khan loswerden", die sich "für faire Wettbewerbsbedingungen" einsetzt, gegen die Datenkraken wie der Linkedin-Eigentürmer Microsoft natürlich Einwänden haben. Aber mit dem Wunsch gegen Kamala Harris' Team kommen diese Großspender vielleicht nicht durch, weil Harris schon einst "als kalifornische Generalstaatsanwältin" vorgeworfen wurde, "am Providerprivileg gesägt zu haben, welches Online-Dienste von der direkten Haftung für Inhalte auf ihren Plattformen ausnimmt." Genau dieses Privileg ist's ja, was den unermesslichen Vorsprung der Plattformkonzerne vor allen anderen Medien begründete. Da wirft netzpolitik.org einen interessanten Blick auf die "netzpolitischen Positionen des demokratischen Wahlkampf-Duos" in USA. +++

+++ Der Disney-Konzern macht mit seinem mit aller Macht spät in den Markt gedrücktem Streaming-Geschäft bereits Gewinn, ein Quartal früher als der Businessplan vorsah. Das auch, weil "etwas weniger teure Serien und Filme aus den Star Wars- und Marvel-Welten produziert" würden, aber dennoch Abonnenten anziehen oder zumindest halten ("Standard"). +++ Ein wenig trägt zu Disneys bei trägt auch der MDR, der die deutsche Auftragsproduktion "Sam - Ein Sachse" für sein Drittes und die ARD-Mediathek einkaufte (dwdl.de). +++

+++ Über rund "114.000 neuen Vertragskunden im TV-Geschäft" durch die Fußball-EM, an der sie die meisten Übertragungsrechte ersteigert hatte, freut sich die Deutsche Telekom ("Handelsblatt"). +++

+++ Beim "Spiegel" liegt die Mess-Latte immer noch hoch, wenn nicht aus gegenwärtigen Gründen, dann wegen der stolzen Geschichte ("Sturmgeschütz der Demokratie" ...). Das macht sich Stefan Niggemeier zunutze, um sich über den "in schönster Kombination aus clickträchtigen Schlagworten und Faktencheck-Haltung" verfassten Beitrag "Nein, es war nicht sein Penis, der ihn die Olympiamedaille kostete" lustig zu machen (uebermedien.de). +++

+++ Und über einen Sitz im Rundfunkrat unseres MDR hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht nun eigentlich letztinstanzlich entschieden. Allerdings hat der unterlegene SBB Beamtenbund und Tarifunion Sachsen e.V. noch die Möglichkeit, "Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beim Bundesverwaltungsgericht einzureichen", meldet flurfunk-dresden.de. +++

Das nächste Altpapier schreibt am Montag Jenni Zylka.

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