Kolumne: Das Altpapier am 26. Juli 2024: Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka 4 min
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Wurde Bidens Alter ausreichend thematisiert? Und hat Markus Lanz etwas gegen Wokeness?

Fr 26.07.2024 11:42Uhr 04:24 min

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Kolumne: Das Altpapier am 26. Juli 2024 Gerontokratie ist machbar, Herr Nachbar

26. Juli 2024, 10:10 Uhr

Wurde Bidens Alter ausreichend thematisiert? Und hat Markus Lanz etwas gegen Wokeness? Heute kommentiert Jenni Zylka die Medienberichterstattung.

Porträt der Altpapier-Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wahrheit oder Clickbait?

Parbleu: Clickbait lauert überall! Ganz frisch zum Beispiel in dieser hier zu findenden, irritierenden Focus-Überschrift:

"Lanz kritisiert "Wokeness" der Medien und ist "wütend und enttäuscht" von sich selbst."

Gemeint ist Markus Lanz, der die angebliche Wokeness-Kritik und die säuerliche Selbstanalyse aber nicht in einer seiner vielen allwöchentlichen "lebendigen Talkrunden" (so steht’s auf der ZDF-Seite) sondern im Podcast "Ronzheimer" des "Journalisten und Kriegsreporters" Paul Ronzheimer tätigte. (Hier hatte sich die AP-Kollegin im letzten Jahr schon über den damals neuen Podcast geäußert, ebenso wie über die garantiert gut gemeinte, aber erstaunlich sperrige Betitelung "markenübergreifendes journalistisches Gesicht des Springer-Verlags", deswegen spare ich mir jetzt jegliche Süffisanz.

Jene gleiche Überschrift findet sich einige Male auf verschiedenen Portalen. Und weil ich ja immer noch fast hintüber kippe, wenn jemand den wünschenswerten Höflichkeitszustand "Wokeness", sprich die gesteigerte Sensibilität für anderer Menschen Probleme und den Versuch, Diskriminierung zu vermeiden, mit negativen oder abwertenden Notionen belegt, und ich die Diskreditierung des Begriffs (diesen Effekt bezeichnet man als Euphemismus-Tretmühle, eine meiner absoluten Lieblingslinguistikvokabeln, und sooooo oft und passend einsetzbar!) mit grässlich tiefen Sorgenfurchen beobachte, habe ich mir gleich den ganzen Podcast angehört. Mit diesen Ergebnissen:

Markus Lanz kritisiert mitnichten "Wokeness". Sondern bespricht mit Ronzheimer die These, dass sich "die Medien", ein paar Mal ist auch von "Massenmedien" die Rede, abgesprochen haben könnten. Es sei, darüber sind sich beide einig, erstaunlich beziehungsweise symptomatisch, wie wenig der Gesundheitszustand Bidens Thema in der Berichterstattung gewesen sei. Lanz fragt sich, woran es liegen könnte, dass vor allem Bidens Alter nicht ausreichend als problematischer Faktor im Wahlkampf und einer möglichen Zukunft als US-Präsident wahrgenommen worden sei. Und denkt laut darüber nach, ob das möglicherweise an "Wokeness" liegen könnte, im Wortlaut überlegt er:

"Wir machen das Alter nicht zum Thema, aus so ner seltsamen, weiß ich nicht, ist das Wokeness, ist das der Versuch politisch korrekt zu sein? Wir wollen nicht diskriminieren, wir wollen nicht über das Alter sprechen."

Der Begriff fällt nur dieses eine Mal in dieser rhetorischen Frage, von einer ernstgemeinten Kritik an der "Wokeness der Medien", verbunden mit dementsprechenden Assoziationen (linke Lügenpresse etc. etc.), kann also nicht die Rede sein. Es handelt sich stattdessen um: Reine Clickbait. (Für den Recherche-Hintergrund: Die irreführende und tendenziöse Focus-Überschrift stammt ursprünglich vom Portal Swyrl.tv, laut Computermagazin Chip "eine Online-Suchmaschine für Filme und Serien im Internet". Im eigenen Impressum bezeichnet sich die Seite als "eine Entertainment-Marke der teleschau - der mediendienst GmbH". Weißt Bescheid.)

Seniorenanalyse

Ronzheimer und Lanz diskutierten jedenfalls dann umfassend die Frage, warum "erst so spät über Bidens Alter berichtet wurde", und weil mir das gar nicht so vorkam, um nicht zu sagen: Hääääää?, habe ich recherchiert. Und fand aus der Zeit seit Bidens Amtsantritt, ja sogar bereits während seines ersten Wahlkampfs derartig viele Texte, Diskussionen und Statements zum Thema, von kleinen, großen und riesigen Medien stammend, dass ich nur eine Auswahl verlinken kann:

Das People-Magazin veröffentlichte im November 2020 diesen Artikel über die Bedeutung des Alters von Präsidentschaftskandidaten, Überschrift:

"Joe Biden Turns 78 and Will Be the Oldest President — After Trump Broke the Record Right Before Him”

Darin steht über die Altersdiskriminierung, die das Küken Trump gegenüber Slow Joe anzuwenden versuchte:

"Age has played a complicated and at times discomfiting role in the most recent presidential campaign: Various polls showed it was a concern among many voters in the lead-up to the election — something Trump, ever pugilistic, tried to wield as a weapon against his rival by claiming Biden, only a few years older than him, was too enfeebled to take office.”

(Der Link führt übrigens zu einer diesbezüglichen Umfrage von 2019.)

Im Dezember 2020 fragte der in Philadelphia ansässige Fernsehsender WHYY hier, ob die USA "eine Gerontokratie" sei, hihi.

"Is America a "gerontocracy?" The U.S. government is significantly older than the American population. Why? And does this affect governing and policy?"

Hier ist zwar auch ein langer, hintergründiger und unterhaltsamer Artikel aus dem Time Magazine, erstmals publiziert im April 2021, der Markus Lanz‘ These bezüglich der zu starken "politischen Korrektheit" stützen würde:

"Ageist Attacks Against President Biden Reinforce Outdated Stereotypes—and Hurt Younger People, Too”

Aber der Großteil der wie gesagt enorm umfangreichen Berichterstattung thematisiert die Sorgen, die man sich von Anfang an um das Alter beider Kandidaten, vor allem aber das Bidens, und den damit vermuteten (und immer mehr bestätigten) gesundheitlichem bzw. mentalen Einschränkungen machte.

Hier ein 2023 erschienener Text aus der "unabhängigen Denkfabrik" Brookings mit dem Titel "Is Biden too old to be president? Is Trump?"

Hier beschreibt Reuters 2023, wie Bidens Alter sich auf die Wiederwahl auswirken könnte: "Biden turns 81 as worries about his age weigh on re-election prospects."

Taylor haut uns raus

Und so weiter. Selbstzweifel sind natürlich immer gut – aber angesichts der meines Erachtens doch ganz erschöpfenden Greisen-Thematisierung bräuchte Lanz also eigentlich gar nicht so "wütend und enttäuscht" über die Medien bzw. sich selbst zu sein. Ich glaube auch nicht, dass sich US-Journalist:innen dahingehend tatsächlich absprechen – es ist nur sehr schwer, wenn nicht sogar ungehörig, per Ferndiagnose den Geistes- oder Gesundheitszustand anderer Menschen zu bestimmen. Lotti Huber würde sagen: Diese Zitrone hat noch viel Saft. Obwohl mich in dem Fall eher interessieren würde, was Taylor Swift zum Wahlkampf sagen wird – gesagt hatte sie ja im März schonmal angesichts einer anderen Wahl:

"I wanted to remind you guys to vote the people who most represent YOU into power".

So, und jetzt bitte mal übertragen auf Trump vs Harris… we count on you, Taylor.

Two Faced Vance

Gern gehört habe ich im oben genannten Podcast auch, wie ausführlich der Trump-Running Mate JD Vance besprochen wird, der sich bekanntlich hastdunichtgesehen vom Saulus zum Paulus gewandelt hat. (Das führte übrigens dazu, berichtet hier der Spiegel, dass der deutsche Ullstein Verlag ihn aus dem Programm nahm – trotz seines damaligen Bestsellers "Hillbilly-Elegie", von dem ebenfalls im obigen Podcast die Rede ist.) Wer wissen will, wie Vance damals war, sollte diesen 2016 erschienenen, von ihm selbst verfassten Artikel aus der New York Times lesen, in dem er sich ausgiebig mit Trump auseinandersetzt, analysiert, warum Trumps Botschaften so gut ankommen, und ihm bitter attestiert:

"Mr. Trump is unfit for our nation’s highest office. But to those humiliated by defeat, he promises we’ll win again."

In einer Nachricht an einen Kumpel nannte Vance Trump laut dieses Vanity Fair-Artikels, der all die ehemaligen Animositäten zwischen den jetzigen dicken Polit-Buddies zusammenträgt, übrigens einst "America’s Hitler". Aber auch die hochverehrte Vanity Fair clickbaitet sich eben zuweilen in mein Herz. Ich sag nur wie’s ist.


Altpapierkorb (mit Föderl-Schmid, Schleichwerbung bei RAI, Prince Harry und dem Vermächtnis von Manne Krug)

  • Das kam gerade rein: Die SZ-Vizechefin Chefredakteurin Föderl-Schmid kehrt mit verändertem Aufgabengebiet als Nachrichtenchefin zurück, melden alle Medien (siehe diverse AP über das Thema hier, hier oder hier)

  • Die FAZ (€) beschreibt einen möglichen Fall von Schleichwerbung beim italienischen Sender RAI…

  • und hier, wie negativ Prinz Harrys Ärger mit der Boulevardpresse sich nach seinen eigenen Angaben auf sein Familienleben auswirkt.

  • Zum Abschluss darum noch etwas Herzerwärmendes aus dem Tagesspiegel: Die Serie "Liebling Kreuzberg" mit Manne Krug bekommt eine Spielfilm-Fortsetzung. Ach ja. (Mal sehen, wie herzerwärmend das wirklich wird...)

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab.

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