Kolumne: Das Altpapier am 29. Juli 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab 5 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G
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Wer in der Berichterstattung über die geleakten "RKI-Files" einen Balanceakt schaffte – und wer nicht. Und warum Journalismus nicht nur fortwährend erklären sollte, was alles schiefläuft.

Mo 29.07.2024 11:18Uhr 05:19 min

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Kolumne: Das Altpapier am 29. Juli 2024 Silber für Tom Bartels

29. Juli 2024, 09:09 Uhr

Wer in der Berichterstattung über die geleakten "RKI-Files" einen Balanceakt schaffte – und wer nicht. Warum Journalismus nicht nur fortwährend erklären sollte, was alles schiefläuft. Und: Die ARD-Kommentierung der Olympia-Eröffnung sorgte für Kritik. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Negativismus als Nachrichtenideologie

"Wie funktioniert gesellschaftliche Transformation, wenn die Erde heißer wird, das Volk wütender, der Verdrängungspopulismus mächtiger?" Das ist eine Frage, die Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft in Tübingen, an den Anfang eines Beitrags im Wirtschaftsmagazin "brand eins" stellt. "Kaum stellt man eine solche Frage, haben sie alle ihren Auftritt: die Rezeptologen, die Pädagogen, die Alarmisten, die Utopisten", schreibt er.

Die ersten würden sagen: Ich kenne die sieben Prinzipien auf dem Weg zur Weltveränderung. Die zweiten würden Verzicht und Mäßigung verlangen. Die dritten ihre Verzweiflung herausbrüllen. Und die vierten sich ein besseres Leben ausmalen. "Und sie alle", so Pörksen, "spielen ihre Rolle, reproduzieren ihren Text, folgen ihrem Programm, das sie abspulen wie jene Spielzeugpuppen aus Kindertagen, die man aufziehen kann und die dann immer auf dieselbe Weise Tröten und tanzen, gefangen in einem Determinismus eigener Art"; und am Ende dann passiere nichts oder zu wenig: "Weil die Art der Ansprache die Veränderung blockiert."

Mediale Kommunikation, das ist das Thema seines Artikels (für die Transparenz: Ich habe einen Artikel für dieselbe Ausgabe geschrieben). Und hier kommen wir zum Punkt, der für unsere Medienkolumne relevant ist: Der klassische oder politische Journalismus habe "den Negativismus zur Nachrichtenideologie erhoben und die Konfliktintensivierung in ein Darstellungsprogramm verwandelt".

Dieser Journalismus, so Pörksen, folge durchaus einer Theorie sozialen Wandels. Er zitiert an dieser Stelle einen "New York Times"-Essay (Abo) von 2016, der nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsident erschienen ist. Diese Theorie laufe

"auf die These zu, dass die Gesellschaft besser wird, wenn man ihr nur fortwährend erklärt, was alles schiefläuft, und die Menschen Tag für Tag mit Schreckensszenarien und Untergangsberichten vor sich herscheucht. Es ist an der Zeit anzuerkennen, dass diese Theorie sich als falsch erwiesen hat."

Würde das anerkannt, würde das für die künftige Journalismusausbildung einen Einschnitt bedeuten.

Der selbstkritische "NYT"-Essay, der im Kontext der kurz zuvor erfolgten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten stand, rührt an den Kern von Journalismus. Der habe "eine Sprache, mit der er Bedrohungen und Misserfolge beschreiben" könne, aber sei "sprachlos, wenn es darum geht, der Gesellschaft mitzuteilen, dass es einen Erfolg" gebe:

"Wir stellen dar, was in der Welt schief läuft, als ob das alles wäre, was es gibt. Das Ergebnis ist, dass die Zuschauer jenseits ihrer unmittelbaren Erfahrung eine unkontrolliert pathologische Welt sehen, und das macht es nur allzu leicht, andere zu fürchten und zu dämonisieren. (…) Das liegt zum Teil einfach an der Sensationsgier. Aber vielleicht noch wichtiger ist, dass Journalisten Angst davor haben, (…) leichtgläubig [zu] erscheinen (was für einen Journalisten die größte Sünde ist)."

"RKI-Files": Regierungstreu – oder skandalskeptisch?

Noch einmal der letzte Satz: Journalisten haben Sorge, leichtgläubig zu erscheinen. Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der sogenannten RKI-Files vergangene Woche sieht man, wie kompliziert es heute sein kann, nicht leichtgläubig zu erscheinen.

Es handelt sich um tausende Seiten ungeschwärzte Protokolle des Corona-Krisenstabs des Robert-Koch-Instituts (RKI), deren Echtheit bislang nicht erwiesen ist (so wenig, wie dass sie nicht echt sind). Veröffentlicht wurden sie von einer Aktivistin, die unter dem Namen Aya Velázquez auftritt und die sie von einem Whistleblower erhalten haben will.

Hat das unabhängige RKI, das auf wissenschaftlicher Basis arbeitet, politisch agieren müssen? Wie viel Einfluss nahmen die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Karl Lauterbach auf das Institut? Und haben "die Medien" die politischen Vorgaben, etwa hinsichtlich der Corona-Impfung, einfach übernommen, wurden sie also "gesteuert"? Das sind Fragen, mit denen die Veröffentlichung in die Öffentlichkeit gespielt wurde. "Es ging dann auch schnell mit drastischen Schlagzeilen los: Von einer 'politischen Bombe' wurde in Medien geraunt, von einer 'Regierungslüge' war die Rede", hieß es, frei lesbar, bei Zeit Online danach. (In einem Text, den Stefan Niggemeier in seinem "Übermedien"-Abo-Newsletter dafür lobte, "den Balanceakt" geschafft zu haben, "vielen der überaufgeregten Interpretationen zu widersprechen, ohne als Verharmloser daherzukommen".)

Aber die Frage ist: Wie könnte man als Medium, als Journalistin oder Journalist nicht leichtgläubig erscheinen? Erscheint man eher leichtgläubig, wenn man das, was eine "politische Bombe" sein soll, nicht als eine solche betrachtet und die Existenz des vermeintlichen Skandals hinterfragt? Oder erscheint man eher dann leichtgläubig, wenn man die Deutungen einer Gruppe von ausgewiesenen Kritikern der Corona-Politik übernimmt, zu denen auch ein bekannter Pandemieleugner gehört?

Stefan Niggemeier hat in seinem Newsletter hinter die sich entwickelnde mediale Dynamik geblickt: "Velázquez und ihre Mitstreiter haben, zurückhaltend formuliert, eine klare ablehnende Haltung zur deutschen Corona-Politik", schreibt er. "Das ist ein guter Grund, ihre Interpretation des Inhalts als Skandal nicht unbesehen zu übernehmen. Es bedeutet aber auch nicht automatisch, dass sie falsch ist."

Wie geht man als Journalist also damit um? Erstmal veröffentlichen, was eine unter Pseudonym als Journalistin performende Aktivistin in die Welt schickt, und später dann nacharbeiten? Das kann es definitiv nicht sein. Das würde bedeuten, sich instrumentalisieren zu lassen. Besonders viel Kritik bekamen dennoch "Süddeutsche Zeitung" und "Spiegel" ab, weil sie sich die Protokolle erst selbst vornahmen und zu anderen Ergebnissen als die Aktivistengruppe kamen. Niggemeier schreibt:

"Medien wie SZ oder 'Spiegel' sind in der Folge der Veröffentlichung dann eher in der Rolle der Beschwichtiger, Differenzierer und Relativierer. 'Und wo ist jetzt der Skandal?', fragte die SZ in dieser Woche schon in der Überschrift, was vielleicht eine berechtigte Frage ist, genau wie all die Beschwichtigungen, Differenzierungen und Relativierungen womöglich richtig und notwendig sind. Aber diese Rolle steht solchen Medien natürlich nicht so gut. Sie lassen sich damit leicht von ihren Kritikern als regierungstreu darstellen, weil sie sich 'schützend vor die Politik werfen’. Aber was, wenn es gar nicht darum geht, die Politik zu schützen, sondern einer falschen Skandalisierung zu widersprechen?"

Diese Frage hat sich die "Berliner Zeitung" (Abo) der Einfachheit halber offensichtlich gar nicht erst gestellt. Ruth Schneeberger beschäftigte sich darin am Freitag auf einer ganzen Seite mit "einigen Journalisten", die sich, "anstatt die Protokolle zu prüfen", "schützend vor die Politik" stellen würden. "Warum helfen ausgewachsene Journalisten Politikern dabei, sich aus der Affäre zu ziehen? Obwohl genau das Gegenteil ihre Aufgabe wäre, nämlich als vierte Gewalt die Entscheidungsträger aus der Politik zu kontrollieren und kritisch zu hinterfragen?", heißt es im Text. Dass die ARD zwar eineinhalb Minuten in der "Tagesschau" berichtet habe, aber im Beitrag "nicht einmal" den Namen der Journalistin genannt habe, "die das Ganze initiiert hatte", kritisiert Schneeberger auch.

Ob sie an einer echten journalistischen Aufarbeitung der Corona-Politik, die deren Fehlern wirklich nachgeht statt sie als gesetzt zu betrachten, allerdings so viel Interesse hat wie an einem Schuldspruch auf Basis von Satzbausteinen, die nicht unbedingt das aussagen, was man mit entsprechender Brille in sie hineinlesen kann: Da darf man skeptisch sein. Ihr Text liefert dafür keinerlei Anhaltspunkte.

(Für die Transparenz: Ich schreibe gelegentlich frei für Zeit Online.)

Olympia-TV: Dabei reden ist alles

Tom Bartels, der für die ARD viele der ganz großen Sportevents kommentiert, hat einen Alt-Text zur mehrstündigen Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris geschrieben. Und ihn live im Fernsehen vorgelesen. Man erfuhr, dass es regnet, als man sah, dass es regnet. Dass Macron kommt, als man sah, dass Macron im Bild ist. Dass der Fackelträger mit der Maske wieder zu sehen ist, als der wieder zu sehen war.

Pariskorrespondentin Friederike Hofmann, die mit ihm kommentierte, kam auch zu Wort. Aber vor allem am enorm ausschweifenden Kommentar von Bartels gab es viel Second-Screen-Kritik, die naturgemäß für ebenso viele Second-Screen-Kritik-Zusammenfassungen in journalistischen Medien sorgte (hier nur ein Beispiel), was sie aber nicht unberechtigt macht. Stichworte der Kritik: Mansplaining, Redeflash, in Bildmomente reingequatscht.

Doris Akrap von der "taz" schrieb bei BlueSky, würde Bartels das Geschehen in einem Supermarkt kommentieren, würde er sagen: "Das Milchregal!! Es steht ein Kunde davor.’" Er erwies sich meiner Meinung nach tatsächlich als Meister des verdoppelten Bildes. Entscheidende Informationen bekam man dafür von ihm und seiner Kollegin nicht, sondern nur, wenn man während der Übertragung ins "heute journal" schaltete, wo Thomas Walde, Paris-Korrespondent des ZDF, besondere Momente der Inszenierung erklärte (etwa diesen). Alexander Krei lobte bei dwdl.de im Vergleich den Eurosport-Kommentator Sigi Heinrich und kritisierte:

"Zusammen mit der Journalistin Friederike Hofmann quälte Tom Bartels … über vier Stunden hinweg das TV-Publikum mit einer nicht enden wollenden Rederei, die es schwer bis unmöglich machte, die wunderbare Inszenierung zwischen Eiffelturm und Louvre vor dem Fernseher vollends zu genießen. Mehr noch, immer wieder fielen sich die beiden gegenseitig ins Wort und konnten sich nicht einmal dann zurückhalten, als Lady Gaga an der Seine performte."

Dem Sprichwort zufolge ist Reden Silber, und Schweigen ist Gold. Tom Bartels hat die Goldmedaille demnach leider verpasst.


Altpapierkorb (Team Trump und Medien, Rammstein gegen NDR, "Tagesthemen"-Kommentar, Olympiasplitter)

+++ Martin Andree, Medienwissenschaftler an der Universität Köln, fordert entschlossenes Handeln der Bundesländer in Sachen Medienkonzentrationsrecht: Eine "US-amerikanische Diktatur unter Trump" könne auch hierzulande die digitalen Öffentlichkeit kontrollieren: "Allein durch ihre monopolistischen Marktpositionen in den verschiedenen digitalen Mediengattungen (vor allem Suchmaschinen, Social Media sowie Gratis-Video-on-Demand) wären die Big-Tech-Plattformen ein attraktives Ziel für Übergriffe", schreibt er in einem Gastbeitrag in der "Süddeutschen Zeitung" (Abo).

+++ Die Feuerwerksramboband Rammstein habe eine einstweilige Verfügung gegen den NDR erwirkt, berichtet faz.net. Es geht dabei wieder um den Podcast "Row Zero", diesmal aber nicht um Urheberrechtsverletzungen (Altpapier), sondern um die rechtswidrige Verbreitung des Verdachts, "Lindemann habe sexuelle Handlungen an einer bewusstlosen Frau ohne deren Einverständnis vorgenommen". Der NDR wolle gegebenenfalls Rechtsmittel prüfen.

+++ Der ewige Peter Voß, einst in hoher Funktion bei ARD und ZDF, hat in der "Frankfurter Allgemeinen" (Abo) vom Samstag sein Missfallen über einen "Tagesthemen"-Kommentar zum Ausdruck gebracht: "Mit fast religiöser Verzückung wurde da drauflos geschwärmt: 'Wenn Kamala Harris lacht, dann verzieht sie nicht nur den Mund, sie röhrt, sie gluckst, sie lässt das Lachen aus dem Bauch aufsteigen bis zu ihren Augen, sie lässt ihr ganzes Gesicht strahlen und ihren Körper beben. Ich finde das ansteckend, die Republikaner nicht.’"

+++ Mehr Olympia: Den olympischen Gedanken, der, bei aller Kritik am IOC, an Eintrittspreisen und am allzu Spektakulären, immer noch ziemlich großartig ist, den vermittelte zum Beispiel schon vor den Spielen ein Beitrag von Ramin Sina im "Weltspiegel" über das südsudanesische Basketballteam, den die ARD nun in anderen Versionen und Formaten erneut ausspielte. (Die südafrikanische Online-Wochenzeitung "The Continent" übrigens hofft gar auf eine Medaille für das Team: In einem Freundschaftsspiel gegen die USA habe es nur mit einem Punkt Unterschied verloren.)

+++ Noch mehr Olympia: Online wundert sich der "Spiegel" (Abo) über die Stadionregie beim Spiel der deutschen gegen die US-amerikanischen Fußballerinnen: "Man konnte sich irgendwann nur noch wundern, wie oft die olympische TV-Regie Fangruppen im Stadion zeigte. Sie sollten in die Fernsehkameras jubeln und offenbar damit den Eindruck vermitteln, als ginge dort gerade eine riesige Party ab (in einem fast leeren Stadion)."

+++ Nochmal Olympia: Wenn Florian Naß in der ARD ein Radrennen kommentiert, dann gibt es dabei unter Umständen Regen.

+++ Und auch Olympia: Im aktuellen "Spiegel" (Abo) ist zu lesen, die deutschen Öffentlich-Rechtlichen würden viele Sportarten ignorieren. Fußball dominiere einer Auswertung des Schweizer Medien-Analysediensts Media Tenor zufolge. Auffallend sei, "dass sogar in Olympiajahren Fußball etwa drei Fünftel TV-Zeit bekommt"

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.

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