Kolumne: Das Altpapier am 18. Juli 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 6 min
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Ist das Vorgehen gegen "Compact" fatal, weil Nancy Faeser nicht darüber nachgedacht hat, dass sich die Methode unter einem AfD-Innenminister etablieren könnte?

Do 18.07.2024 13:09Uhr 05:43 min

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Kolumne: Das Altpapier am 18. Juli 2024 Präzedenzfall mit Missbrauchspotenzial

18. Juli 2024, 12:33 Uhr

Ist das Vorgehen gegen "Compact" fatal, weil Nancy Faeser nicht darüber nachgedacht hat, dass sich die Methode unter einem AfD-Innenminister etablieren könnte? Schwiegen die US-Medien zu lange über Joe Bidens Verfassung, wie ein "Spiegel"-Redakteur kritisiert? Oder spricht viel dafür, dass das größtmögliche Gegenteil zutrifft? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Warum nahm Faeser die Hintertür?

Kann man eine Zeitschrift unter Rückgriff auf das Vereinsgesetz verbieten. Sollte man es? Diese Fragen haben wir am Mittwoch im Zusammenhang mit dem "Compact"-Verbot nur angerissen. Mittlerweile haben sich zu dem Thema aber mehrere Juristen und Journalisten ausführlich geäußert.

Christopher Degenhart, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Uni Leipzig und von 2010 bis 2020 Richter am sächsischen Verfassungsgerichtshof, sagt zum Beispiel gegenüber der FAZ, "der Weg über das Vereinsverbot" sei "verfassungsrechtlich nicht gangbar". Degenhart weiter:

"Wenn es sich wie hier um einen Verein handelt, dessen wesentlicher Vereinszweck die Herausgabe einer Zeitung/einer Zeitschrift, Print oder online ist, handelt es sich materiell um ein Publikationsverbot in Gestalt eines Vereinsverbots. Damit wird die Kompetenzordnung des Grundgesetzes umgangen – Presserecht ist Landesrecht, dies gilt auch für Verbote, die in dieser Form im Presserecht der Länder eben nicht vorgesehen sind. Materiell ist das Verbot unmittelbar am Grundrecht der Pressefreiheit zu messen – Beschränkungen der Pressefreiheit sind zulässig, wenn strafbare Inhalte verbreitet werden, können aber auch dann meines Erachtens nur die jeweilige Ausgabe betreffen und kein Totalverbot rechtfertigen."

Minh Schredle verweist in der Wochenzeitung "Kontext" unter der Überschrift "Wieder durch die Hintertür" auf Parallelen zwischen dem aktuellen Verbot und dem "der linksradikalen Open-Posting-Plattform 'linksunten.indymedia" (…), die 2017 ebenfalls über das Vereinsrecht stillgelegt worden ist":

"Damals bemängelte die NGO Reporter ohne Grenzen, dass die Bundesregierung ein Medium 'durch die Hintertür des Vereinsrechts komplett verbietet und damit eine rechtliche Abwägung mit dem Grundrecht auf Pressefreiheit umgeht'."

Instruktiv auch ein Verweis auf ein 15 Jahre altes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte:

"Damals klagte ein türkisches Medium, das wegen angeblicher Billigung terroristischer Verbrechen wiederholt für Zeiträume von 15 Tagen bis zu einem Monat verboten worden war. Das Gericht betonte, dass einzelne Artikel, die strafrechtliche Grenzen überschreiten, durchaus verboten werden dürfen. Dennoch interessierten sich die Richter:innen im damaligen Fall überhaupt nicht für die Inhalte, die damals verbreitet wurden, sondern stellten klar, dass der Präventivschlag gegenüber zukünftigen Publikationen ohne Kenntnis dessen, was genau eigentlich veröffentlicht werden soll, zu weit gehe: 'Die Praxis, die zukünftigen Veröffentlichungen eines ganzen Periodikums zu verbieten, überschreitet jedes Maß einer 'notwendigen' Beschneidung [der Meinungsfreiheit] in einer demokratischen Gesellschaft', hieß es damals über die wohlgemerkt befristeten Verbotszeiträume der klagenden Publikation."

Schredles Fazit:

"Mit 'Compact' wurde nun ein Medium aus dem Verkehr gezogen, dem der Autor keine Träne nachweint. Dass der Staat aber – wie auch bei 'linksunten' – den Problemkomplex eines Medienverbots erneut umschifft, indem ein Verein konstruiert wird, hat trotzdem einen Beigeschmack: Denn wenn sich diese Methode einmal etabliert, wird es wohl nicht bei der heutigen Zahl von Verboten bleiben. Wenn das Bundesinnenministerium auf diesem Wege die Entscheidungsgewalt erlangt, welche Publikationen legitim sind, ergibt sich dadurch ein erhebliches Missbrauchspotenzial. Das zu kritisieren, kostet viel Überwindung, wenn es wie bei 'Compact' die Magazin gewordene Jauchegrube der deutschen Journaille trifft. Aber dass die juristische Infrastruktur schon vorhanden ist, durch die zweifelhafte Konstruktion von Vereinen Medien komplett und unbefristet zu verbieten, ist eine sehr beunruhigende Vorstellung – gerade mit Blick darauf, dass die 'Compact"-Lektüre auch in Teilen des staatlichen Sicherheitsapparats beliebt war und sich Machtverhältnisse jederzeit wandeln können."

In diese Kerbe hat auch Andrej Reisin bei "Übermedien":

"Für die Pressefreiheit (…) wäre es besser, solche Entscheidungen würden nicht von der Exekutive (die früher oder später auch von AfD und Co. gestellt werden könnte) getroffen, sondern müssten wie beim Parteienverbot gleich dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden (…) Es scheint (Nancy Faeser) (…) nicht aufzugehen, dass die Präzedenzfälle, die sie schafft, dereinst anderen für ihre Zwecke dienen könnten. Grundrechte auszuhöhlen wird am Ende sicher nicht der liberalen Demokratie nutzen, sondern ihren Feinden."

Nun fällt es derzeit zwar schwer, sich eine Bundesinnenministerin oder einen Bundesinnenminister vorzustellen, die oder der weiter rechts steht als Nancy Faeser, aber man sollte natürlich nicht so naiv sein, sich das nicht vorzustellen. Insofern sind die Szenarien, die Schredle und Reisin anreißen, nicht von der Hand zu weisen.

Reisin nimmt darüber hinaus, wie Schredle, Bezug auf den "linksunten.indymedia"-Fall (der ja im "Fall" Radio Dreyeckland weiter wirkt, siehe Altpapier) und kritisiert in dem Zusammenhang die hiesigen Medien:

"Auffällig ist, wie zügig und umfassend sich am Dienstag Journalist:innen auf X und in Artikeln zu Wort meldeten: Egal, ob das Verbot dabei kritisch gesehen wurde (…) oder befürwortet (…) – allen schien die grundsätzliche Bedeutung des Vorgangs schlagartig bewusst. Das mag an Verbreitung und Bedeutung von "Compact" liegen, aber merkwürdig ist es doch: Denn beim 'linksunten.indymedia'-Verbot ging den deutschen Medien seinerzeit kaum ein Lichtlein auf."

Der unterschiedliche Umgang des RBB mit Jebsen, Nuhr und Hotz

Gibt es aktuell einen Grund, den RBB zu loben? Immerhin diesen: Es ist möglich, dass sich in den Programmen des RBB Mitarbeitende kritisch über den RBB äußern. Lorenz Meyer - den wir am Mittwoch hier bereits mit seiner Kritik an der RBB-Entscheidung, sich von Sebastian Hotz alias El Hotzo zu trennen, zitiert haben - hat seine Argumentation in seinem wöchentlichen Kommentar für Radio Eins weiter ausgeführt:

"Nehmen Sie den Kabarettisten Dieter Nuhr. Der hat neulich in einer Sendung über Menschen, die mit einem Messer aus dem Haus gehen, gesagt, ich zitiere: 'Sollte man solche Leute nicht besser einschläfern lassen?' Das ist schon ein harter Spruch. Und auch da gab es Forderungen nach Konsequenzen. Passiert ist - nichts. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich fordere das nicht. Aber es besteht die Gefahr, dass bei manchen der Eindruck entsteht, hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Der eine wird rausgeworfen, der andere darf weitermachen. Und das führt dazu, dass sich die Menschen fragen: Warum gibt es diese unterschiedlichen Maßstäbe? Hängt das mit dem Alter zusammen, mit dem Bekanntheitsgrad, mit der politischen Verortung?"

Mit der politischen Verortung hängt es ganz bestimmt zusammen. Die nicht ganz leicht zu beantwortende Frage lautet allerdings: Welchen Anteil hat diese Verortung an der Entscheidung?

Wer in Sachen "unterschiedliche Maßstäbe" noch Futter braucht: Christopher Schattleitner, Redakteur beim "ZDF Magazin Royale", liefert bei Threads ein paar plastische Zitate.

Einen ganz großen historischen Bogen schlägt Joachim Huber im "Flurfunk"-Blog:

"Ken Jebsen bekam Bewährung, dann die Kündigung. El Hotzo bekam gleich die Kündigung."

Der "Fall Jebsen" ist jetzt 13 Jahre her, und jüngere Leser haben möglicherweise gar nicht auf dem Schirm, dass der Verschwörungsonkel mal Mitarbeiter des ÖRR war.

Dirk von Gehlen von der SZ formuliert bei Threads schließlich einen guten Rat an die Entscheidungsträger in den Sendern: 

"Die Frage der Geschmacklosigkeit eines Witzes ist der Trigger, aber nicht der Kern der El-Hotzo-Debatte (…) Es geht um Skandalisierung und Polarisierung mit dem Ziel, das Vertrauen ins System zu schwächen und einzelne Mitarbeiter:innen persönlich zu diffamieren. Mit jedem Fall, in dem dieses Muster zu Aufmerksamkeit und dann zum Erfolg führt, wird die Wiederholung wahrscheinlicher und häufiger."

X nach dem Mordversuch

Was Twitter mal war und X heute ist - damit beschäftigen sich aktuell zwei Autoren mit unterschiedlichen Ansätzen. Der Soziologe und Björn-Höcke-Experte Andreas Kemper schreibt im Blog der Organisation Campact über seinen späten Abschied von X:

"Zwölf Jahre (…) kommentierte ich bei Twitter kritisch die Entstehung und Entwicklung der AfD. Es fällt mir schwer, dort nicht mehr zu schreiben. Aber Twitter, das jetzt X heißt, ist zu einem profaschistischen Projekt verkommen. Die Kommentare sind unerträglich geworden (…) Der Begriff 'Shitstorm' macht bei X keinen Sinn mehr, suggeriert die Metapher doch, dass temporär mit Dreck geworfen wird. Dem ist schon lange nicht mehr so. Der menschenverachtende Dreck ist dort omnipräsent."

Kyle Chayka wiederum blickt für das Magazin "New Yorker" darauf, was bei X unmittelbar nach den Schüssen auf Donald Trump passierte:

"Twitter fühlte sich früher wie ein Teil des 'ersten Rohentwurfs der Geschichte' (…) an, eine Echtzeit-Aufzeichnung aktueller Ereignisse. Jetzt, wo die Moderation der Inhalte abgeschafft wurde und Nachrichtenartikel keine Priorität mehr haben, gleicht die Plattform eher einem Teilchenbeschleuniger, der chaotisch Inhalte neu mischt, um die aufmerksamkeitsstärksten Memes zu produzieren. Die Memes über die Schießerei bei der Kundgebung sind Ausdruck der kollektiven Verwirrung darüber, wie ein solch extremes Ereignis über so grundlegend trivialisierende Kanäle verarbeitet werden kann."

Die Wahrnehmung eines "Spiegel"-Korrespondenten

"Das laute Schweigen der Medien über Joe Biden" prangert gerade René Pfister, der US-Korrespondent des "Spiegel", an. Genauer: das "Versagen" von US-Journalisten, die "lange (…) zögerlich über Bidens Verfall berichteten".

Nun ist es natürlich nie ganz so leicht, das "Schweigen" von Journalisten zu kritisieren, denn: Aus Texten, die nicht erschienen sind, kann man nicht zitieren, man kann sie - und das wäre dann ein Problem, das eher Altpapier-Autoren betrifft als Pfister - nicht verlinken.

Wie auch immer: Die These, die Pfister aufstellt, lässt sich bestimmt gut verkaufen. Aber ist an ihr auch was dran?

Wir haben hier Ende Juni auf eine Untersuchung von "Media Matters" verwiesen, die in der Zeit zwischen dem 15. Januar bis 17. Juni stattfand. Ausgewertet wurden Artikel in der "Washington Post", im "Wall Street Journal", in der "New York Times", der "Los Angeles Times" und von "USA Today", die sich "auf das Alter oder die geistigen Fähigkeiten von Biden oder Trump konzentrierten".

Das Ergebnis lautete:

"Wir fanden 144 Artikel, die sich im untersuchten Zeitraum entweder auf Bidens oder auf Trumps Alter oder geistige Fähigkeiten konzentrierten, wobei 67% nur auf Bidens Alter oder geistige Fähigkeiten und nur 7% nur auf Trumps Alter oder geistige Fähigkeiten abstellten."

Auf Platz zwei in diesen Negativcharts: die "New York Times":

"78% of (their) articles were focused on just Biden’s age or mental acuity but not Trump's while only 6% — 2 articles — were focused on just Trump's. 16% of articles were focused on both candidates' ages or mental acuities."

Nun kann man natürlich immer sagen: Na ja, waren ja nur fünf Zeitungen. Oder: Der Untersuchungszeitraum umfasst ja nicht einmal ein halbes Jahr. Aber die Berichterstattung von "Media Matters" macht einen validen Eindruck. Die Kolumne von Pfister, der das größtmögliche Gegenteil dessen behauptet, was die erwähnte Statistik hergibt, dagegen nicht.


Altpapierkorb ("Junge Welt" gegen Bundesrepublik, Offener Brief an "perspektivlosen" HR-Intendanten, Lob für MDR-Sendekonzepte für die kommenden Landtagswahlen, "Bild"-Kooperation mit israelischer Zeitung)

+++ Seit heute um 10 Uhr verhandelt das Verwaltungsgericht Berlin in der Rechtssache "Verlag 8. Mai GmbH ./. Bundesrepublik Deutschland". Der Verlag gibt die "Junge Welt" heraus und wehrt sich nun dagegen, dass die Zeitung vom Bundesamt für Verfassungsschutzbeobachtet wird. "Wäre es nicht eher passend für eine freiheitliche Demokratie, wenn sie eine solche Zeitung erträgt, die in ihrer Berichterstattung über den Nato-Gipfel am vergangenen Freitag von westlichem Säbelrasseln schreibt? (…) Ist die Diskussion zwischen dieser und jener Sichtweise auf die Nato, auf die westliche, auch auf die deutsche Verteidigungspolitik nicht genau das, wozu man sie hat – die Demokratie? Und die Pressefreiheit? Von blanker Desinformation à la 'Compact' sind die Autoren der 'Jungen Welt' immerhin weit entfernt, von Aufstachelung zu Hass und Gewalt gegen Minderheiten hierzulande ebenso." Das schreibt Rosen Steinke auf der heutigen SZ-Medienseite. Wir wissen nicht, wann die Entscheidung fällt, und können auch nicht einschätzen, wie’s ausgeht, aber Steinkes Text wird auch nach dem Urteil noch lesenswert sein. Die "Junge Welt" berichtet heute natürlich auf ihrer Seite 1.

+++ Mehr als 270 Mitarbeitende des Hessischen Rundfunks haben in einem Offenen Brief an den Intendanten Florian Hager "die vor gut einem Monat vorgestellte 'Radiostrategie' sowie deren mediale Kommunikation scharf kritisiert". Das berichtet dwdl.de. In dem Offenen Brief heißt es unter anderem: "Besonders frustrierend erscheint uns, dass trotz angekündigter 'Umschichtungen ins Digitale' vor allem Leerstellen und Perspektivlosigkeit erkennbar werden. (…) Wird Ihre 'Radiostrategie' ohne Abstriche umgesetzt, droht ein (weiterer) massiver Legitimationsverlust."

+++ Der oben bereits zitierte Joachim Huber lobt in einem weiteren Beitrag für den "Flurfunk" die Konzepte des MDR für die Berichterstattung zu den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen: "Der erste Eindruck ist ein großes Oha. Das Konzept für Sachsen vor der Wahl, während des Wahltages und nach der Wahl kommt auf 31 Seiten, jenes für Thüringen auf 33 Seiten. Ein ausführlicheres Sendekonzept für Landtagswahlen ist nicht erinnerlich."

+++ Über die Kooperation zwischen der "Bild"-Zeitung und der sehr Netanjahu-nahen Zeitung "Israel Hayom" berichtet Leon Holly für die taz. Der Autor verweist unter anderem auf eine Arte-Dokumentation von 2019, in der es heißt, Netanjahu liefere "Israel Hayom" "nicht nur Zitierfähiges, sondern redet gar bei Überschriften für die Artikel mit".

Das Altpapier am Freitag schreibt Johanna Bernklau.

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