Kolumne: Das Altpapier am 12. Juli 2024: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens 5 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 12. Juli 2024 "Finstere Zeiten tragen die Signatur der Entwirklichung"

12. Juli 2024, 11:15 Uhr

Von Hannah Arendt lernen, könnte heißen: Es geht heute nicht mehr ums Recht haben, "sondern um das Eintreten für einen Raum, in dem es überhaupt noch um Beweisführungen und Argumente gehen kann". Sagt die Philosophin Juliane Rebentisch. Ebenfalls auf der Agenda: der frustrierende Umgang der Medien mit parteiinternem Streit. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Tabea Rößners Abschiedsankündigung

Wenn wir eine Liste der Medienpolitikerinnen und Medienpolitiker zusammenstellen würden, die in der Geschichte des Altpapiers am häufigsten vorgekommen sind, dann wäre die grüne Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner wohl in der Spitzengruppe dabei - auch wenn es in diesem Jahr erst zu zwei Erwähnungen gereicht hat (hier und hier). In einem Brief an ihren Landesverband, den die "Süddeutsche Zeitung" aufgreift, hat Rößner, die medienpolitische Sprecherin ihrer Fraktion war und derzeit netzpolitische Sprecherin ist, nun angekündigt, 2025 nicht mehr für den Bundestag kandidieren zu wollen. In diesem Brief blickt Rößner auch auf das Wirken der aktuellen Bundesregierung und den Umgang der Medien damit:

"'Gerade in Krisenzeiten ist so eine Dreierkonstellation natürlich echt schwierig', sagt Rößner. Was die studierte Musikwissenschaftlerin und gelernte Journalistin aber fast noch mehr frustrierte als die internen Streitigkeiten: der Umgang der Presse damit, die sich mehr auf den Konflikt fokussiert habe als auf den Kompromiss. 'Streit und das Ringen um Lösungen sind urdemokratisch', sagt sie."

Abgesehen davon, dass von Kompromissen keine Rede sein kann, wenn man sich regelmäßig auf masochistisch anmutende Art dem Willen der kleinsten Koalitionspartei unterwirft, hat Rößner grundsätzlich Recht. Wir haben diese Entwicklung hier auch schon aufgegriffen, vor zehn Monaten etwa unter der Zwischenüberschrift "Die Faszination der Hauptstadtjournalisten für das Spektakel des Streits" und in Form von konkreter Kritik an besonders grotesken Artikeln.

Wenn wir darüber reden, dass sich Politikjournalisten für den Streit an sich weitaus mehr interessieren als für die Inhalte des Streits; wenn sie berauscht davon wirken, dass sie zu wissen glauben, wer aus einem Streit als "Sieger" hervorgegangen ist oder hervorgehen wird - dann scheint es mir zu kurz gegriffen, die Schuld für die Entwicklung allein bei den Medien zu suchen.

In dem gerade verlinkten Altpapier aus dem vergangenen Jahr schrieb ich dazu:

"Das Problem scheint mir nicht zu sein, dass die Medien Streitereien zwecks Reichweite hochjazzen, sondern dass die Parteien die Auseinandersetzungen gewissermaßen vorchoreografieren."

Meinungsfreiheit als rechtspopulistischer Kampfbegriff

Am kommenden Dienstag erscheint die neue Ausgabe von "Missy" (August/September) am Kiosk. Online (aber abgesehen von einem sehr kurzen Anreißer selbstverständlich nicht kostenfrei) gibt es die Texte bereits, darunter unter der Überschrift "Lasst uns bitte streiten" ein Interview mit der Philosophin Juliane Rebentisch, in dem viele Themen behandelt werden, um die es auch um Altpapier geht (bei uns aber in der Regel nicht aus einem philosophischen Blickwinkel). 

Interviewerin Sonja Eismann stellt Rebentisch folgende Frage:

"Seit Jahren ist zu beobachten, dass die globale Rechte die klassisch linke Diskursfigur des Free Speech gekapert hat. Neue Rechte verkünden, es sei befreiend, rechts zu sein, weil man dann endlich alles sagen dürfe. Die Linke wird als verbotsbesessen und spaßbefreit dargestellt, Rechtsextreme wie Maximilian Krah stehen dagegen für jugendliche Unterhaltung auf TikTok. Wie kam es zu dieser Umkehrung?"

Die Interviewte sagt dazu:

"Damit der angestaubte Sexismus und Rassismus eines Krah etwas von Rebellion haben kann, braucht es die Konstruktion eines links-liberalen Establishments, das angeblich Sprechverbote erteilt. Was es tatsächlich gibt, ist eine öffentliche Auseinandersetzung, in der sich jede Position zusammen mit der Sprache, in der sie sich artikuliert, rechtfertigen muss. Mit der von rechts praktizierten 'Free Speech’ hingegen geht tendenziell eine Abkehr vom Raum der öffentlichen Auseinandersetzung einher (…) Und dann verzerrt sich die Idee der Meinungsfreiheit von einem demokratischen Grundbegriff zu einem rechtspopulistischen Kampfbegriff."

2023 war "Remigration" das "Unwort des Jahres", für das laufende Jahr scheint mir "Meinungsfreiheit" ein guter Kandidat zu sein.

Rebentisch konstatiert des Weiteren:

"Der Nachweis der Lüge oder der Fake News hat für diejenigen, die sie verbreiten, keine großen Konsequenzen, wenn es ihnen gelingt, den gemeinsamen Raum zu diskreditieren, in dem ein solcher Nachweis Gewicht haben könnte. Finstere Zeiten tragen die Signatur der Entwirklichung."

Angesichts der Verwendung der Konjunktion "wenn" lässt sich natürlich fragen, ob es schon gelungen ist. Ein Indiz für die Beantwortung der Frage: Bei der nächsten Bundestagswahl kämen Parteien, deren Mitglieder regelmäßig Falschbehauptungen und Fake News in die Welt setzen, auf 61 Prozent der Stimmen. Quelle für diese Einordnung: die aktuelle "Sonntagsfrage" zur Bundestagswahl von Infratest Dimap.

Rebentisch sagt auch:

"Man sollte sich klarmachen, dass es (…) nicht nur darum geht, inhaltlich gegen Fake News und Lügen Stellung zu beziehen, sondern dass es auf einer (anderen) Ebene (…) darum geht, Verantwortung für den Raum der Auseinandersetzung selbst zu übernehmen. Hannah Arendt vertrat die Auffassung, dass es in finsteren Zeiten nicht ums jeweilige Recht haben geht, sondern um das Eintreten für einen Raum, in dem es überhaupt noch Beweisführungen und Argumente gehen kann. Diese Verschiebung scharf zu stellen, heißt auch, dass man die populistischen Gesten der Geringschätzung der politischen Öffentlichkeit viel klarer als Problem fassen und bekämpfen sollte."

Und diesen "Raum" zu verteidigen, ist wahrlich weitaus schwieriger, als einzelne Fake News als das zu bezeichnen, was sie sind.

Mechanismen, die Feindseligkeit fördern

Von der österreichischen Journalistin Ingrid Brodnig ist gerade das Buch "Wider die Verrohung. Über die gezielte Zerstörung öffentlicher Debatten: Strategien & Tipps, um auf Emotionalisierung und Fake News besser antworten zu können" erschienen. Einen Vorabdruck gab es vor rund einer Woche im "Standard". Dem "Spiegel" hat Brodnig nun ein Interview gegeben, das mich zwischen Zustimmung ("Im Internet nimmt man die Welt manchmal gespaltener wahr, als sie wirklich ist") und Irritation schwanken lässt.

Als es um "Mechanismen, die Feindseligkeit fördern", geht, nennt Brodnig unter anderem folgendes Beispiel:

"Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat neue Empfehlungen abgegeben, wie viel Fleisch man essen sollte. Die 'Bild'-Zeitung macht dazu eine alarmistische Schlagzeile und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder fragt allen Ernstes, warum Leuten alles verboten werden sollte, obwohl nie ein Verbot im Raum stand. Die Empfehlungen sind freiwillig. Der Fall zeigt das bewusste Überdramatisieren von Debatten."

Ich halte der Begriff "Überdramatisieren" in diesem Zusammenhang eher für eine Unterdramatisierung. Es ist ja nicht so, dass das, was Söder gesagt hat, einen wahren Kern hätte, den er lediglich krass übertrieben hätte. Sogar Cem Özdemir hat bei diesem Thema seinerzeit bei "Markus Lanz" mal ein Korn gefunden und Söders Äußerungen so eingeordnet: "Man nennt es eine Unwahrheit, und zwar eine bewusste Unwahrheit." Ich würde es so formulieren: Söder erweckte bei diesem Thema mindestens den Eindruck, die ausgesprochenen Empfehlungen wären Verbote, und die wiederholte Vermittlung dieses falschen Eindrucks - auch mit auf dem ersten Blick harmlosem Unfug ("Ein Leben ohne Bratwurst ist möglich, aber sinnlos") - trägt letztlich dazu bei, dass sich große Teile der Bevölkerung ein falsches Bild machen.

Auf die Passage zu Söder folgt diese Antwort, man kann sie also als Erläuterung des vorher Gesagten verstehen:

"Politiker und Politikerinnen merken, dass sie in der heutigen Medienrealität erfolgreicher sind und mehr Reichweite erzielen, wenn sie hart vom Leder ziehen und eine populistische Sprache benutzen. Das betrifft sogar Politiker und Politikerinnen aus nicht populistischen Parteien. Die registrieren, dass sie dann auch in klassischen Medien zitiert werden."

Politikerinnen und Politiker sind an der Schaffung "der heutigen Medienrealität" aber maßgeblich beteiligt, sie reagieren nicht nur. Ein anderer Punkt: Wenn Politiker häufig bloß "hart vom Leder ziehen" würden (bzw. häufiger als zu Zeiten von Franz-Josef Strauß) und in deftiger Sprache eine legitime Position verträten, hätten wir kein Problem. 

Das Problem ist vielmehr: Zu viele Politiker aus den vermeintlich "nicht populistischen Parteien", die Brodnig erwähnt, haben - um es in Anlehnung an Juliane Rebentisch zu sagen - den Raum, in dem es noch um Beweisführungen und Argumente geht, verlassen.


Altpapierkorb (Bundesregierung tatenarm bei russischen Fälschungen, bild.de wegen mehreren Persönlichkeitsrechtsverletzungen gerügt, Lücken in der deutschen Frankreich-Berichterstattung, Studie der Otto-Brenner-Stiftung anlässlich des dritten Jahrestags der Ahrtalkatastrophe, 20 Jahre Weltreporter)

+++ "Russische Propaganda: Bundesregierung ignoriert Hinweise auf Spuren in Deutschland" lautet die Überschrift eines Correctiv-Artikels. Es geht um unzureichende Maßnahmen gegen Doppelgänger-Websites, die auf den ersten Blick aussehen wie die Originalportale von zum Beispiel "Spiegel" oder "Süddeutscher Zeitung", tatsächlich aber schurkische Nachbauten sind, die im seriösen Gewand russische Narrative verbreiten. Correctiv schreibt: "Die schwedische Nichtregierungsorganisation Qurium hat in der Analyse, die sie am Donnerstag veröffentlicht hat und die Correctiv vorab vorlag, unter anderem auf die Rolle der deutschen IT-Firma Aurologic und der finnischen Tochter des deutschen Hosting-Riesen Hetzner hingewiesen. Ihre Dienste, sowie die weiteren Unternehmen mit Sitz in der EU, wurden demnach bis zuletzt direkt oder über Zwischendienstleister für die Weiterleitung zu gefälschten Nachrichtenseiten und Propaganda-Portalen verwendet."

+++ Auf seiner Sitzung am 1. Juli 2024 hat der Presserat, wie er am Donnerstag mitteilte, drei Rügen ausgesprochen - allesamt gegen bild.de, unter anderem wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Eine Rüge gilt "der Veröffentlichung eines Handyvideos, in dem ein 12-jähriger Junge seinen Mitschüler würgte und mehrfach ins Gesicht schlug. Der Presserat sah in den ausführlich gezeigten Szenen eine unangemessen sensationelle Darstellung nach Ziffer 11 des Pressekodex, weil sie den Betroffenen zum zweiten Mal zum gedemütigten Opfer machten. Die gezeigten Ausschnitte verstießen zudem gegen den Persönlichkeitsschutz des minderjährigen Tatverdächtigen, weil dessen Gesicht im Gegensatz zu dem des Opfers klar erkennbar war." Eine KNA-Zusammenfassung der Rügen steht bei newsroom.de.

+++ Darum, welche Themen in der deutschen Berichterstattung über Frankreich fehlen, um die Mélenchon-Fixierung und um verbreitete Klischees geht es in der aktuellen Ausgabe von "Holger ruft an…" mit Kathrin Müller-Lancé, der Frankreich-Korrespondentin der SZ.

+++ In der kommenden Woche jährt sich zum dritten Mal die Hochwasser-Katastrophe im Ahrtal. Aus dem Anlass veröffentlicht die Otto-Brenner-Stiftung eine Studie von Marlis Prinzing, Mira Keßler und Melanie Radue unter dem Titel "Berichten über Leid und Katastrophen. Die Ahrtalflut 2021 aus Betroffenen- und Mediensicht sowie Lehren für künftige Krisen." Die Autorinnen stellen unter anderem "Empfehlungen für mehr Krisenkompetenz" vor. Eine lautet: "Standardmäßig sollten Jour-nalist*innen Krisen­ und Sicherheitstrainings angeboten werden, sowie Schulungen zu ethischen Fragen und in psychologischem Grundwissen (zum Beispiel zur Einordnung von häufig vorkommenden Belastungsreaktionen und zu Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit eigenen Stresssituationen), welches sie auch an ihr Publikum weitergeben können". Am Donnerstag ist eine Kurzfassung erschienen, die Langfassung ist für Ende August angepeilt.

+++ Den 20. Jahrestag der Auslandskorrespondenten-Vereinigung Weltreporter hatten wir hier bereits in der vergangenen Woche beim Wickel. Anlässlich der Geburtstagsveranstaltung am Samstag in Berlin hat die taz mit der von Nairobi aus arbeitenden Weltreporter-Vorstandsvorsitzenden Bettina Rühl gesprochen. Sie sagt unter anderem: "In unterschiedlichen Regionen der Welt sind Falschinformationen unterschiedlich massiv, aber sie werden insgesamt immer ausgefeilter."

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Schönes Wochenende!

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