Kolumne: Das Altpapier am 15. Juli 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab 3 min
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Kolumne: Das Altpapier am 15. Juli 2024 Spekulationen und das Ende vom Märchen

15. Juli 2024, 10:22 Uhr

Nach dem Attentatsversuch auf Donald Trump wird spekuliert, viel wirres Zeug geredet – und mal wieder über das Informationsprogramm der Öffentlich-Rechtlichen am Sonntagmorgen diskutiert. Außerdem: Reiner Haseloff über weniger ÖRR. Und ein Fußballfazit. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Frage nach der Echtzeitinformation

"Das Attentat auf Donald Trump", "Trump überlebt Attentat in Pennsylvania", "Trump hurt, but safe, after a shooting": Das sind Aufmacher der Zeitungen in Deutschland oder den USA. Es war, auch für Nachrichtenleute, ein aufreibendes Wochenende. Auch deshalb, weil, nachdem Donald Trump in der Nacht zum Sonntag deutscher Zeit auf einer Wahlkampfveranstaltung durch einen Schuss verletzt worden war, schnell wilde Theorien verbreitet wurden. Ein falscher Tätername kursierte. Es gab und gibt Anschuldigungen und enorm viele idiotische Tweets. Und Aussagen von irgendwelchen Leuten, die etwas beobachtet haben wollen. Man kann Spekulationen leicht für News halten (siehe etwa Bayerischer Rundfunk). Unter anderem die "FAZ" hat den Irrwitz in der Montagsausgabe nachbereitet.

Aber, auch darauf ist Verlass, wenn es um Breaking News geht: Es wurde auch wieder die Frage in den Raum gestellt, wo ARD und ZDF denn am Sonntagmorgen gewesen sind. Da sendeten die Schaufenstersender der Öffentlich-Rechtlichen jedenfalls gerade ihr Wochendkinderprogramm.

Dem "Tagesspiegel" geht es oft nicht reibungslos genug mit dem öffentlich-rechtlichen Informationsfluss. So auch diesmal: "(A)ußer bei Tagesschau24 werden die Zuschauer von ARD und ZDF darüber am Morgen danach nur unzureichend informiert", schrieb er (Abo). Mag sein. Allerdings stimmt auch das: "Der ganz frühe Sonntagmorgen gehört in ARD und ZDF traditionell den jüngsten Fernsehzuschauern." Denn warum sollte man Vier- oder Achtjährige mit Laufbändern behelligen, auf denen steht, dass in den USA auf einen bekannten Politiker geschossen wurde – oder gar mit Bildern davon? Sie sollten das nicht sehen müssen. Nicht weil sie sich grundsätzlich noch nicht für die Welt interessieren würden, sondern weil sie kindgerecht angesprochen werden müssen.

Kinder sind auch vor einem knappen Jahr nicht die Zielgruppe für vage Infos über einen bewaffneten Söldneraufstand in Russland gewesen. (Siehe dazu dieses Altpapier, in dem das Thema schon einmal ausführlich durchgekaut wurde; und dieses Altpapier und dieses und…).

ARD und ZDF stecken trotzdem in einem Dilemma, und das wissen sie selber. Es spielte auch im Wahlkampf um die WDR-Intendanz eine Rolle. Jörg Schönenborn, einer der Kandidaten, sei in der Vorstellungsrunde "mit einem Bekenntnis zu Programmunterbrechung bei Breaking News" aufgefallen, notierte da die "Süddeutsche" (Altpapier). Die Frage ist, welche Möglichkeiten es jenseits der Unterbrechung noch gäbe. Ein Laufband, das, ohne verstörende Details zu nennen, auf einen anderen Sender verweist? (Vielleicht im ARD-Fall so: "Vorfall bei Veranstaltung von Donald Trump – mehr für eure Eltern gibt es auf Tagesschau24"?) Dort und auf Phoenix gab es ja Berichterstattung über den Attentatsversuch, in der Nacht zum Sonntag und im Laufe des Tages (dwdl.de). Auf Welt und n-tv übrigens auch, aber die beiden Sender stehen, weil sie nicht öffentlich-rechtlich sind und als Nachrichtensender konzipiert sein dürfen, nicht im Fokus dieser Diskussion.

Man müsste aber zum Beispiel Tagesschau24 darüber hinaus dann auch stärker als Ort für Liveberichterstattung im Fall der Fälle bekannt machen, ohne ihn deshalb zwangsläufig als 24/7-Nachrichtensender auszustatten.

Es gab mal eine Werbung von ProSieben, "ProSieben auf die Sieben" war der Slogan. Damals spielte Mediatheken- und Streamingfernsehen noch keine große Rolle, es war insofern eine etwas andere Zeit. Aber der dahinterstehende Gedanke wäre auch in diesem Fall meines Erachtens richtig: Ein breites Publikum müsste intuitiv wissen, wohin es schalten oder wohin es sich begeben muss, um vom Fernsehen in einer Nachrichtenlage informiert zu werden. Diese Art von öffentlich-rechtlichem Newsfernsehen ist immer noch nicht etabliert.

Haseloff will weniger im ÖRR

Was meines Erachtens enorm wichtig ist bei einer öffentlich-rechtlichen Liveberichterstattung: Nicht alles ist newsworthy, was irgendwo gelabert wird.

"(A)ufgrund der deutschen Geschichte brauchen wir einen unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und der sollte deutlich sichtbar herausragen aus all dem anderen Wust der Gegenwart. Er sollte eine eigene Autorität sein auch durch seine Diskursfähigkeit und er sollte Binnenpluralität abbilden. Und weil er über verpflichtende Beiträge verlässlich finanziert ist, muss er sich mit dieser Privilegierung auch unterscheiden von denen, die sich durch Klicks, durch Werbung und auch nach völlig anderen ethischen Grundsätzen organisieren."

So formulierte es – erschienen bereits am Samstag, also nicht im Zusammenhang mit der Sonntagsdebatte – der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" (Abo). Die Kernaussagen verbreiteten sich via Katholische Nachrichten-Agentur auch darüber hinaus (etwa bei tagesspiegel.de).

Haseloff äußert sich darin indirekt auch zur Debatte über die vorgesehene Rundfunkbeitragserhöhung, der die Länder zustimmen müssen. Er sagt:

"Ich denke, es muss gerade bei den Öffentlich-Rechtlichen weniger gemacht werden, das aber konzentrierter und in hoher Qualität. Man darf nicht die Menge immer weiter erhöhen, indem ich zu den 70 Radiosendern noch da einen Podcast hinzufüge und dort einen Account und überall hört nur eine Handvoll Leute zu. Es sollte eine Konzentration mit hoher Qualität erfolgen, die aus der übrigen Medienlandschaft herausragt, auch um effektiver zu sein. Und übrigens auch, um eine Binnenpluralität wiederherzustellen, die eine Demokratie braucht."

Der direkte Zusammenhang zwischen "Binnenpluralität herstellen" und "weniger produzieren" ist nur mit kleineren Verrenkungen herstellbar. Haseloff stellt ihn her, indem er erstens die öffentlich-rechtliche Textproduktion in die Gleichung bringt: "Wenn dann auch noch, gerade im ländlichen Raum, die Zeitungen abschmieren, weil Sender massenhaft komplette Essays als Text ins Netz stellen, verlieren wir die Binnenpluralität." Und zweitens die unter konservativen Öffentlich-Rechtlichen-Kritikern gängige (und in meinen Augen vor allem mit Redundanz überzeugende) Behauptung, es fehle an Ausgewogenheit: "Die Mehrheit der Menschen wählt abweichend von der Prononcierung im Öffentlich-Rechtlichen, auch abweichend von der Kommentierung."

Die Frage, ob es Ausgewogenheit gibt, ist freilich eine der Perspektive. Wenn man selbst auf der Waage steht, wird man es wohl nicht herausfinden können: Von einem politischen Standpunkt aus hat man nicht unbedingt einen klaren Blick darauf. Wenn jemand beklagt, Menschen würden anders ticken, als die Öffentlich-Rechtlichen kommentieren, hätte ich daher regelmäßig noch eine Nachfrage: Wer sind denn die Öffentlich-Rechtlichen? Ihre Gesamtheit? Oder ausgewählte, ins eigene Bild passende Beispiele? Ich komme im Altpapierkorb nochmal darauf zurück.

Ein Medienwort des Jahres 2024

Das Fußballturnier isch over, und die Medien, also auch wir hier im Altpapier, können fazitieren. Wie war’s denn so, medial? Nun, erstens gab es natürlich Quoten, Streamingzahlen und Marktanteile, quasi die Zweikampfstatistiken der Fernsehens. Wer sie wissen will, kann bei der dpa oder beim Tagesspiegel weiterlesen. Zweitens gab es diesen und jenen Experten, der sich in die Herzen von Teilen des Publikums gelabert hat, Christoph Kramer etwa, der in einem "Spiegel"-Interview (Abo) vergangene Woche auch korrekt beobachtete Klickjournalismuskritik (Altpapier) geübt hat:

"Wenn man nur einmal alle Überschriften nimmt, die bei diesem Turnier über mich getextet wurden, demnach müsste ich ein furchtbarer Charakter sein. Und dann liest man anschließend den dazugehörigen Text und denkt: Der ist doch gar nicht so schlimm, der Typ. Ein solcher Journalismus geht nur danach, was am meisten klickt. Wir sind dahin gekommen, dass wir alle fallen sehen wollen, das ist mega-schade. Das sind zudem ja auch keine schönen Texte, nichts, wo man nach dem Lesen denkt: Der hat mich jetzt weitergebracht."

Drittens hat in den vier Wochen der Europameisterschaft exakt niemand den Begriff "Sommermärchen" benutzt, der wirklich beschreiben wollte, was gerade vor sich geht. Sollte ein Verlag, analog zum deutschen Jugendwort des Jahres, ein Medienwort des Jahres küren, ein Wort, das eben einfach so herumbenutzt wird, weil es andere auch benutzen: Für 2024 böte sich "Sommermärchen" an. Es hat sich als ein in den Journalismus rübergemachter Hashtag herausgestellt, der auch jetzt noch über Texten steht, in denen das Wort selbst deswegen gar nicht vorkommen muss oder nur randständig (faz.net oder spiegel.de, jeweils in Abo-Texten).

Was soll er bedeuten? Das bleibt auch am Ende der Europameisterschaft schleierhaft. Dass die Sonne scheint, während Männer einem Ball hinterherrennen? Dass die Wirtschaft so boomt, wie sie es schon 2006 nach der WM nicht tat?

Und viertens gab es in englischen Medien eine Art Wettbewerb darum, wer das lange Zeit langweilige Spiel der englischen Mannschaft am elegantesten als langweilig analysiert. Ausgezeichnet hat sich, so sieht es die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (Abo-Text, bereits weiter oben verlinkt) in ihrem Rückblick aufs Turnier, der "Guardian". Dort erschien schon im Juni in einem Artikel von Jonathan Liew ein etwas abstruser Absatz, in dem, wie Liew anschließend aufklärte ("That’s a pretty terrible paragraph, right?"), nicht ein einziges Mal der Buchstabe A vorkam. Die "FAS" fasst sein Vorhaben so zusammen:

"Er erklärte danach, dass die englischen Fußballer nur 70 Prozent des Feldes nutzen würden – und setzte dann die Pointe: Das sei so, als würde man einen Absatz schreiben, in dem man, wie er das gerade gemacht habe, den Buchstaben A nicht nutze."

Man könnte sagen, im Londoner "Guardian" wurde nicht nur ein Spiel gelesen, dort wurde sogar eines geschrieben. Insofern hat England schon auch ein bisschen gewonnen.


Altpapierkorb (Gespräche über Springer-Aufspaltung, Lanz und Kroos, Richtigstellung auf mdr.de, Tobias Krell, Afrika-Berichterstattung)

+++ Der Axel-Springer-Konzern steht vor der Aufspaltung. Holla? Michael Hanfeld sieht’s in der "FAZ" so: "Das klingt dramatisch, ist es aber nicht. Was jetzt kolportiert wird, nämlich dass bei Springer das digitale Rubrikengeschäft und das journalistische Metier künftig nicht mehr unter einem Konzerndach laufen, folgt nämlich der Kapitalmaximierung, auf die der Investor KKR als Teilhaber aus ist." Dass das Vorhaben Sinn ergebe, meint Gregory Lipinski bei meedia.de, denn es würde sowohl KKR als auch den Großaktionären Friede Springer und Mathias Döpfner Vorteile bringen: "Sie erlangen dadurch nicht nur die alleinige Kontrolle über die jeweiligen Unternehmensteile. Sie können das Rubriken- und Mediengeschäft getrennt leichter an die Börse bringen, um dadurch mit frischem Kapital das Wachstum der beiden Bereiche voranzutreiben."

+++ Die "FAZ" hat das MDR-Magazin "Brisant" für "schlechten Boulevardjournalismus" kritisiert (12.7.) und nun vermeldet, der Beitrag sei mittlerweile offline: "Der Vorfall könnte die Debatte erneut entfachen, ob es tatsächlich Aufgabe der ARD ist, Klatschgeschichten über Royals im Stil der Regenbogenpresse zu verbreiten." Auf mdr.de steht eine "Richtigstellung".

+++ Weil Reiner Haseloff im oben zitierten "SZ"-Samstagsinterview mehrfach das Beispiel Migration erwähnt, um die vermeintliche Schlagseite des ÖRR zu kritisieren: Markus Lanz wiederum wurde, ebenfalls in der "Süddeutschen" (Abo), dafür kritisiert, dass er in einem Gespräch mit Fußballer Toni Kroos "beherzt die Gelegenheit" ergriff, einen Zusammenhang mit Migration herbeizukonstruieren, als Kroos etwas vage über sein Sicherheitsgefühl in Deutschland sprach. Lanz, der prominenteste Polittalker mit den meisten Talksendestunden pro Woche, habe als Souffleur, nicht als Moderator agiert, kritisiert Sonja Zekri.

Was Toni Kroos tatsächlich gesagt hat und was nicht, stand im österreichischen "Standard". Dort stand auch, warum in den vergangenen Tagen derart viel Wind um Kroos’ Aussagen gemacht wurde. (Ich habe mir den Podcast angehört. Es gibt darin eigentlich so viel Wichtiges nicht zu hören, bitte gehen Sie einfach weiter. Aber das hat die rechten Krawallpublikationen, von denen der Wind ausging, ja noch nie interessiert.)

+++ Es gibt ein Interview mit Tobias Krell alias Checker Tobi bei Zeit Online (Abo). Auch zum heute diskutierten Stichwort kindgerechte Vermittlung auch politischer Inhalte.

+++ In der deutschen Afrika-Berichterstattung kämen nach Einschätzung des Medienwissenschaftlers und Reporters Lutz Mükke "zu selten lokale Akteure zu Wort", schreibt epd Medien. Mükke habe das auf einer Tagung anlässlich des 20. Jubiläums des Netzwerks Weltreporter gesagt.

Am Dienstag schreibt das Altpapier Christian Bartels.

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