Kolumne: Das Altpapier am 2. August 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 4 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 2. August 2024 Wer Positionen aus Parallelwelten sichtbar macht, versagt als Journalist

02. August 2024, 12:31 Uhr

Dem Thüringer Landtag ist die Medienfreiheit egal. Die August-Ausgabe des verbotenen Magazins "Compact" ist unter einem anderen Namen erschienen. Ein Kommunikationswissenschaftler kritisiert den "Desinformationsakteur" Servus TV. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
Bildrechte: MDR MEDIEN360G

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Frei nach 500 Tagen

Heute morgen um kurz nach 10 Uhr waren bei Zeit Online dem "größten Gefangenenaustausch seit dem Ende des Kalten Kriegs", wie es nicht nur dort heißt, die fünf obersten Beiträge gewidmet. Bei der FAZ war das zumindest um 7 Uhr morgens der Fall, und gestern gab es u.a. einen "Brennpunkt" und eine Sondersendung bei Tagesschau 24.

Dass dieses Thema von tendenziell historischer Tragweite heute auch in unserer Medienkolumne oben steht, liegt daran, dass sich unter den im Rahmen des Austauschs freigelassenen Personen der "Wall Street Journal"-Korrespondent Evan Gershkovich (siehe unter anderem dieses Altpapier), die Radio-Free-Europe-Reporterin Alsu Kurmasheva und der auch als Journalist tätige russisch-britische Politiker Vladimir Kara-Murza befinden.

Über die Reaktionen bei Gershkovichs Zeitung, dem "Wall Street Journal", berichtet der CNN-Medien-Newsletter "Reliable Sources". Der "Guardian" rekapituliert die Geschehnisse unter dem Titel "How Evan Gershkovich was finally freed after a 500-day odyssey in Russia’s prison system". Unter den freigelassenen 16 Personen sind allerdings viele, die länger inhaftiert waren (siehe etwa "Süddeutsche").

Dass Alsu Kurmasheva, in Russland erst vor wenigen Tagen "zu sechseinhalb Jahren Strafkolonie wegen angeblicher Falschmeldungen über die Armee verurteilt" (tagesschau.de), "sehr viel weniger Aufmerksamkeit bekommt" als Gershkovich, hat Annika Schneider an dieser Stelle schon im Februar bemerkt. Das gilt jetzt auch für die aktuelle Berichterstattung. Zumindest Kurmashevas Tochter hat aber recht viel Aufmerksamkeit bekommen, weil Joe Biden ein vorgezogenes Geburtstagsständchen für sie anstimmte.

Jodie Ginsberg, CEO des Committee to Protect Journalists (CPJ), nimmt die aktuellen Entwicklungen zum Anlass für folgende Forderungen:

"Moscow needs to release all jailed journalists and end its campaign of using in absentia arrest warrants and sentences against exiled Russian journalists.”

Der schlafmützigste Landtag der Republik

"Schon vor Monaten warnten Verfassungsrechtler: Nach einem Wahlsieg der AfD Thüringen im September hätte deren Chef Björn Höcke die Chance, Justiz und Medien zu beschneiden. Vorsorge wäre möglich – doch die anderen Parteien stehen sich selbst im Weg."

So lautet heute der Vorspann eines Ronen-Steinke-Artikels in der SZ. Liest man den Text, wird einem allerdings klar, dass die Formulierung "wäre möglich gewesen" es wesentlich besser trifft.

Mit "Beschneidung" der Medien gemeint ist natürlich die mögliche Kündigung des MDR-Staatsvertrags und anderer Staatsverträge (siehe u.a. dieses und dieses Altpapier), die, so Steinke, "ein Populist" ohne Zustimmung des Parlaments "mit einem bloßen Federstrich besiegeln (könnte) – wenn er es zumindest kurzzeitig ins Amt schafft und sich entscheidet, einfach Fakten zu schaffen".

Der "Verfassungsblog" schlug daher bereits im Januar vor, den Artikel 77 der Thüringer Verfassung zu ändern, und Maximilian Steinbeis, der Chefredakteur, tat dies ein Vierteljahr später noch einmal in Erfurt. Auf diese Veranstaltung blickt Steinke folgendermaßen zurück:

"Am 17. April (saßen) zwei renommierte Experten für Verfassungsrecht im Landtag von Thüringen, (…) Steinbeis und Juliana Talg. Sie saßen auf einer Bühne, sie warnten eindringlich davor, wo überall Sturmwasser ins demokratische Gebälk eindringen könnte – und sie warben dafür, jetzt rasch Vorsorge zu treffen, bevor es zu spät ist. Sieben konkrete Empfehlungen hatten sie mitgebracht – das Ergebnis monatelanger Forschung."

Stand heute: Keine der Empfehlungen wurde umgesetzt, sechs von ihnen wurden nicht einmal debattiert. Was auch daran liegen könnte, dass besagte Veranstaltung zwar im Parlament stattfand, die Parlamentarier aber gar keinen Bock hatten auf irgendwelches Verfassungsexpertengedöns. Anwesend war nur ein Landtagsabgeordneter (von der AfD).

Steinkes Fazit:

"Und während im Bundestag immerhin ein überparteilicher Plan dafür steht, das Bundesverfassungsgericht 'wetterfest' zu machen, wie das Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nennt, ist in Thüringen nichts dergleichen geschehen."

Brauner Wein in neuen Schläuchen

Das Verbot der rechtsextremistischen Zeitschrift "Compact" (siehe zuletzt Altpapier von Dienstag) bleibt ein Thema - was aktuell wesentlich damit zu tun hat, dass de facto gerade die August-Ausgabe des Magazins "trotz Ver­bots erschienen ist", wie es bei "Legal Tribune Online" (LTO) heißt.

Hintergrund: "Brüder im Geiste des 'Compact'-Chefredakteurs Jürgen Elsässer" (FAZ), die sonst die im Corona-Leugner-Milieu beliebte Wochenzeitung "Demokratischer Widerstand" herausgeben, haben unter dem Zeitschriftennamen "Näncy" die für die August-Nummer des verbotenen Magazins geplanten Beiträge veröffentlicht.

"Dass die Macher damit werben, alle 'Compact'-Inhalte übernommen zu haben, spricht dafür, das Online-Heft als Ersatz für 'Compact' zu betrachten",

"Näncy" wurde am Mittwoch bei einer als "Spontandemonstration" deklarierten Aktion im Rahmen eines AfD-"Bürgerdialogs" präsentiert. Weiermann schreibt:

"Auf dem Cover befindet sich, bei dem Namen wenig verwunderlich, Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Hinter Faeser brennt es, am Arm trägt sie, im Stil einer Hakenkreuz-Binde, die One-Love-Binde, um die es bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar 2022 Streit gab."

Wie ist diese Aushebelung des Verbots nun juristisch zu beurteilen? Markus Sehl dazu bei LTO:

"Das Vereinsgesetz untersagt, Organisationen zu bilden, die verfassungswidrige Bestrebungen eines verbotenen Vereins an dessen Stelle weiterverfolgen, die also eine Ersatzorganisation zu einem verbotenen Verein bilden (§ 8 Vereinsgesetz, VereinsG). Eine solche könnte wiederum verboten werden. Das Bundesinnenministerium (BMI) müsste aber begründen, dass es sich auch tatsächlich um eine Ersatzorganisation handelt. Hier besteht ja die besondere Konstellation, dass die Zeitung und der Online-Auftritt von 'Demokratischer Widerstand’ bereits seit 2020 existieren, mit einer eigenen Ausrichtung. Dass der Verlag nun zunächst wohl einmalig 'Compact'-Beiträge veröffentlicht, dürfte nicht ausreichen."

Dass in der Debatte um "Compact" der Pressefreiheits-Aspekt eine viel zu große Rolle spielt, meint Sebastian Wehrhahn, der für die Linke im Bundestag arbeitet. Er schreibt bei "Jacobin":

"Rechte Fürsprecher von Compact versuchen das Verbot nun als einen Angriff auf die Pressefreiheit zu deuten, indem sie die organisatorische und vernetzende Rolle des Magazins unterschlagen (…) Die Verbots-Debatte wird von Rechten also bewusst auf die Frage der Presse- und Meinungsfreiheit verengt, um vom Organisationscharakter von Compact abzulenken."

Das falsche Mantra der Medien

Für das österreichische Magazin "Moment" hat Sebastian Panny mit dem Kommunikationswissenschafter Jakob-Moritz Eberl über den Sender Servus TV gesprochen. Es geht vor allem um die Sendung "Talk im Hangar-7”, in der oft auch deutsche Gegenaufklärungs-Gurus zu Gast sind.

Seit Corona habe sich Servus TV zu einem "Desinformationsakteur" entwickelt, sagt Eberl. In dem Kontext betont er:

"In Zeiten, wo korrekte Information über Leben und Tod entscheiden kann, ist das extrem problematisch."

Was Eberl in dem Interview über das "Versagen" von Journalisten sagt, hat durchaus allgemeingültigen Charakter.

Seine grundsätzliche Kritik:

"Bei Talkshows wie 'Talk im Hangar-7' (…) kommt das Grundmantra 'Ich muss alle Positionen zeigen, weil dann können sich Wähler:innen selber ein Bild machen' zum Vorschein. Aber das funktioniert so nicht. Man versagt damit als Journalist:in. Man suggeriert nämlich, dass alle Positionen gleich viel Relevanz haben – auch die am extremen Rand. Oder die, die auf grundsätzlich falschen Annahmen beruhen. Die Redaktion ist damit nicht neutral, sondern das Gegenteil: Sie macht Positionen sichtbar, die gar nicht sichtbar sein müssten, wenn man den tatsächlichen wissenschaftlichen Diskurs betrachtet."

Interviewer Panny fragt dann:

"Aber ab wann ist etwas False Balancing? Wer entscheidet das?"

Eberl erläutert:

"Das ist natürlich schwierig, aber genau das ist die Aufgabe von Journalist:innen. Und auch Talk-Sendungen sind Journalismus."

Das ist ein wichtiger Punkt. Journalisten müssen in der Lage sein, die Relevanz von Positionen einzuschätzen, die beliebte "Wir bilden ja nur ab"-Haltung sollte man ihnen nicht durchgehen lassen.

Eberl weiter:

"Man muss sich ansehen, welche faktische Basis die Position der vermeintlichen Expert:innen hat, die man einlädt. Wenn die in einer völlig anderen Realität existiert, sollte man dem keine Öffentlichkeit geben."

Wer nach einem Beispiel für "False Balancing" bei Servus TV sucht: Diese Sendung ist eines von vielen.


Altpapierkorb (27-jähriger Al-Jazeera-Journalist in Gaza getötet, 30.000 Euro Ordnungsgeld für Beleidigung einer "Spiegel"-Redakteurin, 38,7 Prozent Frauenmachtanteil in Leitmedien, 100 Jahre James Baldwin)

+++ Den Satz "Journalists are civilians and should never be targeted" hat Jodie Ginsberg vom Committee to Protect Journalists, wörtlich oder sinngemäß in den vergangenen Monaten oft sagen müssen. Nun gibt es leider wieder einen Anlass: die Tötung des 27-jährigen Al-Jazeera-Journalisten Ismail al-Ghoul und seines Kameramanns Rami al-Refee bei einem "scheinbar direkten" (Ginsberg) israelischen Raketenangriff in Gaza. "In den Bezirk Aidia von Gaza-Stadt fuhren sie in einem mit den Buchstaben 'Press' versehenen Wagen, beide trugen bei den Aufnahmen vor dem von Bomben zerstörten Gebäude blaue Helme und Westen, ebenfalls mit der Aufschrift versehen", berichtet die taz. Dass, wie die israelische Seite behauptet, al-Ghoul ein Hamas-Aktivist gewesen sei, weist Al Jazeera in eigener Sache zurück. Laut AFP/Zeit Online sagt Walid al-Omari, Leiter des Al-Dschasira-Büros in Ramallah und Jerusalem, zu den Anschuldigungen: "Al-Ghoul sei bereits im März für zwölf Stunden von der israelischen Armee festgehalten und dann bedingungslos wieder freigelassen worden. 'Wenn ihre Behauptungen wahr wären, weshalb hätten sie ihn dann freigelassen?'".

+++ Der AfD-Politiker Stephan Brandner wird wohl noch mehr Sparschweine schlachten müssen. "Legal Tribune Online" berichtet: "Der Bundestagsabgeordnete (…) hat ein weiteres Ordnungsgeld kassiert, weil er die Spiegel-Journalistin Ann-Katrin Müller als 'Faschistin' bezeichnet hat (…) Die 27. Zivilkammer des LG Berlin II hat Brandner damit mittlerweile zum dritten Mal zur Zahlung von Ordnungsgeld verpflichtet, weil er sich erneut nicht an einen Beschluss gehalten hat, es zu unterlassen." Das aktuelle Ordnungsgeld beträgt nun 30.000 Euro. LTO zitiert dazu Müllers Anwalt Dr. Marc-Oliver Srocke: "Es ist schon erschreckend genug, dass ein Politiker eine Journalistin mehrfach öffentlich derart übel beleidigt. Dass Brandner aber auch noch konsequent ein wirksames gerichtliches Verbot ignoriert, und das trotz mehrfacher Ordnungsgelder, ließ dem Gericht letztlich keine andere Möglichkeit, als die Rekordsumme von 30.000 Euro festzusetzen."

+++ Dass die "Frauenmachtanteile in Deutschlands Leitmedien erstmals seit zehn Jahren rückläufig" seien, hat Pro Quote ermittelt. "epd medien" zitiert die aktuell von der Organisation vorgestellten Zahlen: "Im Juli 2024 hätten die neun regelmäßig untersuchten Redaktionen im Schnitt einen Frauenmachtanteil von 38,7 Prozent erreicht (…) Im Februar seien es noch 39,5 Prozent gewesen."

+++ Heute jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag des Schwarzen Schriftstellers James Baldwin. Wer noch nicht im, wenn man denn so will: Baldwin-Jahr angekommen ist, dem seien Rezensionen zu René Aguigahs Baldwin-Biographie empfohlen, die Diedrich Diederichsen (für die taz) und der TV-Dokumentarist Christian Bettges geschrieben haben. Aguigah, Ressortleiter bei Deutschlandfunk Kultur, ist auch beteiligt an dem ebd. in der Nacht auf Samstag zu hörenden Programm "Autor, Aktivist, Zeuge. Die Lange Nacht über James Baldwin". Stefan Fischer hat sich die Sendung für die SZ angehört: "Es sind weniger dessen Texte, die darin im Zentrum stehen, als vielmehr etliche akustische Zeugnisse, die von Baldwin existieren, der oft mit schneidender Stimme gesprochen hat."

Das Altpapier am Montag schreibt Johanna Bernklau. Schönes Wochenende!

Mehr vom Altpapier

Kontakt